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E-Book

Ein Jahr in Frankreich

AutorBirgit Kaspar
VerlagVerlag Herder GmbH
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl192 Seiten
ISBN9783451812026
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis11,99 EUR
Von Frankreich lernen, heißt leben lernen. Das versteht auch Birgit Kaspar schnell. Als sie hier ankommt, wird sie zunächst mit der Bedeutung der Mittagspause konfrontiert und dann mit der Frage, wie man ein Dach repariert. Dabei bleibt es nicht: Sie findet den Schlüssel zur verlorenen Zeit, sammelt Weisheiten über das Heizen mit Holzöfen, erkundet die Hauptstadt des Parfums ebenso wie die Arroganz der Pariser und das tiefe Misstrauen der Provinz. Auf dem Montblanc beobachtet sie die Gletscherschmelze, und auf Korsika erfährt sie Neues über Autonomie und Unabhängigkeit.

Birgit Kaspar, geb. 1963, lebt als freie Journalistin in Südwestfrankreich. Sie ist Mitglied des weltweiten Netzwerkes der 'weltreporter'. Zuvor war sie ARD-Nahostkorrespondentin für den Hörfunk und Redakteurin/Reporterin beim Westdeutschen Rundfunk.

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Leseprobe

August


QUIETSCHEND BEGRÜSSEN DIE DUNKELGRÜNEN Holzläden den Tag. Rosmarin- und Lavendelduft kitzeln mir in der Nase. Einige Bienen summen direkt unter meinem Fenstersims von einer zart-lila Blüte zur nächsten. Sie sind schon sprichwörtlich fleißig. Gut so. Ich richte die koppheister hängenden, metallenen Haltemännchen auf und befestige die Läden an der 200 Jahre alten Steinmauer. Tautropfen glitzern auf den Spinnweben in Oleander- und Hibiskusbüschen. Äußerst dekorativ. Überboten werden sie allerdings von den Gipfeln der französischen Pyrenäen. Als ich den Kopf hebe, weiden sich meine Augen an grünen Hügeln und den schroffen Konturen von Cagire, Pic du Midi und Mont Valier im Hintergrund. Majestätisch liegen sie da. Gibt es einen Ort auf der Welt, an dem ich lieber erwachen würde? Nein. Die Welt ist im Lot. Jedenfalls von meinem Schlafzimmerfenster aus betrachtet.

Ich atme tief durch, recke mich. „Guten Morgen, Belloc.“ Durchs Wohnzimmer gehe ich direkt in den Garten, um in den ersten Sonnenstrahlen zu baden. Die Kühe auf der Weide gegenüber glotzen neugierig. Sonst ist niemand zu sehen. Der 35-Seelen-Weiler Belloc hat genau eine namenlose Straße, und die führt auf der anderen Seite unseres Hauses vorbei. Hausnummern gibt es nicht. Warum auch … Die Briefträgerin kennt jeden persönlich.

Sie ist eine der wenigen, die diese route départementale, unsere Verbindung mit der Außenwelt, jeden Tag passieren. Hin und wieder kommt auch mal ein alter Traktor vorbei. Oder – zumindest in den Ferienmonaten – der ein oder andere Wohnwagen. Touristen gucken dann häufig neugierig durchs Küchenfenster auf unseren Herd. Sie erinnern mich daran, dass ich jetzt an einem Ort lebe, der für andere ein attraktives Urlaubsziel ist. Für die Touristen gehöre ich also nur zum Dekor. Was ist Leben? Was Urlaub? Wenn mich meine Freunde in Deutschland fragen: „Wohin fahrt ihr denn diesen Sommer in Urlaub?“, schüttele ich gewöhnlich den Kopf und lache. „Darüber habe ich mir noch keine Gedanken gemacht. Aber vermutlich nicht besonders weit weg.“ Wir haben die Pyrenäen vor der Nase, Atlantikküste und Mittelmeer in greifbarer Nähe. Sowie Toulouse. Für mich eine der schönsten Städte Frankreichs. La ville rose. Nur falls mich mal nach Stadtluft gelüstet. Was nicht allzu häufig der Fall ist.

Ein paar Eidechsen haben schon Logenplätze auf der Gartenmauer eingenommen. Genießerisch recken sie ihre Köpfe gen Himmel. Ich pflücke ein paar Erdbeeren und Feigen zum Frühstück, dann springe ich rasch unter die Dusche. Heute ist ein besonderer Tag: Der Vierzig-Fuß-Container mit unseren Möbeln soll endlich angeliefert werden. Ein bisschen Sorgen mache ich mir schon. Denn der Transporter muss eine sehr schmale, alte Brücke passieren. Danach geht es zwei Kilometer steil bergan durch Eichen-, Akazien- und Buchenwälder. Die holprige Straße, auf der zwei Autos nur mit geschickten Ausweichmanövern aneinander vorbeikommen, ist offiziell nur bis zu sechs Tonnen belastbar. Die Pessimistin in mir sieht den Möbelcontainer schon ins Gestrüpp stürzen. Doch die Optimistin bringt die Schwarzseherin zum Schweigen. „Ça va aller!“ Alles wird gut. Dieser Container ist etliche Tage übers Mittelmeer geschippert und kommt nun aus Marseille. Gepackt haben Alistair und ich ihn in Beirut.

Von Beirut nach Belloc. Krasser könnte der Gegensatz nicht sein! Dort die libanesische Hauptstadt, eine chaotisch-lärmende Metropole mit ihren Dauerstaus, den ständigen Stromausfällen, gelegentlichen Bombenanschlägen und Überflügen israelischer Kampfjets. Aber – für eine Journalistin nicht ganz unwesentlich – dauernd in den Schlagzeilen. Hier ein verträumtes Dorf, in dem mehr Schafe als Menschen leben. Krass, das fand auch die Besitzerin der einzigen chemischen Reinigung im Umkreis von zwanzig Kilometern, als ich ihr vor ein paar Tagen die von den holländischen Vorbesitzern unseres Hauses übernommenen Vorhänge auf den Ladentisch legte. „Sie sind aber neu hier!“, schloss sie messerscharf. Sicher weil sie mich noch nie gesehen hat. Denn in der Tiefe des département Ariège kennt Frau ihre Kunden. Als ich ihr erzählte, dass ich gerade aus der libanesischen Hauptstadt hierher gezogen sei, brach sie in schallendes Gelächter aus: „Welcher Teufel hat Sie denn geritten? So was habe ich ja noch nie gehört!“ Für verrückt hat sie mich nicht direkt erklärt. Immerhin. So sind sie im Midi de la France: direkt, aber mit einer großen Portion Charme.

Ich werde unruhig. Es ist schon halb zehn – eigentlich sollte der Möbeltransporter längst hier sein. Alistair und ich räumen mit gespielter Zuversicht unseren bescheidenen Überbrückungshausstand auf die Veranda. Ein Sofa, ebenfalls aus dem Bestand der Holländer Jan und Maria. Ein kleiner Fernseher, der uns nach unseren Anstricharbeiten einen interessanten Einblick in die sommerliche Prioritätenliste der Franzosen erlaubt. Wichtigstes Thema der Abendnachrichten: die Tour de France. Direkt gefolgt von Unwettern im Languedoc. Erst danach geht es um Lappalien wie Bürgerkrieg in Syrien oder politische Grabenkämpfe in Paris. Top-Priorität hat allerdings die Wettervorhersage. Auf France 2 wie auch bei der privaten Konkurrenz von TF1 gibt es sie gleich zweimal: einmal direkt vor und zur Sicherheit noch einmal nach den Nachrichten.

Als wir gerade darüber debattieren, ob wir die Schaumstoffmatratzen und unsere Schlafsäcke schon auf den Speicher verbannen sollten, klopft jemand heftig an die Haustüre (eine Klingel gibt es nicht). Ich öffne. Vor mir steht mit hochrotem Kopf ein junger Mann. Nur wenige Meter hinter ihm blockiert sein Laster mit dem zwölf Meter langen und zweieinhalb Meter breit wie hohen ISO-Container die nun geradezu winzig wirkende Straße. „Ich habe Blut und Wasser geschwitzt auf dem Weg zu Ihnen!“ Michel, der Fahrer, wischt sich den Schweiß von der Stirn. Der Ansatz eines erleichterten Lächelns huscht über sein angespanntes Gesicht. „Als ich an der Brücke unten ankam, habe ich kurz gezögert. Dann habe ich mir ein Herz gefasst und gehofft, dass mir auf dem Weg nach oben kein Traktor entgegenkommt. Si le bon Dieu le veux!

Der liebe Gott wollte. Aber jetzt hat Michel noch ein letztes, nicht unwesentliches Problem: „Wo bitte, parke ich dieses niedliche Gefährt?“ Er tritt einen Schritt zur Seite, damit ich auch den richtigen Eindruck bekomme. „Tja …“, sage ich. „Gute Frage.“ Ich rufe Alistair, wir gehen zu dritt auf die Straße und inspizieren die Möglichkeiten. Oder besser gesagt, deren Fehlen. Denn zwischen unserem Vorgarten und der Straße liegt ein kleiner Graben. Auf der anderen Seite gibt es zwar einen schmalen, grasbewachsenen Streifen, aber dahinter senkt sich eine Böschung gleich wieder talwärts. Geht beides nicht.

Inzwischen weiß das ganze Dorf, dass sich hier einer der außergewöhnlichsten Einzüge ereignet, die Belloc je erlebt hat. Kleine Umzugswagen, die hatte man schon gelegentlich gesehen. Aber einen Vierzig-Fuß-Container? Was sind das für Sonderlinge, die da in das vieux couvent einziehen? Das alte Kloster, so nennen Eingeweihte unser Haus, weil hier ursprünglich – also vor rund 200 Jahren – mal pensionierte Nonnen gelebt haben. Und wieso bringen diese Ausländer um Himmels Willen so viele Möbel mit? Wie unbeliebt könnten wir werden, wenn wir erst mal einen Tag lang die Dorfstraße unpassierbar gemacht haben? Ich will es mir gar nicht ausmalen. Während wir noch ratlos herumstehen, zeigen uns die Bellocois, wie es geht. Autofahrer, von denen ich angesichts dieser ungewöhnlichen Straßenblockade eine wütende Tirade erwartet hätte, nicken uns freundlich grinsend zu, nehmen ihrerseits pragmatisch den Weg über den schmalen Grasstreifen und fahren weiter. Pas de problème. Kein böses Gehupe. Stattdessen Ermunterungen. Ein älterer Herr mit Baskenmütze ruft aus dem offenen Autofenster: „Bonjour, Sie haben sich aber ganz schön was vorgenommen! Bon courage!“ Das Entladen kann beginnen. Beinahe. Denn kaum hat Michel eine Rampe anmontiert und den Container geöffnet, höre ich das Bimmeln kleiner Glocken. Rund 100 Schafe sind im Anmarsch. Geneviève in grauem Overall, einen langen Holzstock in der Rechten, treibt sie vor sich her auf die Weide. Die Schafe wirken ein wenig erstaunt, trollen sich am Container vorbei und steuern zielstrebig auf unseren Geißblattbusch zu. Der blüht weit ausladend über die niedrige Vorgartenmauer. Daran knabbern sie besonders gerne. Das spart das Beschneiden. „Ah, ça y est“, sagt sie strahlend. „Jetzt beginnt also der richtige Einzug.“ In der Tat. Ich entschuldige mich für die Straßenblockade. Die patente Mittfünfzigerin mit offenem Gesicht und kurzen grauen Haaren wiegelt ab. „Kein Problem. Es gibt viel Schlimmeres!“ Geneviève zieht weiter mit ihrer Herde, die sie auf den zahlreichen offenen Wiesen um das Dorf herum grasen lässt. Sie selbst setzt sich dann auf einen Stein oder ein Stück Holz, überlässt es den Hunden, die Herde zusammenzuhalten und – ja was? Denkt sie nach, meditiert sie, schaut sie einfach auf die Landschaft? Was treibt sie um? Sie lebt in einer Welt, die mir bis jetzt verschlossen ist. Vielleicht wird es mir gelingen, einen Weg hinein zu finden.

Mich stressen Umzüge. Ich habe wieder einmal Sorge um die Unversehrtheit meiner Lieblingsmöbelstücke. Insbesondere um eine antike syrische Hochzeitstruhe mit Perlmuttintarsien und um die italienische Designerleuchte, die mir mein Vater einstmals zum Abschluss meines Geschichtsstudiums in Berlin geschenkt hat. Ich will diese Stehlampe gerne beschützen, wie einen alten...

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