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Legasthenie und andere Wahrnehmungsstörungen

Wie Eltern und Lehrer Risiken frühzeitig erkennen und helfen können

AutorMechthild Firnhaber
VerlagS. Fischer Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl319 Seiten
ISBN9783105600924
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis7,99 EUR
Mechthild Firnhabers langjähriger Bestseller zum Thema Legasthenie vermittelt Hoffnung, macht Mut und befreit Eltern von Schuldgefühlen. Der Bericht einer Mutter, die ihre Kinder vor der Sonderschule und einer überlebensfeindlichen Situation bewahren konnte, enthält neben Hilfen für Eltern, Pädagogen und Therapeuten auch wissenschaftliche Forschungsergebnisse mit dem Schwerpunkt Früherkennung und sprachliche Entwicklung. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

Mechthild Firnhaber, geboren 1936, übernahm 1971 die Therapie ihrer beiden von der Legasthenie besonders schwer betroffenen Kinder, weil sie damals keine andere Möglichkeit sah, ihnen wirksam helfen zu können. Sie gründete in Hessen den Landesverband Legasthenie und eine große Anzahl von ehrenamtlich arbeitenden Elternselbsthilfegruppen. Sie veranstaltete länderübergreifende interdisziplinäre Kongresse und wissenschaftliche Symposien. 1989 erhielt sie den Ehrenbrief des Landes Hessen, im März 2000 die bronzene Verdienstplakette der Stadt Darmstadt und im Mai 2004 für ihre ehrenamtliche Arbeit vom Bundesverband Legasthenie und Dyskalkulie die Lotte-Schenk-Danzinger-Medaille.

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Leseprobe

Einführung
Die Leiden des jungen D. oder: Ein Drama in unzähligen Akten mit unerwartet gutem Ausgang


(geschrieben 1983)

Das Foto vom September 1971 zeigt zwei fröhliche Jungen, die Schultüte im Arm. Der Klassenlehrer – das Pensionsalter bereits überschritten – versichert den Eltern, dass ihre Kinder in Kürze alle Straßenschilder lesen könnten. Zu Weihnachten könne man ihnen dann Bücher schenken. Er lehrt die alte Buchstabenmethode, Beginn mit Blockschrift.

Als die Klassenkameraden bereits Straßenschilder lesen, manche auch schon Zeitungsüberschriften, sitzt die Mutter der oben genannten Jungen auf dem Sofa, die Fibel auf dem Schoß. Rechts und links die Söhne, gar nicht mehr strahlend. Sie üben den Buchstaben »H«, aber sie lernen ihn nicht. Der Vorname ihrer Lieblingstante fängt mit H an. Die Mutter versucht es damit. Nichts geht. »Aber Mami, wir geben uns doch solche Mühe, wirklich!« Täglich dasselbe, täglich Verzweiflung. Oft genug endet der Leseversuch mit Tränen – nicht nur bei den Söhnen. Die Eltern sind ratlos. Für so unbegabt hatten sie die Kinder nicht gehalten.

Weihnachten gibt es nur bei ihnen keine Bücher, dafür bittet der Lehrer die Mutter nach den Ferien in die Schule. »Es ist doch wohl klar, dass Ihr Sohn in eine Sonderschule überwiesen werden muss.« Da ihr dies gar nicht klar ist, darf sie eine Schulstunde aus dem Hintergrund miterleben. Die Mutter wusste von Kreidestücken des Lehrers, die dem unaufmerksamen D. an den Kopf geflogen waren, wusste, dass er vor Schreck geweint hatte, wusste, dass dieser Pädagoge D.’s Heft der Klasse zeigte mit den Worten: »Seht mal her, wie D. das Wort ›Kamel‹ geschrieben hat!« Johlender Beifall war dem Lehrer sicher. Was sie an diesem Tag sieht, trifft sie wie ein Keulenschlag. Der sonst so redegewandte, lebhafte, fröhliche D. sitzt mit tief gesenktem Kopf, schaut die ganze Stunde kein einziges Mal umher, sagt nichts. Der ältere Sohn sitzt zwar aufmerksam da, sagt aber ebenfalls nichts.

Die Söhne werden dem Leiter der kinderpsychiatrischen Klinik in G. vorgestellt. Dort verfügte man schon damals über mehrjährige Erfahrung mit legasthenen Kindern. Diagnose beim älteren Jungen: gerade noch messbare Schwerstlegasthenie. Diagnose beim jüngeren (D.): nicht mehr messbare Schwerstlegasthenie! Da D.’s Lehrer weiterhin die Sonderschule bevorzugt, Antrag auf zeitweise Befreiung vom öffentlichen Schulbesuch. Die niedersächsischen Behörden erteilen die Erlaubnis. Noch vor Ende des 1. Schuljahres versucht eine angehende Sonderschulpädagogin, D. Lesen und Schreiben beizubringen. Die Mutter selber versucht es weiter mit dem ältesten Sohn W.

Beide Lehrenden besitzen keine Erfahrung auf dem Gebiet der Legasthenie, aber lesen fleißig Literatur darüber, verschaffen sich Material. Sie begehen sicher viele Fehler, aber es scheint, als ob D. kleinste Fortschritte macht. Ende des Jahres Umzug nach Hessen, stufenweise Wiedereinschulung ins 2. Schuljahr. Mühsam und schon fast erschöpft, versuchen Mutter und Sohn den geforderten Zielen nachzujagen – ohne sichtbaren Erfolg. Legasthenie-Unterricht privat bei einer Lehrerin, die ihm so viel Angst einjagt, dass D. am Abend vor dem Unterricht nicht einschlafen kann, am Morgen Bauchschmerzen hat.

 

Inzwischen Gründung des Bundesverbandes Legasthenie. Die Eltern sind unter den ersten Mitgliedern. Die Mutter erhält hilfreichen Rat, besucht alle Tagungen und später Kongresse, sucht Kontakt mit erfahrenen Legasthenie-Therapeuten, liest alles, was es über Legasthenie gibt, und entschließt sich schweren Herzens, D. vom 3. Schuljahr an selbst zu behandeln. Im Dorf, in dem die Familie lebt, findet sich keine andere Lehrkraft, weite Fahrten in die Stadt würden D. überfordern. D. kann zu diesem Zeitpunkt noch nicht lesen, ganz zu schweigen vom Schreiben. Sein Klassenlehrer in der 3. und 4. Klasse ist überzeugt, dass die einzig mögliche Schulform für D. die Sonderschule sei. Legasthenie hält er für eine dumme Erfindung. Die mehrfach in der Universitätsklinik in G. angefertigten Intelligenztests, die D. immerhin eine recht hohe Intelligenz bescheinigen, erklärt er alle für einen Irrtum. Dieser Herr wirft mit dem Schlüsselbund. Die Schulleiterin erklärt täglich: »D. braucht nichts zu sagen, er weiß ja doch nichts«, seine Meldungen übersieht sie schlichtweg. Die Klasse findet bald heraus, dass es D. tief trifft, wenn man ihn »Professor der Doofheit« nennt oder »D., der Doofe« im Dorf hinter ihm hergrölt. Um nicht noch mehr Sympathie zu verlieren, wehrt sich D. nicht, wenn man ihm Schreibzeug und Schulfrühstück wegnimmt. »Es hat keinen Sinn, Mami, wenn ich mich wehre, wird alles nur noch schlimmer.« Wenn er mit Nachbarskindern spielen will, schicken die Eltern ihn fort mit der Bemerkung: »Du brauchst gar nicht erst zu kommen. Du bist ja dümmer als alle Kinder dieser Straße.«

D. versucht, sich die Liebe der Klassenkameraden zu erkaufen. Sein gesamtes Taschengeld setzt er in Eis und Süßigkeiten um für andere. Sie werfen ihm das Eis vor die Füße und johlen. Er beginnt, seine liebsten Spielsachen zu verschenken. Ehe die Mutter einschreiten muss, hat D. mit acht Jahren es selbst begriffen: Freunde kann man sich nicht kaufen. Dies war das erste Gespräch am Abend, eines von unzähligen, bis in die Nacht, die Mutter auf seinem Bettrand, der Sohn verzweifelt schluchzend in ihren Armen. »Warum? Was habe ich getan? Warum bin ich dümmer als die anderen? Was soll ich tun?«

Mitte des 4. Schuljahres kann D. mehrere Monate die Schule nicht besuchen, da Augenoperationen notwendig geworden sind. Der Plan der Eltern: Herausnahme aus der 4. Klasse, freiwillige Wiederholung, diese aber nicht am Ort, um ihn vor weiteren Diskriminierungen zu schützen, außerdem zunächst ein halbes Jahr zu Hause in Ruhe Legastheniebehandlung. Der Schulrat steht diesem Ansinnen fassungslos gegenüber, total überfordert. Der Oberschulrat im Regierungspräsidium wälzt Paragraphen. Für humane Entscheidungen ist er nicht zuständig, ablehnender Bescheid. Als er im Verlauf des Gespräches erfährt, dass die Eltern sogar den Plan haben, D. später auf ein Gymnasium zu schicken, schlägt er mit der Faust auf den Tisch und sagt: »Sie werden an mich und an diesen Tag noch denken: Dieses Kind gehört nicht in ein Gymnasium.« Nun, sie denken an ihn, noch oft, aber nicht so, wie er es sich gedacht hatte!

Der nächste Schritt: Vorsprache im Kultusministerium. Man ist sehr verständnisvoll, bemüht zu helfen, aber leider – der Behördenweg muss eingehalten werden. Die Gutachten der Universitätsklinik in G. können nicht anerkannt werden – sehr bedauerlich. Der Behördenweg ist möglich, aber fast ein Jahr könne es dauern, bis alles geregelt sei.

Ein Jahr so weitermachen, dann ist das Kind am Ende. Deprimiert fahren die Eltern heim.

Am nächsten Tag – ganz ohne Hoffnung – letzter Versuch zur Rettung von D. Anruf beim Schulrat des Nachbarkreises, in den D. jetzt eingeschult werden soll. Das Wunder geschieht: Eine unbürokratische, schnelle, menschliche Entscheidung wird getroffen. Der Schulrat, der Legasthenikerleid vom Nachhilfeunterricht, den seine Frau gibt, sehr genau kennt, erlaubt den halbjährigen Aufenthalt von D. zu Hause, einzige Bedingung: einmal wöchentlich Unterricht bei einem Deutschlehrer. Diesem Schulrat genügten die Gutachten aus G. Er glaubte ihnen, brauchte keinen Obergutachter. Auch die Einschulung danach im Nachbarkreis für die zweite Hälfte des vierten Schuljahres wurde von ihm geregelt. Dieser Schulrat bekommt jedes Jahr einen Anruf von der Mutter: Bericht über die weiteren Fortschritte von D., dem er in einer verzweiflungsvollen Phase seines Lebens entscheidend geholfen hat.

Das halbe Jahr zu Hause bezeichnet D. noch heute als die schönste Zeit seines Lebens. In Ruhe und nach festem Plan üben Mutter und Sohn Lesen und Schreiben, tun alles, was Legastheniker gern tun: Schreibmaschine schreiben, die Arbeit mit dem Kassettenrecorder, Spiele spielen und auch das, was sich die Mutter so ausdenkt an Übungen. Für jede Stunde, die sie ihm gibt, muss sie sich selbst eine Stunde vorbereiten. Sie ist ja keine Lehrerin, aber beiden – dem Sohn und der Mutter – macht das alles großen Spaß. Die vielen Hobbys, die er hat, darf er alle ausüben: Volkstanz mit angeschlossenem Entspannungstraining, Malen, Basteln, Modellieren bei einer großzügigen, jungen Kunstlehrerin, Jagdhorn blasen und Singen als einziges, umsorgtes Kind in einem kleinen Kirchenchor. Das Voltigieren gibt er bald wieder auf, denn da wird nur Leistungssport getrieben, nie ein Lob, immer nur Kritik, noch einmal, noch besser machen! Davon hatte er in der Schule genug, das wollte er nicht. Das halbe Jahr ist nicht nur für Gemüt und Seele D.’s ein voller Erfolg. Ein messbar traumhafter Erfolg zeigt sich auch im erneut durchgeführten Lese-Rechtschreibtest.

Wiedereinschulung im Nachbarort. Die ältere, mütterlichwarmherzige Lehrerin braucht keine Woche, um zu erkennen, dass bei D. keine angeborene Dummheit vorliegt. Sie setzt ihn zu den fünf Kindern (von 40!), die sie speziell fürs Gymnasium fördert! Eine Atempause für Mutter und Sohn, selbst im Rechnen gelingen gute Zensuren, obwohl D. auch eine sehr schwere Rechenschwäche hat.

Hinter den Eltern liegt inzwischen schon die Suche nach einem geeigneten Gymnasium für Legasthenie-Kinder. Die Gespräche mit den Direktoren der Oberschulen verlaufen alle gleich. »Rücksicht auf Legastheniker? Nein, tut mir Leid, ist völlig ausgeschlossen.« Nur eine einzige Direktorin hatte –...

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