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'Lebenslanges Lernen' - Bildung in der Risikogesellschaft

Bildung in der Risikogesellschaft

AutorMartin Lacher
VerlagGRIN Verlag
Erscheinungsjahr2007
Seitenanzahl86 Seiten
ISBN9783638784702
FormatPDF/ePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis24,99 EUR
Magisterarbeit aus dem Jahr 2007 im Fachbereich Pädagogik - Schulpädagogik, Note: 1,3, FernUniversität Hagen (Institut für Bildungswissenschaft und Medienforschung), 75 Quellen im Literaturverzeichnis, Sprache: Deutsch, Abstract: Der Terminus 'Risikogesellschaft' betitelt eine Gegenwartsanalyse des Soziologen Ulrich Beck, worin er postuliert, dass die in der Folge der Moderne entstandene Industrialisierung am Ende des 20. Jahrhunderts als Auslaufmodell angesehen werden muss. Im Zuge von Digitalisierung und Globalisierung realisiere sich eine Forderung der europäischen Aufklärung: die Freisetzung des Individuums. Diese 'Individualisierung' bedeute einen Zuwachs an Freiheit bei gleichzeitiger Potenzierung der Risiken: In der 'Risikogesellschaft' hat das Individuum durch die Freiheit der Wahl die Pflicht zur Entscheidung. Dabei kann sich der Einzelne jedoch auf immer weniger auf Parameter wie z. B. Werte oder Normen verlassen. Er muss also immer öfter experimentieren, was zu Unsicherheit und Angst führt. Eine Chance, an diesen Entwicklungen zu partizipieren, wird in der Bildung gesehen, immer öfter ist von der Informations- und Wissensgesellschaft die Rede, die uns ständig mit angeblich Wissenswertem füttert will. Doch führt dies automatisch zu Bildung? Wie lässt sich Bildung überhaupt definieren? Die vorliegende Arbeit stellt mit dem 'Lebenslangen Lernen' eine Bildungskonzeption vor, die als mögliche Antwort auf die Herausforderungen des beginnenden 21. Jahrhunderts gesehen werden kann. Dazu wird zunächst Kants Transzendentalphilosophie als grundlegendes Theoriegebäude der Aufklärung vorgestellt, welches den Menschen als frei handelndes Individuum mit der Möglichkeit zur Selbsterziehung sieht. Ob und wie sich dies im Einzelnen realisieren kann, zeigen etwa die empirischen Arbeiten von Piaget zur Denkentwicklung und Kohlbergs zur Moralentwicklung. Die zweite Argumentationslinie verfolgt den von Beck gezeichneten Verlauf hin zur 'Risikogesellschaft' und den Folgen für Ökologie und Gesellschaft. Im Folgenden werden beide Linien mit dem Bildungskonzept 'Lebenslanges Lernen' verknüpft und der Frage nachgegangen, ob diese aus der Sicht der vorgestellten philosophischen, sozialpsychologischen, soziologischen und pädagogischen Ansätze Antworten und Lösungsmöglichkeiten auf die Herausforderungen der Risikogesellschaft bieten können. Abschließend soll geprüft werden, ob sich Bildungskonzeptionen realisieren lassen, die den Herausforderungen gewachsen sind und darüber hinaus jedem Einzelnen die Möglichkeit geben, in einer individualisierten und globalisierten Welt ein sinnvolles und erfülltes Leben zu führen.

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Leseprobe

 3. Lebenslang Lernen in der Risikogesellschaft

 

Im Jahre 1792 schrieb Wilhelm von Humboldt: „Der wahre Zweck des Menschen ... ist die höchste und proportionierlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen.“[126] Davon ausgehend, forderte er „lebenslanges Lernen“ als eine Grundintention von Bildung überhaupt. Wenn also Lebenslanges Lernen[127] als Bildungskonzeption im späten 20. Jahrhundert wieder in aller Munde ist, so scheint dies auf den ersten Blick ein „alter Hut“ zu sein.

 

Casale et. al. schreiben anlässlich eines Kongresses mit dem Titel „Bildung über die Lebenszeit“ der „Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft“ im Jahre 2005: „Lebenslanges Lernen gilt als ‚das‘ zukunftsfähige Konzept der Didaktik, und dies in jeder Hinsicht, aber es ist zunächst trivial, denn sollte Leben etwas anderes sein als Lernen? Es ist ähnlich wie beim ‚vernetzten Denken‘, einem anderen neuen Slogan der Didaktik: Denken ist immer Vernetzung, es gibt keine Sonderform des Denkens, die exklusiv ‚vernetzt‘ verfahren würde. Analog ist Leben nur als Lernen vorstellbar.“[128]

 

Wenn man sich nun die Geschichte der Konzeptionen zum Lebenslangen Lernen im 20. Jahrhundert näher betrachtet, wird deutlich, dass die Forderung nach einem Lernen über die ganze Lebenszeit hinweg immer dann gestellt wurde, wenn Bildungssysteme in Krisen geraten waren. So beginnt die neuere Geschichte des Lebenslangen Lernens auch nicht erst in den 1990er-Jahren des 20. Jahrhunderts oder zu Beginn des 21. Jahrhunderts, nach der so genannten „PISA-Katastrophe“, sondern schon Ende der 1960er-/Anfang der 1970er-Jahre des 20. Jahrhunderts. „Bereits in den 1970er Jahren hatte das lebenslange Lernen in der internationalen Diskussion Hochkonjunktur, damals firmierte es allerdings eher unter Etiketten wie ‚Recurrent Education‘ oder ‚Education permanente‘. Das Aufkommen dieser bildungspolitischen Konzepte zum Lebenslangen Lernen war eng verknüpft mit den internationalen Bildungsreformdebatten seit den ausgehenden 1960er bzw. 1970er Jahren, die unter anderem von der in dieser Zeit konstatierten ‚Welt-Bildungskrise‘ beeinflusst waren.“[129]

 

Die „Weltbildungskrise“ wurde durch den sogenannten „Sputnik-Schock“ Ende der 1950er-Jahre ausgelöst und bezeichnet die Installierung des ersten Satelliten im All durch die Sowjetunion. Diese Entwicklung im Bereich der Raumfahrt führte in den USA und Westeuropa – aus sicher geglaubten politischen und technologischen Überlegenheitsgefühlen heraus – zu einer angeblichen Schockreaktion im Sinne einer allgemeinen politisch-gesellschaftlichen Reaktion und zu verstärkten kompensierenden Maßnahmen in den wissenschaftlich-technologischen und gesellschaftlich-politi­schen Bereichen. Grundlegende Kompensationsmaßnahmen fanden in der Folge auch in nationalen und internationalen Bildungswesen statt. So geht die „Bildungsreform der siebziger Jahre ... auf den Sputnik-Schock zurück, der eine ‚Weltbildungskrise‘ auslöste. 1969 hob die Regierung Brandt/Scheel ‚Bildung und Ausbildung, Wissenschaft und Forschung‘ in ihrer Regierungserklärung auf Platz eins.“[130]

 

Auch das deutsche Bildungssystem wurde als nicht mehr zeitgemäß kritisiert. „Vor diesem Hintergrund stellen die Ansätze in den 1970er Jahren Versuche dar, nicht durch einen Ausbau des bestehenden Systems, sondern durch dessen völlige Umstrukturierung zur Behebung dieser Krise beizutragen.“[131] In der Folge der Diskussionen um die „richtigen“ Konzepte wurden auch die oben genannten Ansätze der „Recurrent Education“ oder „Education permanente“ entwickelt. Das Echo dieser frühen Konzepte war allerdings in der Bundesrepublik kaum zu vernehmen. Erst das auf der internationalen Bühne in den 1990er Jahren wieder erwachte rege Interesse verschiedener Organisationen hat auch die deutsche bildungspolitische Landschaft bewegt und beispielsweise das Bundesministerium für Bildung und Forschung dazu veranlasst, eine offizielle Publikation zu diesem Thema in Auftrag zu geben.[132] Das Lebenslange Lernen ist in der europäischen Bildungspolitik spätestens seit dem „Europäischen Jahr des lebensbegleitenden Lernens“, das 1996 von der Europäischen Kommission ausgerufen wurde, „in aller Munde“.[133]

 

Die aktuelle Neuauflage des Lebenslangen Lernens ist auch aus den Entwicklungen und Ergebnissen entstanden, die unter den Thesen der „Risikogesellschaft“ in den letzten Jahrzehnten diskutiert worden sind. „Die didaktische Zentralstellung des lebenslangen Lernens erwächst nicht aus der Didaktik, sondern aus der Theorie der Gesellschaft, in der Verzeitlichung, Risikozuwachs ... und Individualisierung zum Thema geworden sind. Es ist von ‚reflexiver Moderne‘ oder von ‚Risikogesellschaft‘ die Rede, um auf die Abnahme von Entlastung hinzuweisen, was im Gegenzug bedeutet, auf diese Gesellschaft nicht mehr durch geschlossene Perioden der Bildung am Anfang des Lebens vorbereiten zu können. Sicherheit ist nur noch durch Unsicherheit zu haben, nämlich durch permanente Selbstausrüstung mit Wissen und Können oder eben ein lebenslanges Lernen, das nicht mehr auf stabile Karrieren und Anstellungen verweist, sondern nur noch mit hypothetischen Chancen verbunden ist, die befristet genutzt werden können.“[134]

 

Salopp formuliert, lässt sich die vorläufige These aufstellen, dass der „alte Hut“ des Lebenslangen Lernens immer dann aufgepeppt wird, wenn Gesellschaften in (Bildungs-)Krisen geraten.

 

3.1 Bildung und Lebenslanges Lernen

 

Die Entwicklung der aktuellen Konzeptionen und Strategien zum Lebenslangen Lernen wurde zu Beginn der 1970er-Jahre vor allem durch internationale Institutionen gefördert. So wurden vom Europarat, der UNESCO und er OECD zwischen 1971 und 1973 Konzepte entwickelt und vorgestellt, die sich auf eine lebenslange Erziehung, ‚permanent education‘ oder ‚éducation permanente‘ beriefen. Es war also von Konzeptionen die Rede, die durch lebenslange und angeleitete Erziehung den Menschen bilden wollte. Von großer Wichtigkeit für den Bildungserfolg waren die Rolle der Erziehungs und Fortbildungsinstitutionen und die des Lehrenden als eines Wissensvermittlers und Anleiters. Durch die oben skizzierten Veränderungen in wissenschaftlichen, wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Bereichen vollzog sich in den darauf folgenden 25 Jahren ein Perspektivwechsel hin zum Lebenslangen Lernen. In den Konzeptionen, die Ende der 1990er Jahre von der EU, der UNESCO und der OECD vorgestellt wurden, wird der Mensch als ein Individuum dargestellt, das durch Lernen im Austausch mit seiner Umwelt Bildung hervorbringt. Erziehung kann zwar von außen Material, Konzepte, Perspektiven und Möglichkeiten zur Verfügung stellen und versuchen, das Individuum auf bestimmte Intentionen hin zu beeinflussen. Was der Mensch als individuellen Bildungsprozess am Ende dann konstruiert oder bildet, ist von außen nicht bestimmbar. Somit ist „Lernen ‚resistent‘ gegen Erziehung, die Heranwachsenden haben ihren eigenen Willen und ihre eigene Form der Aneignung von Welt.“[135]

 

Lernen lässt sich als Grundfunktion von Bildung bezeichnen. Bildung stellt einen lebenslangen Prozess dar, in dem sich jedes Individuum „formt“, sich ein Bild von sich und der Welt bildet, sich und der Welt eine „Gestalt“ gibt. Bildung meint „den Prozess und das Ergebnis“[136]. Bildung im Sinne von Form oder Gestalt findet durch individuelles Lernen statt und wird durch Erziehung beeinflusst. Somit lässt sich Bildung als Oberbegriff bezeichnen, in dem „Lernen“ und „Erziehung“ enthalten sind. Zusammenfassend lässt sich also sagen: „In ihren Zielen und Inhalten folgt Bildung heute einem weiten, ganzheitlichen Verständnis, das Erziehung mit umfasst“[137] und sich somit im weiteren Sinne auch auf die Thesen und Konzeption beruft, die im 2. Kapitel unter der Überschrift „Freiheit und Risiko“ vorgestellt wurden.

 

Bildung als ein weites und ganzheitliches Konzept umfasst zu Beginn des 21. Jahrhunderts nicht nur eine bestimmte Form, im Sinne von Möglichkeiten der Bewältigung und Partizipation an modernen Entwicklungen, wie sie unter dem Begriff der Risikogesellschaft subsumiert werden, sondern auch eine temporäre Dimension im Sinne von lebensbegleitender Bildung. Diese lebensbegleitende Bildung bildet sich aus Lebenslangen Lernen, dessen Form sich aus zwei Begriffsdimensionen ergibt: einer bildungspolitischen und einer individuell-pädagogischen. Die bildungspolitische Dimension geht von allgemeinen Entwicklungen aus, die sich aktuell in dem Begriff der „Wissensgesellschaft“ finden lassen. Ende des 20. Jahrhunderts ergibt die Expansion wissenschaftlichen Wissens „als unmittelbare Produktivkraft eine gesellschaftliche Ressource“[138], deren Funktion mit derjenigen des Faktors Arbeit im Produktionsprozess traditioneller Industriegesellschaften vergleichbar ist.[139] Darin gründet die Entwicklung zu einer „unternehmerischen“ Wissensgesellschaft. Aus ihr resultiert ein hoher Stellenwert der Erwachsenenbildung und des Lebenslangen Lernens, insofern „den...

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