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Kapitel 1
Lieben oder beeindrucken?
St. Beuno’s ist eine klosterähnliche Anlage am Abhang der Clwydian Hills in Nordwales. Von hier schweift der Blick weit über das Tal von St. Asaph bis zur Irischen See und in die Berge von Snowdonia. Es ist ein lieblicher Ort, an dem ich mich nach dreißig Jahren Dienst bei Campus für Christus zum ersten Mal auf das Abenteuer „Schweigeexerzitien“ einlasse – zusammen mit meiner Frau Barbara sowie unserer Freundin und Arbeitskollegin Brigitte, die sich für ihre eigene Auszeit uns angeschlossen hat.
Ich erwarte von diesen Tagen des Schweigens und betenden Hörens, dass Gott mir für meine persönlichen und dienstlichen Schwerpunkte in den kommenden Jahren den Weg weist. Gleichzeitig will ich meinen Horizont erweitern. Deshalb haben wir uns nicht für ein evangelisches, sondern ein jesuitisches5 Retraitenzentrum entschieden, das uns der evangelische Pfarrer Jens Kaldewey empfohlen hatte, der hier schon zwei längere Zeiten verbrachte. Wie es uns in dieser katholischen Umgebung wohl ergehen wird?
Am Freitag nach Christi Himmelfahrt 2013 rücken wir zu dritt an: Wir sind in Einzelzimmern untergebracht und werden uns eine Woche lang nur noch schweigend, lächelnd und nickend begegnen. Ich darf ein schönes Eckzimmer im Dachgeschoss beziehen und bekomme mit der sechzigjährigen Mary eine, wie sich herausstellen wird, geistlich hellwache Begleiterin zugeteilt. Die weitherzige und gastfreundliche Atmosphäre im Haus und der Garten mit seinen blühenden Wiesen, Osterglocken und Apfelbäumen lassen uns schnell heimisch fühlen. Die hügelige Umgebung mit Schafweiden und leuchtend gelben Ginstersträuchern tut unserer Seele wohl und lädt uns zu ausgedehnten Spaziergängen ein.
Dankbarkeit
Als am Samstag die Exerzitien beginnen, finde ich überraschend schnell in den „Fluss“ des Geistes hinein. Ich bin bewegt, wie sich jeden Tag ein oder zwei Themen herausschälen und sich schließlich zusammenfügen zu einem Weg ins „weite Land“ (vgl. Psalm 18,20), der mich zutiefst beglückt und mir auf einzigartige Weise Klarheit gibt, wie es in meinem neuen Lebensabschnitt weitergehen soll. Ohne es zunächst bewusst wahrzunehmen, stelle ich zusehends fest: Jesus macht genau dort weiter, wo er letztes Jahr angefangen hat, zu meinem Herzen zu reden: Es geht um die Liebe.
Natürlich tut er das nicht so, dass ich eine Stimme vom Himmel höre, die sagt: „Peter, ich rede jetzt mit dir über die Liebe!“ Vielmehr erlebe ich auch jetzt wieder das Reden Gottes so, dass im stillen Warten vor ihm, im Beten, im Lesen in der Bibel und im Tagebuchschreiben Gedanken aufsteigen und sich zu neuen Einsichten verdichten. Mir fällt etwas ins Auge oder es wird in meinem Herzen lebendig. Daraus erwächst ein nächster Impuls, eine Idee, ein Gebet. Denkfetzen spinnen sich wie lose Fäden zu einem Strang zusammen und weisen plötzlich in eine klare Richtung. Das geschieht meistens spontan, ungesucht und ungeplant. Wichtig ist nur, dass ich darauf achte, was in der Stille aus der Tiefe meines Inneren aufsteigt, und dass ich dem, was kommt, weiter nachspüre.
So geschieht es auch an diesem ersten Morgen. Ich bete für diese Woche und um die rechte Nahrung für Geist und Seele. Gleichzeitig empfinde ich von den vergangenen Monaten und Jahren her ein geistliches Völlegefühl, einen gewissen Überdruss an theologischen Erkenntnissen und christlichen Appellen. Ich bete um ein Verdauen- und Entsorgenkönnen von dem Zuviel, von Überholtem, von Sich-überlebt-Habendem. Ich bitte Gott um eine Erneuerung dessen, was bleibt und bleiben soll.
Unverhofft bemerke ich, dass in mir das Lied von Andrea Adams-Frey aufsteigt: „Danke, danke für die Blumen, danke für die Farben und für die Musik …“ Ja, ich bin dankbar für mein Leben, für Barbara und unsere Familie, für alles Gelingen in diesen dreißig Campus-Jahren, für diese Auszeit, für den schönen grünen Ort hier. Ich bin dankbar für das Eckzimmer und die Aussicht, ich bin dankbar für die vor mir liegenden Wochen.
Dankbarkeit ist angesagt. Dankbarkeit – das legt mir Jesus als Erstes ans Herz. Manchmal stehe ich in der Gefahr, schon wieder zum Nächsten zu eilen. Ich werte aus, analysiere und beurteile, was gut war und was nicht, was nun dran ist und was nicht. Aber das endet oft in der Sackgasse. Dankbarkeit hingegen öffnet das Herz und den Geist für das, was ist. Ich muss jetzt nichts beurteilen, nichts bewerten, sondern darf alles, was war und was ist, aus Gottes Hand annehmen. Paulus schreibt in seinem Brief an Timotheus sinngemäß: Was ich aus seiner Hand im Dank und Gebet annehme, wird geheiligt (vgl. 1. Timotheus 4,4-5). Es verwandelt sich – egal, wie „nützlich“ oder richtig es war – in Gnade. Gott lässt daraus Gutes entstehen. Dankbarkeit lässt mich gelassen sein in Gottes Hand. Dankbarkeit ist meine Aufgabe, Gott kümmert sich um den Rest.
Dankbarkeit schließt auch ein – und das wird mich in den nächsten Tagen noch begleiten –, mich selbst ganz aus Gottes Hand anzunehmen. Dankbarkeit ist der Weg zur Selbstannahme, und diese ist eine zentrale Voraussetzung für wahre Liebe.
Die Gier meiner Bedränger
Bei den „Bedrängern meiner Seele“ scheint Jesus als Nächstes anzusetzen. Am Sonntagmorgen, dem zweiten Tag, lese ich in den Losungen den Wochenpsalm 27 und bleibe beim Vers 12 hängen: Gib mich nicht preis der Gier meiner Bedränger [oder: Feinde]; denn falsche Zeugen sind gegen mich aufgestanden und der, der Gewalttat schnaubt.
Ja, ich kenne diesen Druck nur zu gut, der zuweilen auf meiner Seele lastet. Ich will das Gebet, das David hier spricht, zu meinem Gebet machen und frage Gott: „Herr, was sagst du mir heute, wer sind meine Feinde, die Bedränger meiner Seele?“
Als Antwort kommt mir Folgendes in den Sinn: Es sind die christlichen Ansprüche, Erwartungen und Ideale: das Geistlichkeitsideal, das Bet-Ideal, das Erweckungsideal, das Fruchtideal, das Eifern-um-die-Frucht-Ideal. Diese Ideale sind meine Bedränger. Sie sind gierig, sie sind nie zufrieden. Dazu kommen die falschen Zeugen, die inneren Ankläger und Polizisten, die mir mangelnde Motivation, Einsatz und Ausdauer vorhalten. Und am Ende wartet noch der, der Gewalttat schnaubt – das sind alle eigenen Versuche, diese Ideale mit Druck und Gewalt zu verwirklichen.
Mir fällt beim Lesen des Psalms 27 auf, dass er voller Verheißungen und Zusagen ist. Ich erkenne, wie ich der Gier dieser Feinde und Bedränger entkommen kann: allem voran dadurch, dass ich dem Herrn ganz besonders vertraue und bei ihm Zuflucht nehme, ich in seiner Nähe bleibe, seine Freundlichkeit anschaue und mir seine bedingungslose Annahme vergegenwärtige. Er ist meine Schutzburg, in der mein Leben und mein wahres Ich aufgehoben und vor dem Zugriff meiner Bedränger geschützt sind. Er macht mich frei von Angst, stärkt mein Herz und lässt mich das Gute schauen im Land der Lebendigen. Das tröstet mich auch jetzt.
Doch die Frage bleibt und meldet sich konkret: „Warum höre ich eigentlich trotzdem immer wieder auf die Gier meiner Bedränger?“
Ich höre vor allem dann auf sie, wenn nichts läuft, wenn mir nichts in den Sinn kommt, wenn ich mich leer fühle oder wenn es, wie jetzt, in einen neuen unbekannten Lebensabschnitt geht. Dann steigt die altbekannte Angst vor Langeweile, Sinnlosigkeit, Abgeklärtheit und Ohnmacht auf. Dann meine ich, etwas tun zu müssen, um meine Leere zu füllen. Aber hat nicht Jesus gesagt: Ohne mich könnt ihr nichts tun (Johannes 15,5; LUT)? Und Paulus: Ich vermag alles [nur] durch den, der mich mächtig macht, Christus (Philipper 4,13; LUT)? Gerade aus dem Zusammenhang dieses Pauluswortes wird mir heute bewusst: Christus macht mich auch mächtig, Mangel an Sinn und Perspektive zu leiden, Leere auszuhalten, warten zu können, bis es und wie es weitergeht. Tief im Innern empfinde ich: Es ist ihm wichtiger, dass ich diese Leere aushalte und annehme, statt – wie es heute Mode ist – ständig nach „mehr“ Ausschau zu halten.
Schließlich meldet sich neben der Frage, warum ich immer wieder auf die Gier meiner Bedränger höre, auch noch diese Überlegung: Ist es eigentlich mein gut getarnter Ehrgeiz, der mich Erwartungen auf Gott projizieren lässt, die er gar nicht hat und gar nicht an mich stellt? Mittlerweile würde mich das nicht mehr wundern. Ich möchte ja für Gott wichtig sein, gebraucht werden, mich bei ihm in Erinnerung bringen …
Die zwei Banner
In diese Überlegungen hinein gibt mir meine geistliche Begleiterin zwei ignatianische Grundregeln für den ersten Tag: Prinzip und Fundament sowie Die zwei Banner. Ich lese sie zum ersten Mal. In ihrer Einfachheit erinnern mich die Texte an Jüngerschaftskonzepte von Campus für Christus aus früheren Jahren. Aber wie es so ist: Manchmal erreichen einen die eigenen altbekannten Wahrheiten nicht mehr, man muss sie mit frischen Worten hören. Heute verwendet Jesus diese ignatianischen Texte, damit ich mich den grundlegenden Fragen stelle: Wonach strebe ich zutiefst in meinem Leben – nach Ehre oder nach Liebe? Und was möchte ich für den Rest meiner Tage eigentlich noch erreichen – wie ich mehr Eindruck machen kann oder wie ich mehr lieben lerne?
Natürlich, als guter Christ habe ich die „richtige“ Antwort schnell parat. Aber lebe ich auch danach? Ich werde jedenfalls von der unmissverständlichen Klarheit der Texte herausgefordert, mir erneut ernsthaft einen Spiegel vorzuhalten: Will ich lieben oder beeindrucken? Im Kerntext des Exerzitienbuches des Ignatius von...