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Legasthenie. Der Stellenwert der Sozialpädagogik im Konflikt zwischen Familie und Schule

Der Stellenwert der Sozialpädagogik im Konflikt zwischen Familie und Schule

AutorChristin Remmers
VerlagGRIN Verlag
Erscheinungsjahr2006
Seitenanzahl103 Seiten
ISBN9783638544412
FormatePUB/PDF
Kopierschutzkein Kopierschutz/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis24,99 EUR
Diplomarbeit aus dem Jahr 2006 im Fachbereich Soziale Arbeit / Sozialarbeit, Note: 2,0, Universität Vechta; früher Hochschule Vechta (Institut für Erziehungswissenschaft), 44 Quellen im Literaturverzeichnis, Sprache: Deutsch, Abstract: Legasthenie / Lese-Rechtschreib-Schwäche...! Wo immer diese Begriffe auftauchen, entsteht Ratlosigkeit, Hilflosigkeit und eine Fülle von Vorurteilen gegenüber dem betroffenen Kind und seiner Familie. Stigmatisierung, psychische und physische Folgen gehören ebenso zu den vielfältigen Nebeneffekten, die mit dieser Thematik einhergehen. Der Gegenstand dieser Diplomarbeit im Studiengang Erziehungswissenschaft ist aus persönlicher Erfahrung im Umgang mit dem Phänomen Legasthenie entstanden und letztendlich aus den daraus resultierenden Fragen: Was genau ist Legasthenie? Wann wird sie zum Problem? Wie gehe ich als Sozialpädagoge mit diesem Thema um? Kann die Sozialpädagogik professionelle Hilfe leisten, ohne über Fachkompetenzen zu diesem Thema zu verfügen? Der erste Teil dieser Arbeit beschäftigt sich mit dem Begriff der Legasthenie. Ein geschichtlicher Überblick soll erklären, warum es auch heute noch viele kontroverse Meinungen zu diesem Thema gibt. Zur aktuellen Behandlung der Thematik in den verschiedenen Bundesländern gibt es rechtliche Grundlagen zur Förderung betroffener Kinder und Familien. Diese werden kurz dargestellt. Im zweiten Teil dieser Arbeit wird auf theoretische Erklärungsansätze zurückgegriffen. Mit Hilfe der Theorien von Talcott Parsons, Jürgen Habermas und Niklas Luhmann wird herausgestellt, für wen Legasthenie ein Problem darstellt und wie es strukturiert ist. Anhand von allgemeinen Sozialisationstheorien sollen die Aufgaben der Schule und der Familie aufgezeigt werden. Beim Vergleich dieser beiden Instanzen lässt sich schnell feststellen, dass es aufgrund von unterschiedlichen Erwartungen und Aufgaben mit dem Auftreten von Legasthenie zu Konflikten kommt. Der dritte Teil stellt fest, dass das Thema Legasthenie ein Handlungsfeld der Sozialpädagogik ist. Dieser Aufgabenbereich lässt sich aus ihrer Profession heraus ableiten. Der vierte Teil beschäftigt sich mit den Diagnose- und Testverfahren, die angewandt werden, um eine Legasthenie festzustellen. Ziel dieser Überlegungen ist es, die Grenzen der Sozialpädagogik aufzuzeigen und möglicherweise Aufschluss darüber zu geben, wie sich der professionelle Sozialpädagoge trotz fehlender Fachkenntnisse für Familien und betroffene Kinder einsetzen kann, um daraus sozialpädagogische Handlungsmöglichkeiten abzuleiten. Die Interventionsvorschläge werden im fünften Teil dargestellt. Hier wird die zentrale Fragestellung dieser Diplomarbeit behandelt und schließlich auch beantwortet.

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Teil II: Theoretische Erklärungsansätze


 

In diesem Teil werden drei Theorien vorgestellt: die strukturfunktionale Theorie von Talcott Parsons, die Theorie des kommunikativen Handelns von Jürgen Habermas und die Systemtheorie von Niklas Luhmann. Anhand dieser Ausführungen soll aufgezeigt werden, was Legasthenie für ein Problem darstellt und wie es sich äußert. Nachdem im ersten Teil geklärt wurde, warum das betroffene Kind sehr unter einer Legasthenie zu leiden hat, werden nun Gründe erforscht, warum sie auch für Familie und Schule so schwierig ist, und wie im Rahmen des Problems ein Konflikt zwischen diesen beiden Instanzen entsteht. Um diesen zu verdeutlichen, werden allgemeine Sozialisationstheorien hinzugezogen, um die Aufgaben der Schule und der Familie kurz aufzuzeigen und mit den theoretischen Darlegungen in Verbindung zu  bringen.

 

1. Die strukturfunktionale Theorie nach Parsons


 

Talcott Parsons (1902 – 1979) war ein amerikanischer Soziologe, der durch seine strukturfunktionalistische Theorie maßgeblich die ‚soziologische Schule’ beeinflusste. Sie umfasst ein bestimmtes Gesellschaftsbild, das aus Systemen, Strukturen und Rollen besteht. Parsons befasst sich mit dem Begriff des Lernens und dem der Sozialisation, diese Punkte werden im Folgenden erläutert.[33]

 

1.1 Systeme, Rollen und Strukturen der Gesellschaft


 

Parsons versteht die Gesellschaft als ein komplexes Gesamtsystem, das sich von seiner Umwelt abgrenzt und bestimmte Strukturen entwickelt. Diese erfüllen spezifische Funktionen zur Erhaltung des Systems. In Auseinandersetzung mit seiner natürlichen Umwelt und anderen Gesellschaftssystemen sucht jedes System nach Selbsterhaltung und strebt sie an. Weiterhin unterteilt Parsons eine Gesellschaft in Teilsysteme mit bestimmten Funktionen (politisches, ökonomisches, soziales System usw.). Sie sind aufeinander bezogen und wirken (möglichst konfliktfrei) zusammen, um die Stabilität des Gesamtsystems zu gewährleisten. Teilsysteme erschaffen Institutionen mit festen Regeln, um ihre Funktion zu gewährleisten. In den Institutionen handeln Menschen (Individuen), die ihre eigenen Interessen, Wünsche und Bedürfnisse in das Teilsystem einbringen. Für die Stabilität des Gesamtsystems ist es wichtig, dass die Regeln der Institutionen nicht gegenüber den individuellen Wünschen konkurrieren. Dieses Problem erklärt Parsons anhand seiner Handlungs- und Systemtheorie. Die Handlungstheorie besagt, dass Menschen durch ihr Handeln körperlichen Schmerz und negative Sanktionen vermeiden wollen. Soziales Handeln ist also von außen gesteuert. Zusätzlich müssen Individuen die Werte ihres (Teil-)Systems verinnerlichen, was ihre natürlichen Bedürfnisse begrenzt. Systemkonformes Verhalten wird als befriedigend empfunden und steuert von da an das Handeln. Die Systemtheorie besagt, dass dominante Wertorientierungen einer Gesellschaft (Kultur) die Ausgestaltung der Teilsysteme und Institutionen beeinflussen und steuern. Die bestehenden Regeln sind also immer das Spiegelbild der jeweiligen kulturellen Werte einer Gesellschaft. Für die Handelnden gelten diese als Orientierungsmuster, die bestimmte Rollenerwartungen implizieren. Soziale Systeme entstehen, wo Menschen miteinander in Interaktion treten. Diese haben eine so genannte soziale Struktur, die durch das Vorhandensein relativ stabiler Beziehungsmuster zwischen Individuen entsteht. Die Rolle ist das erste ordnende Element der sozialen Struktur. Sie beinhaltet normative Erwartungen anderer Personen. Parsons hat dazu ein Interaktionsmodell entworfen: Wenn zwei oder mehr Personen miteinander in Zusammenhang interagieren, sind sie Positionsinhaber (Lehrer–Schüler, Eltern–Kind, usw.). Ihr Handeln richtet sich entsprechend nach den Rollen und den sozialen Erwartungen, die an diese gestellt werden. Eine Befolgung der Erwartungen hat in der Regel Belohnung zur Folge. Werden die Erwartungen enttäuscht, so folgen Sanktionen. Das Handeln geschieht nach diesem Modell in Übereinstimmung mit den eigenen Bedürfnissen und entspricht den Erwartungen des Sozialen Systems. Abweichungen gelten als dysfunktional und gefährden die Stabilität des gesamten Systems.[34]

 

1.2 Lernen als Internalisierungsprozess


 

Wie aber werden die umschriebenen Rollenerwartungen und Werte des jeweiligen Teilsystems mit seiner sozialen Struktur verinnerlicht? Um das zu erklären, beruft sich Parsons auf die behavioristische Lerntheorie von Skinner. Lernen wird definiert als Verhaltensänderung aufgrund der positiven und negativen Reaktionen der Umwelt auf ein zuvor gezeigtes Verhalten. Die Übernahme von Rollenerwartungen geschieht dieser Ansicht nach als Reaktion auf Sanktionen (soziale Kontrolle). Parsons bezieht weiter die psychosexuelle Entwicklungstheorie von Sigmund Freud mit ein. Demnach durchläuft das Kind bis hin zum Erwachsenenalter verschiedene Entwicklungsstadien, wobei in jeder Phase eine bestimmte Ausprägung des psychischen Apparates stattfindet. Der Prozess der Reifung steht dabei immer unter den Faktoren von Lustgewinn und Selbsterhaltung. Die Triebenergie (Libido) ist sowohl auf den eigenen Körper wie auch auf soziale Bezugspersonen ausgerichtet, die Lust gewähren (positive Verstärkung, Belohnung) oder versagen können (negative Verstärkung, Bestrafung). Mit der Ausbildung des ‚Ich’ (Verinnerlichung und Akzeptanz der Werte und Normen des Systems) kann ein Kind zunehmend sein ‚Es’ (seine Bedürfnisse und Triebe) an die Anforderungen der Realität anpassen und aufeinander abstimmen. Mutter und Vater werden somit zum Objekt des Lernens und haben durch positive und negative Verstärkung die Möglichkeit, den Lernprozess des Kindes zu beeinflussen. Das Kind identifiziert sich mit seinen Bezugspersonen und lässt einen solchen Einfluss zu. Parsons nimmt an, dass auf jeder Entwicklungsstufe das Repertoire von Rollenmustern auf spezifische Weise erweitert wird. Die Familie soll die unterschiedlichen Geschlechtsrollen vermitteln (damit sind die verschiedenen Ausprägungen der Mutter- und Vaterrolle gemeint). In der Schule soll seiner Meinung nach das ‚Über-Ich’ (das Gewissen) ausgebildet werden. Zusätzlich soll hier die Generationenrolle internalisiert werden (Differenz zwischen machtvollen Erwachsenen und abhängigen Heranwachsenden). Das Kind soll die ihm zugewiesene Rolle akzeptieren.

 

Rollenerwartungen müssen also gelernt und dann verinnerlicht werden. Ein erfolgreiches, den Rollen entsprechendes Handeln ist aber nicht ohne eine gelungene Sozialisation möglich.[35]

 

1.3 Sozialisation


 

Der Heranwachsende soll durch den Sozialisationsprozess zum Handeln in Rollen befähigt werden. Sozialisation bedeutet, dass das Individuum die Wertorientierungen des Teilsystems verinnerlicht und als Orientierungs-muster für sich anerkennt. Parsons unterscheidet verschiedene Grundmuster des Rollenhandelns, die so genannten ‚pattern variables’. Es gibt partikularistische (persönlich, wenig klar definiert und gefühlsbetont) und universalistische Werte (unpersönlich, klar definiert und formal). Diese müssen durch Sozialisation verinnerlicht und der Umgang mit ihnen erlernt werden. In modernen Gesellschaften spielen universalistische Rollenerwartungen eine immer größere Rolle. Mit dieser Tatsache geht das Problem einher, dass die Familie mit ihren partikularistischen Rollenerwartungen ihre Sozialisationsfunktion immer weniger ohne Unterstützung erbringen kann. Dem gegenüber stehen die universalistischen Erwartungen des Systems Schule, das eine Ergänzung zur Institution Familie bilden soll. Familie und Schule sind die wichtigsten Sozialisationsinstanzen. Sozialisation soll dem Kind dazu verhelfen, universalistische Wertorientierungen zu verinnerlichen. Diese geben ihm eine gute Basis für ein erfolgreiches Handeln in öffentlichen und beruflichen Rollen. Ziel des Sozialisationsprozesses ist das Entwickeln einer Basispersönlichkeit, die sowohl partikularistische wie auch universalistische Wertorientierungen internalisiert hat und auf neue Situationen anwenden kann.[36]

 

Das Konzept der ‚pattern variables’ mit den fünf grundlegenden Wertorien-tierungen wird in folgender Abbildung detailliert dargestellt:

 

 

Abbildung 3 (in Eigenarbeit): Partikularistische und universalistische Wertorientierungen. Die Inhalte sind aus Baumgart, F. (2000): S. 93 ff. entnommen.

 

2. Die Theorie des kommunikativen Handelns nach Habermas


 

Jürgen Habermas wurde im Jahre 1929 geboren, und ist Professor für Philosophie und Soziologie. Er leitete das Max-Planck-Institut zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt in Starnberg. Zu seinen Werken gehören neben vielen anderen Arbeiten zum Strukturwandel der Öffentlichkeit die ‚Theorie des kommunikativen Handelns’ aus dem Jahre 1981. Habermas versuchte Theorietraditionen für eine Analyse und Beschreibung moderner Gesellschaften nutzbar zu machen und steht in der Tradition der Frankfurter Schule, deren Arbeit auf eine kritische Theorie der bürgerlichen Gesellschaft abzielte. Im Folgenden werden die Elemente seiner Theorie näher erläutert. Sein Gesellschaftsbild sieht dabei ebenso aus wie das von Parsons. Eine Gesamtgesellschaft ist aufgeteilt in...

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