Das Gleiten, das glissement ergreift hier alles: ebenso das stille Eindringen des Wassers wie die Wahrnehmungsweise der Überschwemmungsbilder durch die Leser. Vor allem aber praktiziert der Text selbst ein ständiges Gleiten, das die Leser der Mythologie von den vorgegebenen Stadt-, Quartiers- oder Hausstrukturen über die lebendigen Dinge zu einer veränderten Lebenspraxis (der Bewohner) führt (Abb. 5). Die lange Kulturgeschichte menschlicher Schifffahrt öffnet sich auf veränderte LebensBilder, in denen sich Familien in geradezu indigen anmutenden Kanus auf Versorgungsfahrten, also gleichsam auf die Jagd begeben und so das Gleiten über das Wasser zu einem quasi natürlichen Bestandteil ihres alltäglichen Lebens machen (Abb. 6). Unter den aktuellen erscheinen andere, archaische Lebensformen, unter den Pressebildern andere Bilder, die Bilder eines anderen Wissens vom Leben sind.
Auch mit seinem am Ende des Textes vorgenommenen Rückgriff auf die Arche Noah entfaltet Roland Barthes eine Vielzahl menschheitsgeschichtlicher Momente, die hier aus ihrer chronologischen Abfolge herausgelöst und vergleichzeitigt werden. Bei dieser Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen aber bleibt die Barthes’sche Mythologie nicht stehen, sondern mündet ein in eine Engführung der Geschichte der Menschen und der Geschichte der Natur. Es kommt zwar fraglos nicht zu jenem Kollaps von Menschheitsgeschichte und Naturgeschichte, den Dipesh Chakrabarty in einer anregenden Untersuchung mit Blick auf den Ausgang des 20. Jahrhunderts in seinen vier Thesen zu The Climate of History herausgearbeitet hat.23 Doch müssen sich die Überlegungen von Roland Barthes nicht auf die Erhebung neuester Klimadaten stützen, um nicht nur intellektuell verstehbar, sondern sinnlich erlebbar zu machen, wie irreführend es ist, Menschheitsgeschichte und Naturgeschichte klar voneinander zu scheiden. Denn in Barthes’ gleitenden Bewegungen zwischen Natur und Kultur wird deutlich, dass Natur in ihrer Mediatisierung Kultur und damit Politik ist, ja dass die Überschwemmung von Paris, dessen emblematisches Schiff im Wappen auf dem Wasser schwimmt und niemals untergeht, im höchsten Maße Politik ist. Eine Politik, wie sie in der Menschheitsgeschichte gespeichert ist, und eine Politik, die ihrerseits den Mythos bemüht, um das Ereignis der Überschwemmung selbst wie auch ihr eigenes Tun als natürlich auszugeben. Paris wurde nicht überschwemmt: Bereits im Titel wird diese Einsicht durch das Spiel mit dem Fluctuat nec mergitur, das einem französischen Lesepublikum selbstverständlich bekannt ist, markiert.
Die Geschichte des Menschen ist nicht von der Geschichte der Natur zu trennen. Dies gilt gewiss aber auch umgekehrt. Wenn Chakrabarty in seiner erwähnten Untersuchung mit guten Gründen auf die Tatsache aufmerksam macht, dass wir im Schatten des Anthropozäns, also eines von den Werken und Wirkungen des Menschen geprägten geologischen Zeitalters, heute aufgefordert, ja gezwungen sind, die Globalgeschichten des Kapitals mit der Geschichte der menschlichen Spezies in Verbindung zu bringen, dann wird damit zweifellos eine wichtige Historisierung dieses Prozesses im Zeichen einer dramatischen Zuspitzung eben dieses Verhältnisses vorgenommen.24
Dies enthebt aber nicht der Verpflichtung, die Natur schon immer in ihrer Wahrnehmung durch den Menschen als Kultur zu verstehen und zugleich zu begreifen, dass mit der Naturalisierung der Natur Politik gemacht wird. Denn wenn wir verstehen wollen, in welcher komplexen Relation die »recorded history«, also die im Verlauf der zurückliegenden vier oder fünf Jahrtausende aufgezeichnete Geschichte, mit der »deep history«, also mit der gesamten Menschheitsgeschichte vor der Erfindung des Ackerbaus, steht, ist es unabdingbar, die jahrtausendealte Präsenz der Mythen in der Gegenwart so zu befragen, dass sie immer wieder neue Aspekte des Lebens und ZusammenLebens freigeben und beleuchten, ja erlebbar machen. Denn schon die noch erhaltenen Tontafeln und Fragmente des Gilgamesch-Epos verweisen nicht allein auf frühere Aufzeichnungen und Bezüge, sondern auch und vor allem auf literarische Verdichtungsformen, die ebenso das Zusammenleben des Menschen unterschiedlicher Herkunft und unterschiedlichen Geschlechts mit anderen Menschen (derselben wie anderer Kulturen) als auch mit den Göttern, mit den Tieren, den Pflanzen und den Dingen enthalten und entfalten.
In diesem Sinne entfaltet Roland Barthes in Paris n’a pas été inondé eine komplexe Reflexion, die ausgehend von den aktuellen Überschwemmungen im Frankreich des Jahres 1955 nach den Wechselbeziehungen zwischen Natur, Kultur und Politik einerseits und nach der Präsenz der Verbindung von Naturgeschichte und Menschheitsgeschichte im Leben heutiger Menschen fragt. Auch wenn der Lebensbegriff nicht im eigentlichen Fokus der Überlegungen von Dipesh Chakrabarty steht, klingt die ganze Bedeutsamkeit dieser Dimension, zu deren Erhellung die Literaturen der Welt entscheidend beitragen können, doch in manchen seiner Formulierungen an. So heißt es mit Blick auf die Folgen der Erderwärmung:
The consequences make sense only if we think of humans as a form of life and look on human history as part of the history of life on this planet. For, ultimately, what the warming of the planet threatens is not the geological planet itself but the very conditions, both biological and geological, on which the survival of human life as developed in the Holocene period depends.25
Für ein Verständnis von Leben aber, das auf einem Lebensbegriff aufruht, der sich nicht allein auf die geologischen und biologischen, sondern wesentlich auch auf die kulturellen Dimensionen des Lebens – und damit auf ein umfassendes Verständnis von griechisch bíos – bezieht, gibt es kein umfassenderes und zugleich verdichteteres Reflexionsmedium als die Literatur oder genauer: die Literaturen der Welt. Denn sie enthalten in ihrer jahrtausendealten Entfaltung quer zu den Zeiten und Mächten, quer zu den Sprachen und Kulturen ein Lebenswissen, ÜberLebenswissen und ZusammenLebensWissen, das von zutiefst viel-logischen Strukturierungen geprägt ist.26
Eben hier setzt Barthes in einer gleichsam transhistorischen Perspektivierung inmitten aller von der Überflutung ausgelösten Zerstörungen ein Wissen von der »euphorie de reconstruire« (OC I 600) ein, das sich seines paradoxen Status durchaus bewusst ist, zugleich aber auch um den experimentellen Charakter seines eigenen Tuns weiß:
Fait paradoxal, l’inondation a fait un monde plus disponible, maniable avec la sorte de délectation que l’enfant met à disposer ses jouets, à les explorer et à en jouir. […] Si l’on passe des mythes de sensation aux mythes de valeur, l’inondation garde la même réserve d’euphorie: la presse a pu y développer très facilement une dynamique de la solidarité et reconstituer au jour le jour la crue comme un événement groupeur d’hommes. (OC I 600)
Damit werden hier Formen und Normen eines ZusammenLebensWissens27 beleuchtet, das von der Presse mobilisiert werden kann, weil es gleichsam mythisch gespeichert ist. Die Euphorie entsteht aus der Wiedererkennung eines Wissens, das auf unterschiedlichste Weise in der Wissenschaft, in den Lebenspraktiken, in Glaubensvorstellungen, aber nicht zuletzt auch in der Literatur – Barthes spricht vom »lever un pont-levis dans un roman d’aventures« (OC I 600) – gespeichert ist. Die Mobilisierung des Mythos – eines mythe de valeur – in der Massenkommunikation wird genau deshalb zum Gegenstand der Analyse von Barthes, weil der Kulturtheoretiker28 auf eben dieser Ebene nicht nur die Funktionsweise des Mythos, sondern dessen Verwendung in einer konkreten Lebenspraxis – unter den Bedingungen eines bedrohten Lebens, das Solidarität und wechselseitige Hilfe einfordert – in seiner konkreten Funktionsweise erproben und literarisch vorführen kann.
Wie sehr dies auch im engsten Sinne eine politische Dimension impliziert, macht Barthes im Schlussabschnitt seines Textes deutlich, indem er die Präsenz des »mythe quarante-huitard« (OC I 600) aufzeigt: Gegen das Paris umschließende Heer der Wassermassen werden überall die in der Massenpresse so genannten »Barrikaden« errichtet; ein heroischer Widerstandskampf setzt ein, der mit allen Attributen jener Verwendung des Mythos arbeitet, die Barthes in Le mythe, aujourd’hui am Ende seiner Mythologies erläutert. Den großen Erfolg dieses »mode de résistance légendaire« gegen einen hereinbrechenden Feind führt Barthes auf die Entfaltung einer »image d’une mobilisation armée« zurück (OC I 600), deren militärische Machtentfaltung an erster Stelle der Errettung der Kinder, der Alten und der Kranken gilt (OC I 601).
Wenn diese generalstabsmäßig vorbereitete Aktion aber dann auf die mythische Ebene der Sintflut und der Arche Noah gehoben wird, dann greift Barthes hier bewusst auf jenen mythe heureux zurück, den er in der Mitte seines Textes eingeführt hatte: auf den glücklichen Mythos des Gleitens und Dahingleitens. Im Zeichen dieses Mythos endet der gesamte Text:
Car l’Arche est un mythe heureux: l’humanité y...