Behindert ist nach § 2 SGB IX ein Mensch, wenn seine körperlichen Funktionen, geistigen Fähigkeiten oder seine seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher seine Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Er ist von Behinderung bedroht, wenn eine solche Beeinträchtigung zu erwarten ist.
Es ist bekannt, dass der Begriff der Behinderung ein von Diversität geprägter Begriff[8] ist. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) kann deshalb keine eindeutige Definition liefern und hat die Ende der 1970er Jahre in der Internationalen Klassifikation der Schädigungen, Funktionsstörungen und Beeinträchtigungen (ICIDH) definierten drei Formen von Behinderung seit 2001 mit der ICF auf die der Schädigung reduziert. Die beiden übrigen Behinderungsformen wurden durch Teilhabe und Aktivität ersetzt.[9]
Die UN-Behindertenrechtskonvention unternimmt einen eigenen Definitionsversuch zum Begriff der Behinderung, in welchem sie darauf verweist, dass die unterschiedlichen Schädigungen in Wechselwirkung mit verschiedenen Umweltbarrieren stehen, die an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe hindern können.[10] Sie enthält daher für den Personenkreis der Menschen mit Behinderung die folgenden Grundprinzipien der Inklusion mit Blick auf die Umsetzung in gesellschaftlich relevanten Bereichen wie Freizeit, Arbeit und Schule:
Schutz der Menschenrechte und der Würde des Menschen
Ausgrenzungsverbot
Teilhabe
Diversität
Chancengleichheit
Barrierefreiheit
die Gleichberechtigung von beider Geschlechter [11]
Es wird ersichtlich, dass die geistige Behinderung von ihrer Begrifflichkeit her nicht unbedenklich ist und gegen obige Maxime der UN-BRK geradezu verstößt – zumindest innerhalb einer Gesellschaft, die, weil deren Verstand begrenzt ist[12] ebendiese Begrifflichkeit mit allerlei Klischees und Vorannahmen belastet[13],[14],[15] und damit nach wie vor Stigmatisierung und Ausgrenzung befördert.[16],[17] Die Gesellschaft braucht aber eine Begrifflichkeit für ein Phänomen, um es fassen und aufgrund ihrer sozialrechtlichen Organisation anhand von Identitätsdokumenten[18] als Fall von geistiger Behinderung einordnen zu können sowie Ansprüche zu verifizieren, die als Leistungen[19] ein menschenwürdiges, soweit als möglich eigenständiges Leben in einem beschützten Rahmen ermöglichen sollen.
Genauso gut kann sie sich aber über jegliche Begründung für einen Leistungsanspruch hinwegsetzen[20], was, wie Haisch zum Ausdruck bringt, den Konkurrenzkampf um gesellschaftliche Anerkennung eröffnet. Von geistig behinderten Menschen wird, anders als in der realitätsfernen Darstellung Platons über die gesunde Polis[21], sehr wohl von gesellschaftlicher Seite eine Gegenleistung für Teilhabe, Lebensqualität und Autonomie erwartet.[22] Auf der anderen Seite hat sich dieselbe Gesellschaft vor dem Hintergrund eines objektivierten Bedarfs, ergo auf der Grundlage eines Gesetzes, dazu entschlossen, Betroffene so anzunehmen wie sie sind – ohne jegliche Kategorisierung durch einen Begriff von reduktionistischer Qualität.[23]
Es gibt verschiedene Gesichtspunkte, wie auf das Phänomen der geistigen Behinderung geblickt werden kann. Die unterschiedlichen Disziplinen tun dies in differenzierter Weise. Die Defizitorientierung findet sich schwerpunktmäßig in der Medizin[24], weil es ihr um Ursache und Entstehung der Beeinträchtigung geht. Aber auch die Psychologie nutzt die Orientierung am Defizit zur Erstellung von Gutachten oder im Rahmen der Erstellung von Wechsler-Intelligenztests, um den IQ zu bestimmen. Ein Blick auf den ICD-10 hilft zu erkennen, dass dieses Instrument in seiner Aufmachung wie geschaffen ist, geistig behinderte Menschen – und im Übrigen auch alle anderen – auf ihre Defizite zu reduzieren. Im Vordergrund steht was nicht funktioniert, damit eine Diagnose gestellt werden kann, die wiederum zu Teilhabeleistungen berechtigt. Nicht ohne Grund besteht eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung aus mittlerweile drei Teilen. Schließlich ist der Diagnoseschlüssel gleich einem Etikett mit wertender Wirkung, weshalb ihn nicht jeder zu Gesicht bekommen soll. Darum bekommen Krankenkasse und Dienstleistungsempfänger je ein Exemplar mit Diagnose – die Krankenkasse zur Abrechnung und der Dienstleistungsempfänger, der den Arzt aufsucht, aus Gründen der Aufklärungspflicht, die der Arzt dem Patienten gegenüber hat. Der Arbeitgeber erfährt davon in der Regel erstmal nichts und erhält den Teil der AU-Bescheinigung ohne dezidierte Diagnose.
Die defizitorientierte ICD-10 definiert geistige Behinderung als einen Zustand von verzögerter und unvollständiger Entwicklung der geistigen Fähigkeiten, dessen Schweregrad anhand standardisierter Intelligenztests festgestellt wird.[25] Die uns bekannte und derzeit verwendete Begrifflichkeit der Intelligenzminderung und ihrer Einteilung in Schweregrade anhand von IQ-Werten geht zurück auf das Oligophrenie-Konzept, welches mittlerweile als Anachronismus angesehen werden kann. Das Konzept der Oligophrenie geht davon aus, dass der psychische Zustand geistiger Behinderung frühzeitig vererbt oder erworben sein muss und sich hauptsächlich in verminderter Intelligenz ausdrückt. Es bezeichnet die leichte geistige Behinderung als Debilität. Hier sind auch Personen, die in Deutschland inzwischen als „lernbehindert“ bezeichnet werden, eingeschlossen. Darüber hinaus werden vom Oligophrenie-Konzept auch imbezille (mit mittlerer Intelligenzminderung) und von Idiotie betroffene Personen (mit sehr schweren Formen der geistigen Behinderung) erfasst.[26]
Die Diagnoseschlüssel F70-F73 der an der biomedizinischen Schädigung ausgerichteten ICD-10 differenzieren mittlerweile immerhin eine leichte Intelligenzminderung, eine mittelgradige, eine schwere und eine schwerste Form der geistigen Behinderung.[27] Eine leichte Intelligenzminderung (F70) entspricht einem Intelligenzalter von 9 bis unter 12 Jahren bei einem IQ von 50-69.[28] Eine mittelgradige Intelligenzminderung (F71) entspricht einem Intelligenzalter zwischen 6 und unter 9 Jahren bei einem IQ zwischen 35-49[29], eine schwere Intelligenzminderung (F72) entspricht dem Intelligenzalter zwischen 3 und unter 6 Jahren bei einem IQ zwischen 20 und 34[30] und eine schwerste Intelligenzminderung einem Intelligenzalter von unter 3 Jahren bei einem IQ von unter 20.[31]
Der individuell messbare IQ, der über verschiedene Entwicklungsstufen hinweg eine gewisse Konstanz aufweisen kann, bedeutet jedoch nicht unbedingt eine Intelligenzminderung, die mit einer geistigen Behinderung gleichzusetzen ist. Bei drei- bis viermal so vielen intelligenzgeminderten Personen wie in der Gesamtbevölkerung liegt eine Komorbidität vor, also eine von der Grunderkrankung klar abgrenzbare, zweite Beeinträchtigung physischer oder psychischer Natur. Hinzu kommt, dass die Umwelt maßgeblich zur Intelligenzentwicklung beitragen kann, indem sie geistig beeinträchtigte Menschen sozial integriert und am kulturellen Leben in der Gesellschaft, natürlich unter der Voraussetzung, dass eine entsprechend positive Einstellung zum Thema geistige Behinderung vorliegt, teilhaben lässt.[32] Dieses Verständnis verweist bereits auf die ICF (WHO 2001), die zumindest im Moment noch mit der ICD-10 gemeinsam Anwendung finden soll[33],[34] – kann aber davon isoliert als unzureichendes Instrumentarium der Diagnostik betrachtet werden, weil sie die Entwicklungsfähigkeit eines Menschen sowie die sozialen und kulturellen Bedingungen in diesen statischen IQ-Werten, die über Intelligenztests ermittelt werden, nicht angemessen berücksichtigt.[35] Grafisch lässt sich das ICF-Modell, das zu einem neuen Verständnis von Behinderung geführt hat, wie folgt abbilden:
Abbildung 1: Bio-psycho-soziales Modell der ICF (2001). Mit freundlicher Genehmigung der WHO für die vorliegende Abschlussarbeit Bachelor of Arts Soziale Arbeit an der KSFH München: DIMDI (2005), S. 23, abrufbar unter Url: http://www.dimdi.de/static/de/klassi/icd-10-who/historie/familie.htm, abgerufen am 10.05.16, um 14.54 Uhr.
Die miteinander in Wechselwirkung stehenden Faktoren der Funktionsfähigkeit eines Menschen[36] bedürfen eines bio-psycho-sozialen Modells als Grundlage. Sie...