Religiöse Vielfalt in Europa
von Rainer Münz
Vor 2000 Jahren gab es in Europa sowie rund ums Mittelmeer eine enorme Vielfalt an Riten, verehrten Gottheiten und religiösen Vorstellungen. Die meisten beschränkten sich auf ein Land, eine Region oder einen Tempelbezirk. Die Situation änderte sich erst mit der Ausbreitung des Christentums. Dieses hatte seine Wurzeln zwar in einer jüdisch-messianischen Bewegung. Doch bereits im 1. Jahrhundert n. Chr. missionierten Christen mit Erfolg in etlichen Teilen des Römischen Reichs. Die neu entstandene christliche Religion setzte sich damit auch außerhalb ihres nahöstlichen Entstehungsgebiets durch. Zugleich bildete die Mission – trotz Berufung auf denselben Gott – die wichtigste Trennlinie gegenüber dem Judentum der Thora. Denn jenem liegt die Vorstellung eines auserwählten Volkes zugrunde. Eben das schließt eine aktive Missionierung »fremder« Völker eigentlich aus.
Nach einer Zeit der Verfolgung stieg das Christentum im 4. Jahrhundert n. Chr. innerhalb des römischen Imperiums zur offiziellen Staatsreligion auf. Diese Religion wurde auch von eindringenden germanischen Stämmen übernommen; zum Beispiel von Langobarden und Franken. Ihrem Beispiel folgten später andere wandernde und sesshafte Germanen, Slawen sowie schließlich die aus Zentralasien eingewanderten Bulgaren und Ungarn.
Nach ursprünglicher Herkunft und Sprache unterschieden sich die Völker Europas. Aber der christliche Glaube stiftete eine wesentliche religiös-kulturelle und rituelle Gemeinsamkeit. Das christliche Abendland bestand allerdings schon im Hochmittelalter nicht nur aus christlichen Europäern. Als größte nichtchristliche Minderheit verblieb die jüdische Diaspora, die es seit der Römerzeit in weiten Teilen Europas und Nordafrikas gab. Zur dritten prägenden Religion Europas wurde seit dem Mittelalter schließlich der Islam.
Wie Judentum und Christentum hatte auch der Islam seinen Ursprung im Nahen Osten. Aus Arabien breitete sich diese Religion im Gefolge der arabischen Expansion im südlichen Mittelmeer-raum und nach der Eroberung Spaniens auch auf dem europäischen Kontinent aus. Die Iberische Halbinsel mit ihren großen jüdisch-sephardischen und muslimischen Gemeinden war damals Europas Region mit der größten religiösen Vielfalt. Erst die christliche Reconquista beendete dieses Zusammenleben. Juden und Moslems wurden vertrieben. Später traf dieses Schicksal sogar die Moriscos, also die zum christlichen Glauben übergetretenen Bewohner Spaniens und Portugals. Schon vorher waren in anderen Teilen Westeuropas jüdische Gemeinden verfolgt und dezimiert worden.
Dauerhaft etablierte sich der Islam hingegen in der heutigen Türkei und auf dem Balkan. Dies hatte damit zu tun, dass die osmanischen Türken zu Muslimen wurden und sich später als europäische Großmacht etablierten. Innerhalb ihres Herrschaftsgebiets bekannten sich später auch Albaner, Bosniaken und andere Bewohner des Balkans zum Islam. Sie bilden heute nach den Türken die größte Gruppe der Moslems in Europa.
Auch das Christentum trug während der letzten Jahrhunderte zur religiösen Vielfalt bei. Schon in der Spätantike trennten sich die Wege der europäischen und der orientalischen Christen. Dadurch kam es zur Gründung eigener Nationalkirchen der Assyrer, Kopten, Syrer und Armenier. In Europa folgte im Hochmittelalter das sogenannte »Schisma«, also die endgültige Trennung zwischen orthodoxer Ostkirche und römischer Westkirche, die sich allerdings schon lange vor dem 11. Jahrhundert abgezeichnet hatte. Innerhalb der Orthodoxie emanzipierte sich das Moskauer Patriarchat von Konstantinopel. Später setzte sich das Prinzip selbständiger Landeskirchen durch. Da in den letzten 200 Jahren durch den Zerfall des Osmanischen und des Russischen Reiches sowie zuletzt der Sowjetunion und Jugoslawiens immer mehr unabhängige Staaten mit orthodoxer Bevölkerung entstanden, kam es jeweils auch zur Gründung eigener orthodoxer Kirchen in Serbien, Griechenland, Rumänien, Bulgarien; zuletzt – wenn gleich von den bis dahin zuständigen Metropoliten bekämpft und bestritten – auch in der Ukraine, in Weißrussland und in Mazedonien.
In Westeuropa wuchs die Zahl der christlichen Glaubensgemeinschaften ab dem frühen 16. Jahrhundert durch die Abspaltung der Anglikaner und durch die Reformation. Neben den »großen« Gemeinschaften der Lutheraner, Calvinisten, Zwinglianer, der Church of Scotland etc. entstand eine beträchtliche Zahl an Freikirchen.
Nach Reconquista, Reformation und Gegenreformation verschwand die zuvor entstandene religiöse Vielfalt auf lokaler Ebene wieder. Durch freiwilligen oder erzwungenen Übertritt, Auswanderung oder Vertreibung, bisweilen auch durch radikale Ausrottung der jeweils Andersgläubigen waren in den meisten Ländern entweder die Katholiken oder die Lutheraner und Reformierten eindeutig in der Mehrheit. Anhängern der Freikirchen blieb als Alternative hauptsächlich die Emigration nach Amerika. Das Ergebnis waren Landstriche und ganze Länder, in denen sich die überwiegende Mehrheit oder alle zur gleichen Religion bekannten. Wichtigste Ausnahmen waren England, die Niederlande und die Schweiz. In weiten Teilen des übrigen Europa blieb es bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts bei dieser relativ großen Homogenität. Doch seither veränderte vor allem die wachsende Zahl internationaler Migranten die Situation.
Erst seit den 1960er Jahren gibt es in Europa mehr Einwanderung als Auswanderung. In Summe bewirkte dies in etlichen Ländern einen Zuzug von Andersgläubigen. Südeuropäische Katholiken kamen in den mehrheitlich protestantischen Nordwesten Europas, Orthodoxe und Muslime emigrierten sowohl in Regionen mit katholischer wie auch in solche mit protestantischer Mehrheit. Aus Süd- und Südostasien wanderten überdies Hindus, Sikhs und Buddhisten nach Europa ein.
In Summe leben heute in der EU über 40 Millionen Menschen, die in einem anderen Land (innerhalb wie außerhalb Europas) zur Welt kamen. Der größere Teil dieser Migranten hat eine andere Religion als die jeweils einheimische Bevölkerung. Damit entstehen auf Dauer neue religiöse Minderheiten. Denn die meisten Staaten der EU erwarten von Zuwanderern und deren Kindern zwar, dass sie die Sprache der Mehrheit erlernen und sich im Alltag integrieren. Aber es gibt heute keine ernsthaften Forderungen nach einem Wechsel der Religion. Im Gegenteil: Das Recht auf Ausübung der eigenen Religion ist fast überall in Europa ein besonders geschütztes Grundrecht.
Der Umgang mit dieser in nur wenigen Jahrzehnten entstandenen Vielfalt fällt uns nach Jahrhunderten teils gewachsener, teils erzwungener Homogenität nicht leicht. Denn es geht dabei um zentrale Symbole und Riten, um notwendige Änderungen in unserem Bildungssystem und um grundlegende Fragen der Gleichbehandlung. Bei Taufe, Beschneidung, Eheschließung und Beerdigung tritt diese Differenz besonders zutage. Denn hier verfügt jede Religion über eigene Traditionen, Riten und Tabus, worüber uns dieses Buch in eindrucksvoller Weise informiert.
Zugleich geht es um die Frage, welche Feiertage, rituellen Vorschriften und Besonderheiten der jeweiligen Minderheiten allgemein respektiert werden und welche nicht. Denn wo die Grenze zwischen zumutbarer alltagskultureller Anpassung, der notwendigen Akzeptanz von Grundwerten und dem Schutz von religiösen Überzeugungen verläuft, ist nicht immer klar. Exemplarisch dafür ist der Streit um Erlaubnis oder Verbot von Kopftüchern bei muslimischen Mädchen in der Schule und bei muslimischen Frauen – insbesondere Lehrerinnen – im öffentlichen Dienst. Andere vergleichbare Konfliktthemen der letzten Jahre waren arrangierte Ehen und das Schächten von Vieh.
Grundsätzlich geht es um die Frage, in welcher Gesellschaft wir zukünftig leben wollen – in einem Europa, das noch stärker durch Zuwanderung geprägt sein wird. Die Alternativen sind klar: in einer multireligiösen und damit notwendigerweise auch stärker multikulturellen Gesellschaft oder in einer, in der die kleiner werdende Mehrheit der Einheimischen und die wachsenden Gruppen mit anderem Religionsbekenntnis mehr nebeneinander als miteinander leben. Um uns überhaupt für das eine oder das andere entscheiden zu können, müssten Mehrheit und religiöse Minderheiten jeweils mehr voneinander wissen. Dieses Buch ist ein wichtiger Schritt auf diesem Weg.
Rainer Münz leitet die Forschungsabteilung der Erste Bank und ist Senior Fellow am Hamburgischen Weltwirtschaftsinstitut (HWWI). Er ist ein Experte zu Fragen von Bevölkerung und Migration sowie Demographie. Er studierte an der Universität Wien (Promotion 1978 und Habilitation 1986).
Bis 1992 war er Direktor des Instituts für Demographie der österreichischen Akademie der Wissenschaften, danach Professor für Bevölkerungswissenschaft an der Humboldt-Universität (1992–2003) sowie Gastprofessor an den Universitäten Bamberg (1986), UC Berkeley (1986, 1989, 1997–98), Frankfurt/M. (1988), Klagenfurt (1995, 1997), Wien (2001–02) und Zürich (1992) und Fellow des Instituts für Finanzmathematik der TU Wien (2001–02) und Fellow des Center for Comparative Immigration Studies, UC San Diego (seit 2001). Mitgliedschaften in den wissenschaftlichen Beiräten der International Organisation for Migration (IOM, Genf), der Daimler Benz-Stiftung (Ladenburg), des Center for Migration, Policy and Society (COMPAS) der Oxford University, des Verbandes der deutschen Rentenversicherungen (VDR, Frankfurt-Berlin), des International...