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E-Book

Leben, um davon zu erzählen

AutorGabriel García Márquez
VerlagVerlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl608 Seiten
ISBN9783462308655
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,49 EUR
Der erste Teil der Memoiren von Gabriel García Márquez - »Leben, um davon zu erzählen« ist ein großes Buch, das nicht nur bewegt und begeistert, sondern Lust macht, die Romane und Erzählungen des Nobelpreisträgers zu lesen oder wieder - und wieder - zu lesen.  »Nicht was wir gelebt haben, ist das Leben, sondern das, was wir erinnern und wie wir es erinnern, um davon zu erzählen.« Und so erzählt Gabriel García Márquez diesem Motto seines Buches folgend vom Leben seiner Eltern, denen er in »Die Liebe in den Zeiten der Cholera« ein Denkmal setzte, von der eigenen Kindheit und Jugend. Er erzählt von großer Armut und wilden Liebesabenteuern, von Freunden fürs Leben und der Leidenschaft für die Literatur.

Gabriel García Márquez, geboren 1927 in Aracataca, Kolumbien, arbeitete nach dem Jurastudium zunächst als Journalist. García Márquez hat ein umfangreiches erzählerisches und journalistisches Werk vorgelegt. Seit der Veröffentlichung von »Hundert Jahre Einsamkeit« gilt er als einer der bedeutendsten und erfolgreichsten Schriftsteller der Welt. 1982 erhielt er den Nobelpreis für Literatur. Gabriel García Márquez starb 2014 in Mexico City.

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Leseprobe

1


Meine Mutter bat mich, sie zum Verkauf des Hauses zu begleiten. Sie war morgens in Barranquilla eingetroffen, kam aus dem fernen Städtchen, in dem die Familie wohnte, und hatte keine Ahnung, wie sie mich finden sollte. Sie fragte hier und dort bei Bekannten nach, und man gab ihr den Hinweis, in der Buchhandlung Mundo oder in den Cafés der Umgebung zu suchen, wo ich mich zweimal täglich mit meinen Schriftstellerfreunden zu treffen pflegte. Der das sagte, warnte sie: »Nehmen Sie sich in Acht, die sind völlig durchgedreht.« Punkt zwölf war sie da. Mit ihrem leichtfüßigen Schritt bahnte sie sich den Weg durch die Büchertische, stand vor mir, schaute mir mit dem schalkhaften Lächeln ihrer besten Tage in die Augen und sagte, noch bevor ich reagieren konnte:

»Ich bin deine Mutter.«

Etwas an ihr hatte sich verändert, was mir nicht erlaubte, sie auf den ersten Blick zu erkennen. Sie war fünfundvierzig Jahre alt. Zählt man die elf Geburten zusammen, war sie fast zehn Jahre lang schwanger gewesen und hatte mindestens noch einmal so lang ihre Kinder gestillt. Sie war vor der Zeit vollständig ergraut, die Augen wirkten größer und erstaunt hinter ihrer ersten Bifokalbrille, und sie trug strenge Trauer wegen des Todes ihrer Mutter, hatte jedoch die römische Schönheit ihres Hochzeitsfotos bewahrt, die eine herbstliche Aura nun mit Würde umgab. Zuallererst, noch bevor sie mich umarmte, sagte sie in ihrer gewohnt zeremoniösen Art:

»Ich bin gekommen, weil ich dich um den Gefallen bitten möchte, mich zum Verkauf des Hauses zu begleiten.«

Sie musste nicht sagen, wohin, noch um welches Haus es sich handelte, denn für uns gab es nur eins auf der Welt: das alte Haus der Großeltern in Aracataca, in dem geboren zu werden ich das Glück hatte und in dem ich seit meinem achten Lebensjahr nicht mehr gewohnt habe. Ich hatte gerade die juristische Fakultät nach sechs Semestern verlassen, die ich vor allem dazu genutzt hatte, alles, was mir in die Hände kam, zu lesen und die unvergleichliche Poesie des spanischen Siglo de Oro auswendig zu rezitieren. Ich hatte damals bereits alle Bücher in Übersetzung ausgeliehen und gelesen, die genügt hätten, um die Technik des Romanschreibens zu erlernen, und hatte in Zeitungsbeilagen sechs Erzählungen veröffentlicht, die meine Freunde begeisterten und ein paar Kritiker aufmerken ließen. Im nächsten Monat sollte ich dreiundzwanzig werden, hatte gegen die Wehrpflicht verstoßen, war bereits Veteran zweier Gonorrhöen und rauchte ohne böse Vorahnungen täglich sechzig Zigaretten üblen Tabaks. Meine Freizeit teilte ich zwischen Barranquilla und Cartagena de Indias an der kolumbianischen Karibikküste auf, schlug mich mit dem durch, was man mir bei El Heraldo für meine täglichen Beiträge zahlte, also mit so gut wie nichts, und schlief, möglichst in angenehmer Begleitung, dort, wo mich die Nacht überraschte. Als sei es mit meinen ungewissen Bestrebungen und dem chaotischen Lebenswandel noch nicht genug, wollten wir, eine Gruppe unzertrennlicher Freunde, gerade ohne Geld eine waghalsige Zeitschrift herausbringen, die Alfonso Fuenmayor schon seit drei Jahren plante. Was mehr konnte ich wünschen?

Eher aus Not denn aus Überzeugung eilte ich der Mode um zwanzig Jahre voraus: wild wuchernder Schnurrbart, aufgewühlte Mähne, fragwürdig geblümte Hemden zu Jeans und Jesuslatschen. In der Dunkelheit eines Kinos sagte eine damalige Freundin, nicht wissend, dass ich in der Nähe saß, zu jemandem: »Der arme Gabito ist ein aussichtsloser Fall.« Als meine Mutter mich also fragte, ob ich sie begleitete, um das Haus zu verkaufen, stand einem Ja nichts im Wege. Sie gab zu bedenken, dass sie nicht genug Geld habe, und aus Stolz sagte ich, dass ich für meine Kosten selbst aufkäme.

Doch bei der Zeitung, für die ich arbeitete, war das Geldproblem nicht zu lösen. Sie zahlten mir drei Pesos für die tägliche Glosse und vier für einen Meinungsbeitrag, wenn einer der zuständigen Redakteure fehlte, doch das reichte kaum. Ich versuchte es mit einem Vorschuss, aber der Geschäftsführer erinnerte mich daran, dass ich bereits mit über fünfzig Pesos in der Kreide stand. An jenem Abend wagte ich einen Vorstoß, zu dem keiner meiner Freunde fähig gewesen wäre. Aus dem Café Colombia kommend, gleich neben dem Buchladen, holte ich den alten katalanischen Lehrer und Buchhändler Don Ramón Vinyes ein und bat ihn, mir zehn Pesos zu leihen. Er hatte nur sechs.

Natürlich konnten weder meine Mutter noch ich damals ahnen, wie bestimmend dieser harmlose zweitägige Ausflug für mich sein sollte, sodass auch das längste und arbeitsamste Leben nicht ausreichen würde, erschöpfend davon zu erzählen. Jetzt, mit mehr als fünfundsiebzig wohlbemessenen Jahren, weiß ich, dass die Entscheidung zu dieser Reise die wichtigste war, die ich in meiner Laufbahn als Schriftsteller zu treffen hatte. Das heißt: in meinem ganzen Leben.

Bis in die Adoleszenz hinein interessiert sich das Gedächtnis mehr für die Zukunft als für die Vergangenheit, daher waren meine Erinnerungen an Aracataca noch nicht durch Nostalgie verklärt. Ich erinnerte mich so daran, wie es gewesen war: ein Ort, in dem es sich gut leben ließ, wo jeder jeden kannte, am Ufer eines Flusses mit kristallklarem Wasser, das dahinschoss durch ein Bett mit polierten Steinen, weiß und riesig wie prähistorische Eier. Gegen Abend, besonders im Dezember, wenn der Regen vorüber war und die Luft sich in Diamant verwandelte, schien die Sierra Nevada de Santa Marta mit ihren weißen Bergspitzen bis an die Bananenplantagen am anderen Ufer heranzurücken. Von hier aus konnte man die Arhuaco-Indios wie Ameisen in Reihen über die Bergpfade der Sierra eilen sehen, sie hatten Ingwersäcke auf dem Buckel und kauten Cocakugeln, um das Leben abzulenken. Wir Kinder träumten damals davon, aus dem ewigen Weiß Schneebälle zu formen und damit in den glutheißen Straßen Schlachten auszutragen. Die Hitze war so unglaublich, vor allem in der Siestazeit, dass die Erwachsenen darüber klagten, als handele es sich um eine täglich neue Überraschung. Ich habe von meiner Geburt an ständig wiederholen gehört, dass die Eisenbahnstrecke und die Lager der United Fruit Company nachts gebaut werden mussten, weil es unmöglich gewesen sei, tagsüber das sonnenheiße Werkzeug anzufassen.

Die einzige Möglichkeit, von Barranquilla nach Aracataca zu gelangen, war ein klappriges Motorschiff, das auf einem in der Kolonialzeit von Sklavenhand ausgehobenen Kanal fuhr, dann durch ein weites, sumpfiges Gewässer, trüb und trostlos, bis zur rätselhaften Ortschaft Ciénaga. Dort bestieg man einen Bummelzug, der ursprünglich der beste des Landes gewesen war, und fuhr, mit vielen müßigen Unterbrechungen in staubglühenden Dörfern und an einsamen Bahnhöfen, die letzte Strecke durch unermessliche Bananenplantagen. Auf diesen Weg machten meine Mutter und ich uns am Samstag, dem 18. Februar 1950 um sieben Uhr abends – es war der Vorabend des Karnevals –, unter einem sintflutartigen Platzregen außerhalb der Zeit und mit einer Barschaft von zweiunddreißig Pesos, die knapp für die Rückfahrt reichen würden, falls das Haus sich nicht zu den erwarteten Konditionen verkaufen ließ.

Die Passatwinde wehten an jenem Abend so heftig, dass es schwierig war, meine Mutter am Flusshafen dazu zu überreden, an Bord zu gehen. Sie hatte gute Gründe. Die Schiffe waren verkleinerte Versionen der Flussdampfer von New Orleans, hatten aber Benzinmotore, die alles an Bord in ein böses, fiebriges Zittern versetzten. Es gab einen kleinen Salon mit Pfosten, an denen man auf verschiedenen Ebenen Hängematten befestigen konnte, und mit Holzbänken, auf denen jeder unter Einsatz der Ellenbogen einen Platz zu ergattern suchte, für sich und das übermäßige Gepäck, Säcke mit Waren oder Körbe mit Hühnern oder sogar mit lebenden Schweinen. Es gab ein paar stickige Kabinen mit jeweils zwei Feldbetten, fast immer von armseligen Hürchen belegt, die während der Fahrt Notdienste erwiesen. Da wir spät dran waren und keine Kabine mehr frei fanden, auch keine Hängematten dabeihatten, besetzten meine Mutter und ich überfallartig zwei Eisenstühle im Mittelgang und richteten uns dort für die Nacht ein.

So wie meine Mutter es befürchtet hatte, beutelte der Sturm das wagemutige Schiff, als wir den Magdalena überquerten, der, so kurz vor der Mündung, das Temperament eines Ozeans hat. Ich hatte mich am Hafen reichlich mit den billigsten Zigaretten eingedeckt, schwarzer Tabak und ein Papier, das schon fast an Lumpen erinnerte, und begann nach meiner damaligen Art zu rauchen, ich zündete eine Zigarette am Stummel der letzten an, während ich wieder einmal Licht im August von William Faulkner las, der damals der treueste meiner Schutzdämonen war. Meine Mutter klammerte sich an ihren Rosenkranz wie an eine Handwinde, die einen festgefahrenen Traktor aus dem Schlamm hätte ziehen oder ein Flugzeug in der Luft halten können, und, wie gewöhnlich, erflehte sie nichts für sich selbst, sondern Glück und ein langes Leben für ihre elf Waisenkinder. Ihr Gebet muss erhört worden sein, denn der Regen wurde sanfter, als wir in den Kanal einfuhren, und die Brise wehte so leicht, dass sie gerade einmal die Moskitos aufscheuchte. Daraufhin steckte meine Mutter den Rosenkranz ein und beobachtete eine ganze Weile lang schweigend das tosende Leben um uns herum.

Sie war in einem bescheidenen Haus geboren worden, wuchs aber in der flüchtigen Herrlichkeit des Bananenbooms auf, wodurch ihr immerhin die gute Erziehung einer höheren Tochter am Colegio de la Presentación de la Santísima Vírgen in Santa Marta blieb. In den Weihnachtsferien stichelte sie damals mit ihren Freundinnen am Stickrahmen, spielte Klavichord auf...

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