I. Das Licht der Insel
1. Auf dem Weg ins Licht
Schmuddelwetter im Februar - nix wie weg! Eine Begegnung am Flughafen lässt die grauselige Anfahrt durch Stau, Nebel und Schneetreiben vergessen und lenkt den Blick auf den absoluten Kontrast: das Licht der Insel.
Abreisetag. Heute geht’s wieder zurück auf die Insel. Der Handywecker brummt um viertel vor vier. Noch zehn Minuten liegenbleiben, den Schlaf aus den Augen reiben, dann raus aus den Federn.
Zweieinhalb Stunden bis das Taxi kommt. Rasch unter die Dusche, Morgentoilette, schnelles Frühstück. In das Handgepäck müssen noch Schlüssel, Mobiltelefon (und die Ladestation!) sowie eine kleine Vesper für den Flughafen. Die Wohnung ist aufgeräumt, nur noch frühstücken und abschließen. Noch ein letzter Blick auf die Todo-Liste: Kaffeegeschirr abwaschen, Kaffeemaschine reinigen, überprüfen, ob die Fenster und Türen fest verschlossen sind, ein kurzer Kontrollgang durchs Haus, dabei Wasser im Keller abstellen. Alles Routine. Das Taxi kommt pünktlich, ich hieve die zwei ordentlich verschnürten Pakete, zwei Trolleys sowie meine Fototasche in den Kofferraum, schließe die Haustür ab.
Es hatte über Nacht geschneit, aber der Niederschlag war sehr nass. Die Straßen sind zwar weiß, die Fahrrinnen matschig; gut, dass kein strenger Frost herrscht, sonst wäre es glatt. Nasskaltes Sauwetter, Nebel obendrein.
„Wo geht's denn hin?“, will der freundliche Taxifahrer wissen.
„Nach Lanzarote.“
„Oh“, sagt er. „Wie ist denn dort das Wetter?“
„Heute poco nuboso“, antwortet Karen von der Rückbank.
„Ein bisschen bewölkt“, ergänzt sie. „Um die 22 Grad.“
„Na, das ist doch was,“ sagt der Taxifahrer. „Davon kann man ja nur träumen bei dem Mistwetter. Wenns ja wenigstens richtig kalt wäre und trocken, es dürfte auch Schnee liegen - aber so. Es gibt hier gar keinen richtigen Winter mehr.“
Die Fahrt zum Flughafen verläuft anfangs flüssig, im leichten Schneegestöber, aber je mehr wir uns Frankfurt nähern, um so dichter wird das Schneetreiben. Der Verkehr fließt auf fünf Spuren nur noch zäh, auf der entgegengesetzten Richtung hat sich ein kilometerlanger Stau gebildet - viele Verkehrsteilnehmer wollen dem gemeldeten Verkehrsstillstand am Frankfurter Nordkreuz ausweichen und diesen umgehen. Sie sind vom Regen in die Traufe gekommen.
Gigantisches Frankfurter Kreuz, von der Brücke über die A5 hat man den ungehinderten Blick nach Norden und nach Süden. Mit mäßigem Tempo schleichen wir darüber, in einem kurzen Moment fange ich das Szenario ein. Tausende Pkws und LKWs auf sechs vollgestopften Reihen nach Norden, nicht viel weniger nach Süden, hier fließt es wenigstens, wenn auch zäh - eine einzige Blechlawine. Das gemeldete Stauende am Horizont kurz vor dem Westkreuz Frankfurt in nicht allzu großer Entfernung ist deutlich sichtbar, ein gleißendes Meer von roten Lichtern, furchterregend, schrecklich, fast apokalyptisch.
Das war immer eine Horrorvision für unsere schwedischen Freunde, wenn sie uns in der Vergangenheit mit ihrem Auto besuchten. Jetzt kommen sie mit dem Flugzeug und wir holen sie am Flughafen ab. Mats schüttelt immer den Kopf, wenn wir über das Kreuz fahren.
„Davor habe ich immer Angst gehabt,“ bekennt er und Gunilla ergänzt:
„Wie das die Menschen in den Autos ertragen. Das muss doch einen unglaublichen Stress verursachen. Und abends wieder zurück.“
„Dagegen ist Autofahren in Skåne ein Genuss.“
Unserem Taxifahrer bereitet der Berufsverkehr keine Sorgen.
„Halb so schlimm“, antwortet er, als ich ihn auf den dichten Verkehr anspreche. „Wenn du hier achtmal am Tag drüber musst, gewöhnst du dich daran.“
Das Schneetreiben ist in Regen übergegangen, der heftig gegen die Autoscheiben peitscht. Platschende Wassermassen nicht nur von vorne gegen die Windschutzscheibe - die Scheibenwischer im Schnellgang quietschen leicht und schaffen nur mit Mühe eine einigermaßen freie Sicht auf die Straße -, auch von den Seiten, vor allem von rechts, von den Reifen der Lastkraftwagen spritzen bisweilen richtige Brecher an die Fenster. Auf den beiden rechten Fahrspuren reiht sich inzwischen ein Lkw hinter dem anderen.
„Hier musst du mit allem rechnen“, erzählt der Taxifahrer. „Am letzten Freitagnachmittag war ich auf dem Weg zum Flughafen, um einen Kunden abzuholen. Ein Kollege rief mich aus seinem Taxi an, und teilte mir mit, es sei gerade ein schwerer Verkehrsunfall auf der A5 an der Abfahrt Frankfurt-Süd passiert, der Verkehr staue sich schon beträchtlich zurück. Das war wenige Kilometer vor mir. Ich konnte noch rechtzeitig vor der A5 runterfahren, um am Monte Scherbelino vorbei auf die Isenburger Landstraße Richtung Flughafen auszuweichen. Aber plötzlich wurde der Verkehr auch dort dichter, staute sich und dann ging es nur noch im Schritttempo weiter. ‚Verdammt‘, dachte ich, ‚was ist denn hier los? Das kann doch nicht wahr sein, wo wollen die denn alle hin?’
Ich fing schon an mich zu ärgern, da sehe ich, wie vor mir laut grölend drei junge Typen die Straßen überqueren - Eintracht-Fahnen auf den Rücken tragend. Da war mir klar: Eintracht Frankfurt hat ein Heimspiel. Kurz darauf ging nichts mehr. Ich rief den Kunden an, der am Gepäckband auf seinen Koffer wartete, erklärte die Situation und bat ihn ein Taxi zu nehmen. Wir würden die Mehrkosten übernehmen. Der Kunde lachte und sagte: ‚Das macht nichts. Ich bin Eintracht-Fan.‘“
„Also müssen Sie immer auch einen Veranstaltungskalender dabei haben“, frage ich. „aber das hätte ja in diesem Fall auch keinen Vorteil gebracht, oder?“
„Nee, manchmal nützen dir richtige Entscheidungen nichts. Das siehst du da drüben, die wollen dem Stau am Westkreuz ausweichen und stecken jetzt fest. Du musst es oft darauf ankommen lassen.“
Jetzt geht es auch auf unseren Spuren nur noch im Schritttempo weiter. Die lange Reihe der Lastwagen neben uns, davon sehr viele aus Osteuropa, steht - mit knapp zwei Metern Abstand von Fahrzeug zu Fahrzeug, oft auch weniger. Ab und zu blickt mal einer der ausschließlich, so weit ich das sehen kann, männlichen Trucklenker nach unten in unser Auto hinein, unsere Blicke kreuzen sich. Vermutlich denkt sich der eine oder andere, dass wir zum Flughafen unterwegs sind, im Taxi so kurz vor der Autobahnabfahrt zum Terminal 2, und mir geht durch den Kopf, dass die Jungs möglicherweise noch einen weiten Weg vor sich haben, mit viel Regen und später sicher auch Schnee, der für heute angekündigt war, mit Glatteis, Nebel, Staus.
„Was bin ich froh, dass ich da raus bin.“
Als ob der Taxifahrer meine Blicke zu den Fahrern der Lastkraftwagen bemerkt und meine Gedanken erraten hätte, sagte er:
„Bin ich 25 Jahre lang gefahren. Immer nach Italien, über den Brenner. Das macht dich auf Dauer kaputt. Dieses ständige unterwegs sein, die ganze Woche nicht zu Hause, Anspannung und Konzentration, Stress, Übermüdung, Termindruck. Jetzt fahr ich Taxi. Das ist gemütlicher und abwechslungsreicher.“
„Terminal 2?“, fragt er noch.
Ich nicke.
Der Verkehr rollt langsam wieder an, die Pkws auf den linken Spuren überholen uns. Fast jedes Auto ist nur mit einer Person besetzt. Der Fahrer neben uns telefoniert mit seinem Handy, ein anderer macht Streck- und Dehnübungen hinter dem Steuer, eine dritte Person ist mit seiner Nase beschäftigt. Eine Frau in einem Kleinwagen beißt in einen Apfel, eine andere schaut mit gestrecktem Kopf in den Rückspiegel, zupft sich an den Augenbrauen.
In einem Kleinlastwagen, die mir bei normalem Verkehrsfluss immer etwas Sorge bereiten, weil sie nach meinem Dafürhalten mit viel zu hoher Geschwindigkeit und zu dicht auffahren, sitzen eng nebeneinander drei Männer, zwei rauchen, der Fahrer hält einen Kaffeebecher in der Hand. Auf der Laderampe flattert eine lose Plastikplane, Werkzeug, Schaufel, Pickel, Maschinenkästen liegen auf der Pritsche. Ich verstehe jetzt so manche Verkehrsdurchsage: ‚Auf der A sowieso liegt ein Spanngurt auf der Straße’, oder irgendwelche anderen Gegenstände. Große, schwarze Limousinen, meistens Männer hinter dem Lenkrad, aber auch Kleinwagen, viele gesteuert von Frauen, überholen uns auf der linken Spur.
Wir müssen nach rechts auf die Abfahrt zum Flughafen durch die Reihe der Lastkraftwagen hindurch. Vor uns schert in spitzem Winkel ein Kleinwagen gerade noch rechtzeitig vor der Leitplanke auf die Abfahrtsspur.
„Hui, das war knapp“, entfährt es mir.
Unser Taxifahrer bleibt stumm.
Drin sitzt, unschwer zu erkennen, eine Stewardess in ihrer Berufskleidung. Wo sie wohl hinfliegen wird?
Karen hatte heute morgen noch schnell den Wetterbericht von El Tiempo für Lanzarote auf ihrem iPad aufgerufen. 22 Grad nuboso, Nordostwind. Leicht bewölkt also, auch die nächsten Tage sonniges Wetter, angenehme...