II.
Die Seele der Religion
Religion gehört zu den interessantesten Phänomenen menschlichen Denkens und Verhaltens. Seit es Erinnerung an menschliche Kultur gibt, gibt es Religion. Oft totgesagt, kehrt sie in neuen Formen immer wieder. Es gibt weltweit keine Sprache, keine politische Partei, keine Sportart, die so viele Menschen verbindet – leider auch trennt und gegeneinander stellt – wie die Religion. Von den derzeit 7,1 Milliarden Menschen auf der Welt gehören 5,9 Milliarden Menschen einer Religion an. Über die Stärke der Bindung an diese Religion ist dabei allerdings noch nichts ausgesagt. Ein Viertel der Bevölkerung Europas schätzt sich selber als ziemlich beziehungsweise sehr religiös ein (Religionsmonitor 2013, 16.18). Jenseits der enormen Veränderungen, die sich auch auf diesem Gebiet realisiert haben, ist es interessant festzustellen, dass Religion trotz allem für so viele Menschen Bedeutung hat.
In der westeuropäischen Welt ist das Christentum die bestimmende Religion. Von diesen Christen wird aber gesagt, »… dass sie weniger christlich sind als Theologen und Sozialforscher bisher annahmen, aber religiöser, als diese vermuteten« (Popp-Baier, 2011). Religiöse Verhaltensweisen lassen nicht nach, sondern ändern sich, und es geht – in der Beobachtung der Religion – auch darum zu erkennen, dass die Religion Formen annimmt, welche in unserer Vergangenheit gar nicht als religiös gedeutet worden wären. Nachdem die Kirchen das Definitionsmonopol über die Formen und Inhalte der Religion verloren haben, suchen die Menschen nach eigenen Wegen, um mit der ersten und letzten Wirklichkeit in Kontakt zu kommen. Viele Menschen kennen Orte in der Natur, die ihnen guttun und sie in die Tiefe führen, andere setzen sich in eine leere Kirche, wieder andere werden durch Kunst oder Musik so angerührt, dass sie wissen, dass das Leben von einer großen, weiten und guten Wirklichkeit getragen ist. Schüler setzen sich vielleicht irgendwo unter einen Baum im Park, um über den Tod einer Klassenkameradin oder die lebensbedrohende Krankheit der Mutter eines Freundes zu sprechen. Und in dieser Erfahrung erleben sie Gemeinschaft und eine Kraft, die sie zusammenhält und ihnen hilft, das Unverstehbare in der Stille der Sprachlosigkeit oder in unbeholfenen Worten zu erfassen. Wahrscheinlich haben auch Partys und Sportereignisse im weitesten und eigentlichen Sinn religiösen Charakter und religiöse Funktionen, indem sie über sich hinaus auf einen größeren Zusammenhang verweisen.
Die Kirchen lasten den Rückgang der christlichen religiösen Praxis und der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Konfession häufig der Modernität unserer Zeit an. Aber die Beobachter der religiösen Entwicklung weisen in eine andere Richtung: Es ist nicht die Modernität, welche die Kirchen in Europa schwächt, sondern ihr Verhalten gegenüber der Moderne. Nordamerika ist zum Beispiel sicher nicht weniger modern und plural als Europa. Dennoch haben Modernität und Pluralismus dort nicht zu einer solchen Säkularisierung geführt wie in Europa, denn: »In Europa entstand die moderne Gesellschaft gegen das Christentum, in Amerika mit seiner Hilfe« (Zulehner/Polak, 2009, 151). Das heißt, dass Religion, auch die christliche, heutige Menschen trotz Säkularisierung und Pluralismus ansprechen und bewegen kann. Meine These ist: Wenn Religion zur »Religion der Seele« wird, vermag sie auszudrücken, was uns alle verbindet. Im Folgenden will ich Religion als eine Funktion der Seele betrachten. Ich will aufzeigen, was Religiosität leisten kann, wenn sie sich auf die Gesetzmäßigkeiten der Seele bezieht.
Ursprung und Zukunft einer unsterblichen Idee
Trotz der verschiedenen Interpretationen dessen, was Religion ist, trotz des Hinweises von Religionswissenschaftlern, man sollte den Begriff Religion ganz und gar vermeiden – wegen seiner Widersprüchlichkeit und der Tatsache, dass er aufgrund der historischen Belastung und Festgefahrenheit nicht mehr das sagen kann, was er eigentlich sagen müsste. Trotz alledem hat es bis in unsere Zeit herauf immer wieder Versuche gegeben, Religion beziehungsweise die Erfahrungen, welche mit diesem Begriff verbunden werden, zu definieren. Ein Spektrum verschiedener Definitionen ist deshalb hilfreich, die Weite und den Reichtum dessen, was Religion bedeuten kann, darzustellen.
Als die Religionspsychologie noch in den Kinderschuhen steckte, schrieb der amerikanische Psychologe William James 1902 ein grundlegendes Werk zur Religionspsychologie und lieferte damit eine noch immer brauchbare Definition von Religion: »Das religiöse Leben besteht in der Überzeugung, dass es eine unsichtbare Ordnung gibt und dass unser höchstes Gut in einer harmonischen Anpassung an diese liegt. Diese Überzeugung und diese Anpassung machen die religiöse Geisteshaltung aus« (James, 84 f.). Aus dieser Überzeugung und Anpassung entstehen Gedanken, Gefühle und individuelle und kollektive Rituale, die sich zu einer Religion entwickeln.
Kaum jemand aber hat die zentralen Bilder, welche im Laufe der Zeit entwickelt wurden und die Erfahrung religiösen Erlebens wiedergeben, so treffend zusammengefasst wie der Theologe Richard Niebuhr: »Der religiöse Mensch ist ein Mensch, der Magie erzeugt (Malinowski), der Angst hat (Hume), der auf das Unbedingte ausgerichtet ist (Tillich) und der vor der Manifestation des Numinosen erzittert (Otto); Religion ist das, was der Mensch aus seiner Einsamkeit heraus gestaltet (Whitehead). Der religiöse Mensch fühlt seine absolute Abhängigkeit (Schleiermacher) und sucht in seiner Arroganz das Göttliche und die Vergöttlichung (K. Barth), er hat ein unstillbares Heimweh nach seinem Ursprung (M. Eliade), erzeugt Mythen (Cassirer) und gibt sich selbst transzendierender Schönheit hin (J. Edwards)« (zit. nach Schüssler Fiorenza, 33).
Dieser Reichtum an Zugängen und Interpretationen ist eine Anregung, alle engen und eingefahrenen Vorstellungen von Religion beiseitezuschieben und, um der großen Kraft und Vision willen, welche hinter diesem Begriff steht, auf billige Transzendenzversuche zu verzichten. Denn die Vielfalt dieser Bilder, welche nicht reduziert werden sollte, weist darauf hin, wie weit und reich die Impulse sein können: von der Angst und dem Erschrecken vor dem unaussprechbaren Geheimnis bis zur Ahnung und Erfahrung der Schönheit und der Beheimatung in der Weite und Tiefe des Lebens. Einer Beheimatung, die uns letztendlich niemand geben kann und auf deren Verheißung wir nur aus der Tiefe unserer Sehnsucht schließen können.
Ein lateinisches Konstrukt
Um zu verstehen, welche Funktion Religion in unserem Kulturkreis übernommen hat, ist es sinnvoll, ihrer sprachlichen und geschichtlichen Spur nachzugehen. Gegen die allgemeine Annahme, dass der Religionsbegriff etwas sehr Altes ist und in allen Kulturen vergleichbare Formen hat, ist darauf hinzuweisen, dass der Begriff erst von den Römern geprägt wurde. In der abendländischen Literatur findet sich das Wort religio zuerst beim römischen Schriftsteller und Staatsmann Marcus Tullius Cicero (106–43 vor Christus). Religio ist für ihn zusammen mit pietas (Frömmigkeit) und sanctitas (Heiligkeit) ein besonderes Kennzeichen römischer Kultur und steht einer übertriebenen und unreflektierten Praxis, der superstitio (Irrglaube, Aberglaube, Wahn), gegenüber. Im Römischen Reich war man der Auffassung, dass ohne die höchste Versöhnung der Götter (durch die Religion) die Civitas Romana nicht so groß hätte sein können (Feil, 267). In dieser ursprünglichen Form führt sich religio auf relegere (wieder lesen) zurück und bedeutet schlussendlich: in den heiligen Dingen genau, gewissenhaft, penibel zu sein und mit dem Heiligen, auch in Bezug auf die Riten und die religiösen Zeremonien, aufmerksam und achtsam umzugehen.
Erst die christlichen Theologen Lactantius und Augustinus (beide 4. Jahrhundert nach Christus) führen die Wortwurzel für Religion nicht mehr auf relegere, sondern auf religere zurück und meinen, Religion hat eher mit Rückbindung – an Gott oder an das Göttliche – zu tun. Religio hatte im Römischen Reich die durchaus wichtige gesellschaftliche Funktion, das Volk in Eintracht und das Heer im Gehorsam zu halten (Feil, 273). Im späteren Verlauf der Geschichte ist die politische Funktion der Religion nicht einheitlich, wiewohl immer wieder Phasen auszumachen sind, in denen die politischen Machthaber und die Herrscherhäuser sich der Religion in rücksichtsloser Weise bedient haben. Aber auch umgekehrt haben religiöse Führer und Strukturen weltliche Macht ausgeübt, gebraucht und missbraucht.
Aus diesen Gründen kann der Philosoph Jacques Derrida behaupten, Religion sei eine europäische Angelegenheit. Diese Feststellung hat vor allem vor dem Hintergrund der interkulturellen Begegnung und des Dialoges weitreichende Folgen. Denn mit dem »Export« der Begriffe werden auch Lebensdeutung und Macht exportiert. Deshalb spricht Derrida in diesem Zusammenhang nicht von Globalisierung, sondern von »Globallatinisierung« (Derrida, zit. nach Ward, 5; Morphy 2011, 25). Das heißt, dass auch die Religionen zu jenen Kräften und Mächten zu zählen sind, die die anderen Völker – mit ihren »religiösen« Werten und Vorstellungen – überfahren und zum Teil ausgelöscht haben.
Wenn Religion ein typisch lateinisches, maximal europäisches Deutungssystem der Welt, des Menschen und des Lebens ist, stellt sich die Frage, wie andere Kulturen mit den Themen umgehen, die der europäische Kulturraum mit dem Begriff Religion verbindet.
Die aus der westlichen und vorwiegend christlichen Tradition herausgewachsene Theologie ist vorwiegend an Überlieferungen und Texte gebunden,...