Jede Geschichte ist toll!
Trauen Sie sich zu erzählen –
ohne Angst vor Bewertungen oder Beurteilungen
Der erste Schritt hin zum Geschichtenerzählen für Kinder ist: einfach loslegen! Ein paar Tipps helfen Ihnen dabei, beim ersten Mal die richtigen Worte zu finden und die passende Umgebung und Atmosphäre zu schaffen.
»Ich soll einfach so erzählen? Das kann ich nicht!« – Vielleicht beschäftigt Sie jetzt, da Sie mit der Lektüre dieses Buches begonnen haben, genau dieser Gedanke. Natürlich gibt es Personen, die von Natur aus so packend erzählen können, dass ihnen alle Zuhörer an den Lippen hängen und nicht genug von ihren Geschichten bekommen. Andere glauben, dass ihnen das nie gelingen wird, Zuhörer in ihren Bann zu ziehen. Aber warum? Haben Sie schon einmal ausprobiert, Kindern selbst etwas zu erzählen, statt ihnen vorzulesen oder Hörspiele anzubieten? Versuchen Sie es! Denn der Gedanke, Ihre Geschichte sei vielleicht nicht gut oder gut genug, ist Ihre eigene Bewertung. Kinder sind in der Regel sehr aufmerksame Zuhörer.
Erzählen ist »pur« – und Kinder lieben es
Anders als beim Vorlesen wird beim Erzählen eine Beziehung zum Zuhörer aufgebaut, ohne dass ein weiteres Medium, zum Beispiel ein Buch, dazwischensteht. Beim Erzählen gibt es nur Sie, die Kinder und die Geschichte. Vertrauen Sie darauf: Kinder wollen hören, wie eine Geschichte weitergeht und wie sie endet. Sie wollen mitfiebern, vielleicht Passagen mitsprechen und am Ende mitreden. Wenn Sie Kindern erzählen, sitzen Sie nicht in einer Prüfung, die zuhörenden Kinder vergeben keine Noten für Ihre Geschichte. Sie genießen es stattdessen, dass eine erwachsene Bezugsperson sich ganz individuell Zeit nimmt, um sich mit ihnen intensiv zu beschäftigen. Zudem sind erzählte Geschichten sowieso kaum zu vergleichen – denn jede Geschichte ist so individuell wie der Erzähler, der sie gerade erfindet. Selbst wenn eine Geschichte nacherzählt wird, fließt die Persönlichkeit des Erzählers ein. Das macht erzählte Geschichten so besonders und so einzigartig.
Erzählen schafft unkompliziert und schnell Exklusivmomente
Das Beste am freien Erzählen ist: Sie können überall loslegen, denn alles, was Sie dazu brauchen, haben Sie immer dabei. Sie benötigen nichts weiter als Ihre Stimme und etwas Fantasie. Bei Letzterer können Ihnen die Kinder meist gut assistieren. Denn wenn Sie nicht mehr weiterwissen, greift ein einfacher Trick: Fragen Sie Ihre Zuhörer, was nun passieren könnte. Schon bekommen Sie ein neues Stichwort, an dem Sie anknüpfen können.
So wird das Erzählen für Kinder und mit Kindern schnell zu einem schönen Ritual, zu einer wunderbaren Gemeinschaftsaktion und einem unkomplizierten Zeitvertreib. Denn Sie können durch Erzählen nicht nur gemütliche Momente der Begegnung auf dem Sofa schaffen. Auch auf einer langen Autofahrt, im Wartezimmer beim Arzt, beim Picknick, auf dem Weg zum Spielplatz oder als Rahmen für gemeinsame Aktionen – beim Erzählen tauchen Zuhörer und Erzähler schnell in eine andere Welt ein und machen eine gemeinsame »Kopfkino-Reise«.
Schaffen Sie einen guten Rahmen für fesselnde Erzählungen
Damit Sie mit Ihrer Geschichte Kinder erreichen, fesseln und begeistern, sollten Sie einige kleine Tipps beachten:
- Bevor Sie zum ersten Mal eine Geschichte frei erzählen, können Sie sich vorab kleine Notizen zu Ihren Einfällen machen. Schreiben Sie sich zum Beispiel auf, wie die Hauptperson Ihrer Geschichte heißen soll, was sie erlebt und wie die Geschichte ausgeht. Diesen »Spickzettel« können Sie während des Erzählens bereithalten, um einen kurzen Blick darauf zu werfen, falls Sie ins Stocken geraten.
- Abschauen, besser gesagt »Abhören«, ist beim Geschichtenerzählen durchaus erlaubt. Eine gute Übung fürs Erzählen ist es, anderen genau zuzuhören, wenn sie erzählen. Was hat Ihnen an einer gehörten Geschichte besonders gut gefallen? Wo und wann haben Sie gerne zugehört? Das können Sie dann selbst beim Erzählen aufgreifen.
- Legen Sie Wert auf eine gute Atmosphäre beim Erzählen. Wenn Sie zu Hause erzählen, machen Sie es sich mit den Kindern gemütlich. Sie können Ihr Erzählritual beispielsweise durch ein Schild »Bitte nicht stören! Hier wird gerade erzählt« an der Tür ergänzen. Wenn sich die Kinder zudem beim Zuhören ankuscheln können, tauchen sie leichter in die Geschichte ein, weil sie sich sicher und geborgen fühlen.
- Wenn Sie nicht gerade beim Autofahren erzählen, sollten Sie unbedingt immer wieder Blickkontakt zu den Kindern herstellen. So fühlen sich Kinder besonders angesprochen. Außerdem erkennen Sie als Erzähler dadurch auch schnell, ob die Kinder beim Erzählen mitgehen, wo und wann sie staunen, mitlachen oder vor Spannung große Augen bekommen.
- Untermalen Sie Ihre Geschichte, indem Sie Ihre Mimik und den Klang Ihrer Stimme miterzählen lassen. Machen Sie große Augen und flüstern Sie, wenn es spannend wird. Ziehen Sie Grimassen, wenn Sie von einer komischen Person erzählen. So bekommt Ihre Geschichte noch mehr Intensität.
- Beziehen Sie beim Erzählen alle Sinne mit ein. Dadurch wird Ihre Geschichte farbig und facettenreich. Schildern Sie einen Gegenstand zum Beispiel so, dass der Zuhörer genau weiß, wie er sich anfühlt, wie er riecht, wie er auf andere wirkt. Erzählen Sie von dicken Socken, die wie alter Käse riechen, vom Wind, der die Blätter in den Bäumen zum Rascheln bringt und sich wie ein leises Flüstern in den Ästen anhört, oder vom leckersten Zitronenkuchen der Welt, der duftet, dass einem das Wasser im Mund zusammenläuft. Dieses genaue und sinnliche Beschreiben können Sie einfach zwischendurch an Alltagsgegenständen üben: Wie sieht der Stift aus, den Sie in Händen halten? Wie klingt es, wenn Sie in einer Zeitung blättern? Wie riecht es, wenn Sie über eine Wiese laufen?
- Lassen Sie sich beim Erzählen Zeit. Es geht nicht darum, dass das Erzählen sozusagen als Pflichtprogramm möglichst schnell abgehakt wird. Lieber erzählen Sie eine kürzere Geschichte und machen immer wieder Pausen und halten inne. So können Kinder der Geschichte leichter folgen und sich während des Erzählens durch Fragen oder Kommentare einbringen.
- Fragen Sie bei den Kindern ruhig nach, von was die Geschichte handeln soll und was sie hören wollen. Dürfen die Kinder mitbestimmen, haben Sie die kleinen Zuhörer sofort auf Ihrer Seite.
Lassen Sie sich von der folgenden Beispielgeschichte inspirieren. Und dann legen Sie los und führen Sie das Erzählen als Ritual ein.
Wie einmal alles beinahe ein gutes Ende fand
»Los, erzähl mir eine Geschichte!« Peter setzte sich auf den Boden und drapierte ein paar Kuscheltiere um sich herum. Er hatte das große Wohnzimmerlicht ausgeschaltet und die Stehlampe am Lesesessel angeknipst, die den Raum in ein sanftes und warmes Licht tauchte. Auf einem Beistelltisch hatte er einen Teller mit Keksen platziert, und nun guckte er voller Erwartung nach oben. Er fuhr fort: »Aber eine gute! Eine spannende! Und eine lustige! Ich will eine Geschichte mit Pferden, mit einem Rennfahrer und mit einer großen Schüssel Vanillepudding! Wie sie ausgeht, ist mir egal – Hauptsache, am Ende sind alle glücklich.«
Julia lachte, stemmte die Hände in die Hüften und sah amüsiert auf ihn herab. »Aber Papa!«, rief sie, »du bist doch hier derjenige, der mir Geschichten erzählt!«
Peter sah verwundert drein. »Sagt wer?«, fragte er. »Vielleicht sind in meinem Kopf gar keine Geschichten mehr drin, weil ich dir schon so viele erzählt habe?« Er streckte seiner Tochter ein Ohr entgegen und forderte sie auf: »Schau mal gaaaaanz tief da rein und sag mir, ob überhaupt noch eine Geschichte drin ist!«
Julia zupfte Peter am Ohrläppchen, kniff ein Auge zu und lugte mit dem anderen in das Ohr ihres Vaters. »Und?«, fragte dieser.
»Tatsächlich! Ich kann was sehen!«, freute sich Julia.
»Das ist aber toll. Und was?«
»Eine ganz, ganz, ganz tolle Geschichte!«
»Boah! Und von was handelt sie? Wer spielt mit? Kannst du was sehen? Sie muss sich ganz tief drin versteckt haben …«
Julia hielt ihr Auge noch dichter an Peters Ohr, bis sie vor lauter Dunkelheit eigentlich gar nichts mehr sehen konnte. Aber sie wusste: Ein Blick ins Dunkel war oft die beste Möglichkeit, der Fantasie ein wenig auf die Sprünge zu helfen. Wenn das Auge nichts sehen konnte, malte das Gehirn im Kopf die zauberhaftesten Bilder. »Geistiges Auge« nannte das ihr Vater, aber Julia konnte sich unter dem Begriff nichts vorstellen. Das war aber auch egal, solange die Bilder, die sie sah (oder auch nicht sah, sondern sich nur ausdachte) lustig oder spannend waren. Oder beides. Wie auch diesmal, als sie den Gehörgang ihres Vaters inspizierte. »Da! Da! Ich sehe was!«, jubilierte sie. »Da ist eine Prinzessin, die einen Schal strickt, ein Hund, der reden kann und ein Einhorn.«
»Gratuliere!«, sagte ihr Vater. »Da hast du tatsächlich noch etwas in meinem leeren Kopf finden können. Aber das ist schon ziemlich verrücktes Zeug, ich muss das Oberstübchen mal wieder so richtig entrümpeln!« Julia hielt sich die Hand vor den Mund und kicherte, als ihr Vater fortfuhr: »Das genügt aber noch nicht für eine gute Geschichte. Wir brauchen unbedingt noch einen Anfang!« Also machte sich Julia wieder daran, Peters Ohr – oder sein Oberstübchen – genau zu erkunden. Aber eigentlich war ihr schon vor einem erneuten Blick ins finstere Ohr ein guter Anfang...