Teil I
Sport als Maxime
Leistungssport
Wir Menschen sind von Natur aus träge und brauchen für jede über das bloße Atmen und Verdauen hinausgehende Aktivität einen besonderen Anreiz. Lange Zeit war uns der durch die elementaren, täglich wiederkehrenden Bedürfnisse nach Wasser, Wärme, Essen und Sex vorgegeben. Warum sollten wir auch unsere Energie nutzlos verschwenden und ziellos durch die Gegend irren? Wie konnten unsere Gene ahnen, dass wir eines Tages über fließend Wasser, Zentralheizung, Pizza-Lieferservice und Breitband-Internet verfügen würden? Sonst hätten uns diese Gene selbstverständlich mit einer Verdauung ausgestattet, die überschüssige Kalorien einfach ausscheidet, sowie mit Muskeln und Knochen, die uns auch dann erhalten bleiben, wenn wir sie nicht ständig beanspruchen.
Kann sein, dass die Menschheit sich in Zukunft in die Lage versetzt, dass sie ohne ein Gramm Fett zu viel und mit Sixpack-Bauch auf der Couch vor sich hin vegetieren kann. Das ist im Prinzip nicht schwer. Man braucht bei Säugetieren nur das MSTN-Gen auszuschalten, und ganz von allein wachsen ihnen so gigantische Muskelberge, dass sie sich kaum noch richtig bewegen können. Der Rinderrasse Belgian Blue ist das durch eine natürliche Mutation widerfahren. Die Tiere machen nicht viel mehr als den lieben langen Tag Gras zu kauen und sehen aus wie bis zum Anschlag gedopte Bodybuilder.
Dennoch, Sie und ich werden eine solche Transformation aller Wahrscheinlichkeit nach nicht mehr erleben. Uns bleibt weiterhin nichts anderes übrig, als uns unentwegt anzustrengen, um einen körperlichen und geistigen Zustand aufrechtzuerhalten, der uns zufriedenstellt, im besten Fall sogar beglückt. Und um uns unentwegt anzustrengen, brauchen wir Ziele, die uns die Mühe wert sind.
Kaum jemand bekommt das so sehr zu spüren wie der Leistungssportler. Das tägliche Immer-nur-Trainieren und Bis-an-die-Grenze-Gehen kann sehr eintönig und schmerzhaft sein, schlimmstenfalls beides gleichzeitig. Es ist unwahrscheinlich genug, dass man bei einem wichtigen Wettkampf einmal siegt, und dann muss man seinen Titel auch noch verteidigen.
Die meisten, die als Kinder und Jugendliche ernsthaft einen Sport trainieren, brechen mit 16, 17 Jahren wieder ab. Und das nicht etwa, weil ihre körperlichen Anlagen nicht ausreichen. An den Punkt, dass sich das wirklich sagen ließe, kommen sie in der Regel gar nicht. Es fehlt ihnen nur die berufliche Perspektive. Fußballer einmal außen vor gelassen, müssen die meisten erfolgreichen Leistungssportler um die dreißig aus finanziellen Gründen noch mal einen neuen Beruf beginnen, während ihre Altersgenossen schon richtig Geld verdienen.
Und bei mir? Ich wurde schon von ganz klein auf an den Sport herangeführt. Mein Vater, ein Sportlehrer, hat da vielleicht seine eigenen, unrealisierten Ambitionen Richtung Spitzensport auf mich übertragen. Das war in der DDR – ich bin Jahrgang 1978 – auch nicht schwer. Ich bin in Bad Frankenhausen aufgewachsen, einem thüringischen Städtchen mit nicht mal 10.000 Einwohnern, aber auch dort gab es ein sogenanntes Trainingszentrum – eine erste Vorstufe der Kaderschmieden des DDR-Sportsystems.
Siegerego
Bereits zur Zeit meiner Einschulung bin ich dort dreimal die Woche hingegangen. Das war ein sehr vielseitiges Training in Leichtathletik und verschiedenen Mannschaftssportarten, aber Laufen war von Anfang an meine herausragende Stärke. Und beim Laufen ganz besonders die Mittelstrecken 800 und 1000 Meter, die auch große Sprintanteile haben.
Bezirksmeisterschaft im Crosslauf in Meisdorf 1988
Selbst drei bis vier Jahre ältere Kinder waren chancenlos, und bei den Bezirksmeisterschaften habe ich alles gewonnen, was es zu gewinnen gab, auch im Mehrkampf und Crosslauf. Das hat mir ein gewaltiges Ego beschert, ich habe mich praktisch für unbesiegbar gehalten. Ein-, zweimal habe ich dann doch gegen etwas ältere Läufer verloren und war erst mal etwas geknickt, aber dann hat es mich unglaublich angespornt, noch besser zu werden und die Niederlage wieder wettzumachen, und ich habe mich – auch das muss man können – bis zum Punkt völliger Erschöpfung und Übelkeit verausgabt. Mit 16 gewann ich bei den deutschen Cross-Meisterschaften, und danach begann ich so richtig ernsthaft mit dem Laufen.
Nach dem Abitur habe ich aber doch erst mal eine Banklehre angefangen, denn man kann ja nicht sein Leben lang immer nur laufen. Die Lehre habe ich aber schon nach einem knappen Monat wieder abgebrochen. Das war einfach nichts für mich. Ich habe da den ganzen Tag nur die Ablage sortiert. Beim Einstellungsgespräch hatten sie mir versichert, dass sie mir bei meinen sportlichen Terminen nicht im Weg stehen würden. Aber als ich dann für einen wichtigen Qualifikationswettkampf keine Beurlaubung bekommen habe, bin ich gegangen. Meine Eltern haben dann auch nicht weiter protestiert, sondern immer nur unterstützt. Meine Mutter ist mir manchmal sogar mit einer Tasche sauberer Wäsche ins Trainingscamp nachgereist.
Dennoch, der Abbruch meiner Banklehre war nicht nur ein Befreiungsschlag, sondern ich ging damit auch eine Wette auf meinen Erfolg als Läufer ein. Jetzt reichte es nicht mehr, der Schnellste in Thüringen oder in Deutschland zu sein. Jetzt musste ich meinen Freunden, meinem Verein und meinen Eltern beweisen, dass ich das Zeug zur Weltklasse hatte. Nur dann hatte ich als deutscher Leichtathlet eine Chance, auch vom Sport zu leben.
Meinen Zivildienst konnte ich im Olympiastützpunkt in Erfurt ableisten und mich dadurch fürs Erste ganz aufs Laufen konzentrieren. Ich musste da zwar auch mal das Klo putzen, aber wenn hartes Training anstand, haben sie einem dafür freigegeben. Und dann bin ich 1997 auch gleich Junioren-Europameister geworden. Darauf hat mir mein Verein, SV Creaton Großgottern, meinen ersten ordentlichen Vertrag angeboten. Hinzu kamen einige kleinere Sponsoren und die Sporthilfe. Das hat mir als jungem Athleten zum Leben gereicht. Und 1998 ging es dann Schlag auf Schlag: Ich wurde Europameister auf 800 Metern, erst in der Halle, dann draußen und der Vollständigkeit halber auch noch bei den Unter-23-Jährigen. Ich durfte mich »Europameister aller Klassen« nennen, und das mit gerade mal zwanzig.
Lust auf Körpereinsatz
Die 800 Meter fordern deinen ganzen Körpereinsatz, viele talentierte Läufer kommen damit nicht zurecht. Zwar startet jeder auf seiner eigenen Bahn, aber nach hundert Metern beginnt das Gerangel um die richtige Position. Wenn sich dann vor dem Schlusssprint partout keine Lücke vor einem auftut, hilft man auch schon mal mit dem Ellbogen nach. Aber das war ich vom Fußball her gewohnt, den ich bis 17 auch noch gespielt hatte, das kam mir eher entgegen. Ich liebte es, Körperkontakt aufzunehmen und hatte bald den Ruf weg, ein »800-Meter-Rambo« (Bild-Zeitung) zu sein.
Bei der Europameisterschaft (EM) in Budapest hat mich der Italiener Andrea Longo beim Versuch, mich zu überholen, auf der Zielgeraden ziemlich angerempelt. Ich habe mich dann instinktiv an dem Weltrekordhalter Wilson Kipketer festgehalten, der so halb vor mir war, und habe mich wieder nach vorne gekämpft. Von außen sah das ziemlich wüst aus, das gab einen ziemlichen Aufschrei, und die beiden sind nur Siebter und Achter geworden. Es hat sie völlig aus dem Tritt gebracht, während ich gerempelt wurde und trotzdem gewann. Kipketer legte noch Protest ein, aber da ich nicht der Auslöser war, hat die Jury meinen Sieg anerkannt. Bei der Hallen-EM in Valencia trat mir beim dritten und letzten Vorlauf ein Läufer auf halber Strecke hinten an die Ferse und zog dabei auch gleich die Fersenkappe meines Schuhs mit herunter. Beim nächsten Schritt flog er mir ganz vom Fuß. Ich bin dann aber, statt abzubrechen und auf eine Wiederholung des Vorlaufs zu spekulieren, die letzten 400 Meter an einem Fuß nur mit einer immer weiter nach vorn rutschenden Socke gelaufen – und habe mich trotzdem fürs Finale qualifiziert.
Zum Abschluss des Jahres gewann ich auch noch den Worldcup in Johannesburg. Die Siegerprämie betrug 50.000 US-Dollar, was für mich jungen Burschen sehr viel Geld war, und davon habe ich mir sofort einen Audi S4 gekauft. Kurz darauf auch noch eine Yamaha V-Max. Ich habe damals für ein paar Mark in einem Wohnheim gewohnt und hatte kaum laufende Kosten. Mir dann gleich die Belohnung zu gönnen – das war schön.
Aber wenn einem nach Belohnung ist, dann ist das immer ein Warnzeichen, dass die Motivation zu bröckeln beginnt. So war es auch bei mir. Ich wurde nachlässiger, war zu oft mit meinen Kumpels abends unterwegs, war unkonzentriert. Und prompt kam der Rückschlag. Bei der Weltmeisterschaft (WM) 1999 in Sevilla schaffte ich es zwar noch ins Finale, aber wurde nur Achter.
Wie sollte es nun weitergehen? In Sevilla war ich zwei Sekunden über meiner Bestzeit gelaufen, aber selbst mit der – 1 Minute 44 Sekunden und 89 Hundertstel – hätte es nur zum vierten Platz gereicht. Der Weltrekord des WM-Siegers Wilson Kipketer lag dagegen bei 1:41:11. Bei meinen EM-Siegen 1998 war der Däne durch eine Malaria-Infektion geschwächt gewesen, und zu seiner Topform sollte er danach nie mehr zurückkehren, aber für 1:43 war er immer noch gut. Und es gab ein paar weitere Läufer, deren Bestzeit ein bis zwei Sekunden besser war als meine. Es war nicht mal mehr ein Jahr bis zu den Olympischen Spielen in Sydney und auch dort konnte ich bestenfalls froh sein, in die Endrunde zu kommen. Das war nicht die Art von Erfolg, die mir vorschwebte.
Der Harald-Schmidt-Effekt
Leichtfertig hatte ich noch vor der WM in Sevilla die...