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Legasthenie/LRS - Eine Spurensuche mit Perspektivwechsel

Eine Spurensuche mit Perspektivwechsel

AutorKerstin Hanert-Möller
VerlagGRIN Verlag
Erscheinungsjahr2006
Seitenanzahl92 Seiten
ISBN9783638576666
FormatePUB/PDF
Kopierschutzkein Kopierschutz/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis27,99 EUR
Magisterarbeit aus dem Jahr 2006 im Fachbereich Pädagogik - Heilpädagogik, Sonderpädagogik, Note: 1,8, FernUniversität Hagen, 136 Quellen im Literaturverzeichnis, Sprache: Deutsch, Abstract: 'Zum Beispiel war da das Lesenlernen, als ich in die erste Klasse der Volksschule ging. Das Lesen zu lernen war eine Übungsaufgabe für zu Hause und stellte sich unerreichbar und quer in die versonnten Nachmittage. Dafür gab es eine Fibel. Ich starrte auf die Buchstaben, die mit Namen zu nennen mir ein Leichtes war, und versuchte, in ihrer Aneinanderreihung einen sprech- und verstehbaren Sinn zu finden. Es gelang nicht. Die Zeichen wollten jedes für sich bleiben, zwei Buchstaben aneinander ergab nichts und schon gar nicht drei oder noch mehr. Verzweifelt hockte ich stundenlang, wie es mir schien, vor den Bögen und Strichen - es half nichts, dass sie groß und farbig waren. 'Sie ist doch sonst nicht dumm', sagte meine Mutter zu meiner Tante, die extra angereist war, mir zu helfen, 'sie ist einfach verbockt.' Das Wort verbockt umfasste eine unbestimmbar große Menge an Ereignissen, wo ich nichts gelernt hatte, was so als Verweigerung benannt wurde. Ich bekam Stubenarrest, während meine Geschwister spielen durften. Meine Tante las mir die Worte vor, aber ich vergaß sie wieder und vergaß vor allem das Zueinander von bestimmten Zeichen und Wort. Ich wollte raus und spielen. Es war ungerecht, mir dieses sinnlose Zeug abzuverlangen, das ich einfach nicht lernen konnte. 'Andere nehmen das Buch mit unter das Kopfkissen in der Nacht', verriet eine Nachbarin, 'am Morgen wachen sie auf und können lesen.' Ich wusste sogleich, dass die Nachbarin unerlaubt abergläubisch sein musste, und versuchte es nicht. Irgendwann müssen sich die Buchstaben zu Wörtern gefügt und dieser Vorgang sich sinnvoll in eine mögliche, gern geübte Tätigkeit verwandelt haben. Es käme jetzt, in einer Studie über Lernen, darauf an, dies festzuhalten. Aber ich erinnere diesen Lernschub nicht, sondern nur und ausschließlich die Zeit des Versagens.' (Haug 2003 S. 13 f.) So ähnlich wie Frigga Haug könnten sich einige an ihre Schulzeit erinnern. Auch ich denke mit Unbehagen an das Lesen- und Schreibenlernen zurück. Während sich mein Lesen durch stetes Üben verbesserte, blieben meine Rechtschreibleistungen unter der Norm. In der 6. Klasse wurden Tests durchgeführt, mit dem Ergebnis, dass ich auf dem Gymnasium bleiben durfte und zwei Jahre intensiv gefördert wurde. Dies alles hatte ich erfolgreich verdrängt, bis meine älteste Tochter zur Schule kam. Die Lehrerin sprach mich an und meinte, dass meine Tochter 'Legasthenikerin' wäre und getestet werden soll.

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Leseprobe

4 Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten aus pädagogischer Sicht


 

Diese sozio-kulturellen Faktoren fließen mit in den pädagogischen Ansatz mit ein. Im Blickpunkt steht die kindliche Entwicklung auf dem Weg zur Schriftsprache.

 

4.1 Schriftspracherwerb


 

Das Lesen- und Schreibenerlernen ist Aufgabe der Schule. Doch schon vor der Einschulung erlernen Kinder Fähigkeiten und Fertigkeiten die zum Gelingen des Erlernens von Lesen und Schreiben notwendig sind. Die Startpositionen sind keineswegs für alle gleich. Zu Beginn der ersten Klasse befinden sich einige Kinder, die schon zu lesen und zu schreiben begonnen haben, andere kennen einzelne Buchstaben und wiederum andere können noch nicht ihren eigenen Namen schreiben.

 

4.1.1 Vorläuferfertigkeiten zum Schriftspracherwerb


 

Die wichtigste Einflussgröße in der vorschulischen Entwicklung ist die Familie.

 

Hurrelmann, Hammer und Nieß (1993) kommen in ihrer Einordnung der Ergebnisse von Forschungszusammenhängen in der Lesesozialisation zu der Feststellung, „daß die Leseentwicklung eines Kindes lange vor dem Zeitpunkt einsetzt, wo es selbständig Schriftliches zu entziffern vermag.“ (ebd. S. 65)

 

Die Sprachentwicklung ist eine wichtige Voraussetzung und eine Vorstufe für die Lese- und Schreibentwicklung. „Wortkenntnis, Grammatik und Satzbau werden ihm ebenso nach und nach vertraut wie das Wissen um die Symbol- und Kommunikationsfunktion von Sprache.“ (Becker 2003 S. 63) In der Familie kann Sprache mit der Schriftsprache durch das Vorlesen und das gemeinsame Sprechen über das Vorgelesene miteinander verknüpft werden. Ebenfalls von Bedeutung sind mündliche Übungen mit der Sprache, „wie Kinderreime, -gedichte, -lieder und Geschichten, außerdem Rollenspiele, Sprachspiele etc., also alle Formen, die die sprachliche Kreativität von Kindern unterstützen und zugleich das Sprachbewußtsein fördern.“ (Hurrelmann u.a. 1993 S. 65)

 

Diese Erkenntnisse fließen auch in das Konzept der phonologischen Bewusstheit mit ein, das verstärkt im Mikrosystem Kindergarten bzw. Vorschule Einzug hält. „Unter phonologischer Bewusstheit versteht man den Einblick in die Lautstruktur der gesprochenen Sprache“ (Küspert 2003 S. 83) „Hier geht es nicht um die Bedeutung eines Wortes, sondern allein um die formale Struktur, den Klang, den lautlichen Aufbau eines Wortes.“ (ebd. S. 85. Hervorhebung im Original) Die Unterscheidung soll folgendes Beispiel verdeutlichen: Welches Wort ist länger, klitzeklein oder groß? Von der Bedeutung ist groß mehr als klitzeklein, aber von der Laut- und Silbenanzahl, der formalen Struktur, ist klitzeklein mehr als groß. (vgl. Bosch 1961 S. 69 f. nach Dummer-Smoch & Hackethal 1999a S. 55) Kinder müssen lernen, die gesprochene Sprache in Einheiten zu gliedern. Sätze bestehen aus einzelnen Wörtern, Wörter aus Silben und diese aus einzelnen Lauten.

 

Um Probleme frühzeitig zu erkennen, können verschiedene diagnostische Instrumente eingesetzt werden. Zur Überprüfung der Phonologischen Bewusstheit kann das Bielefelder Screening zur Früherkennung von Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten (BISC) von Jansen, Mannhaupt, Marx & Skowronek (1999) angewendet werden. Zwei Erhebungszeitpunkte werden empfohlen, zehn und vier Monate vor der Einschulung. Überprüft werden die Phonologische Bewusstheit, Aufmerksamkeits- und Gedächnisaspekte. Laut Testzentrale weist der BISC eine hohe Zuverlässigkeit und eine „durchgängig moderate bis hohe Korrelationen mit den Leistungskriterien im ersten und zweiten Schuljahr auf.“ (Testzentrale 2005) Risikokinder können so rechtzeitig erkannt und gefördert werden.

 

Küspert & Schneider (1999) entwarfen ein Trainingsprogramm zur Förderung der Phonologischen Bewusstheit (Hören, lauschen, lernen) und Plume & Schneider (2004) das Buchstaben-Laut-Training „Hören, lauschen, lernen 2“. In einer Studie mit „Risikokindern“, die über das Testverfahren „Bielefelder Screening“ ermittelt wurden, konnte gezeigt werden, dass eine Kombination beider Trainingsprogramme am effektivsten war. (vgl. Schneider & Küspert 2003 S. 112 ff.) Die Förderprogramme wurden von darauf geschulten Erzieherinnen in den Kindergärten über einen Zeitraum von 20 Wochen mit täglichen Übungen von 15 – 20 Minuten durchgeführt. Das kombinierte Trainingsprogramm beinhaltet Lausch- und Reimspiele, Spiele zur Erkennung von Satz, Wort und Silbe sowie Anfangslaut bis hin zur Lautanalyse und der Einführung von einzelnen Graphen, die den Lauten zugeordnet werden. (vgl. Plume 2003 S. 8 ff.)

 

Im vorschulischen Bereich findet dieses Förderprogramm vermehrt Einzug. So bietet das MBWFK Schleswig-Holstein Fortbildungen und vielfältige Materialien zur „Förderung der Phonologischen Bewusstheit zur Vorbeugung von Lese-Rechtschreibschwierigkeiten“ für Erzieher/-innen und Grundschullehrer/-innen, auf der Basis des Konzeptes von Küspert und Schneider, an.

 

Wie der Titel schon besagt, sieht das Bildungsministerium die Förderung der Phonologischen Bewusstheit als eine Voraussetzung zum erfolgreichen Schriftspracherwerb.

 

Jedoch kommen Schneider & Küspert in ihrer abschließenden Bestandsaufnahme über die Ergebnisse ihrer Studie zur Schlussfolgerung, dass Defizite im Bereich der phonologischen Informationsverarbeitung nicht alleine als Erklärung von Lese-Rechtschreibschwierigkeiten ausreichen. Auch in der Gruppe der geförderten Risikokinder gab es Kinder, die im Schriftspracherwerb versagten, sowie es Kinder gab, die im BISC unauffällig waren und später Schwierigkeiten beim Lesen- und Schreibenlernen aufwiesen. (vgl. Schneider & Küspert 2003 S. 125) Dennoch sind die Ergebnisse zur Vorbeugung der Lese-Rechtschreib-Störungen durch ein kombiniertes Trainingsprogramm zur Phonologischen Bewusstheit und der Buchstaben-Laut-Zuordnung ermutigend.

 

4.1.2 Schriftspracherwerb als aktiver Prozess


 

Die Vermittlung der Lese- und Rechtschreibfertigkeiten ist eine der Hauptaufgaben der Grundschule.Dort wird der Schriftspracherwerb als Prozess gesehen, der in verschiedene Phasen gegliedert werden kann.

 

Eines der wichtigsten Modelle zur Darstellung der Entwicklungsphasen stammt von Frith (1985). Sie unterscheidet drei Phasen:

 

1. die logographische Phase

2. die alphabetische Phase

3. die orthographische Phase.

 

Diese drei Phasen unterteilt sie in jeweils zwei Stufen. In den einzelnen Phasen dominieren die jeweiligen Strategien.

 

Die Entwicklung des Lesens und die Entwicklung des Rechtschreibens verlaufen in den gleichen Phasen, unterscheiden sich aber in der zeitlichen Folge.

 

Folgendes Interaktionsmodell soll dies verdeutlichen:

 

 

Abbildung 4: Der Zusammenhang zwischen der Entwicklung im Lesen und Rechtschreiben nach Frith (1985)

 

(vgl. Klicpera, Schabmann & Gasteiger-Klicpera 2003 S. 38)

 

Die Phasen unterscheiden sich in ihrer Aneignungsstrategie.

 

Die logographische Phase ist gekennzeichnet vom ganzheitlichen Erkennen von Wortbildern. Die Wörter werden durch besonders hervorstechende Merkmale des Wortbilds von den Kinder identifiziert. Beim Lesen werden diese Merkmale erkannt und einem bekannten Wort zugeordnet. Beim Schreiben werden die Merkmale graphisch wiedergegeben, wobei Reihenfolge oder Vollständigkeit keine Rolle spielen. Eine wichtige Erkenntnis ist hierbei, dass Worte durch graphische Symbole, nämlich Buchstaben, dargestellt werden, eine Buchstaben-Lautzuordnung findet aber noch nicht statt. Die logograpische Strategie findet ihre Grenze in der Gedächniskapazität.

 

In der alphabetischen Phase beginnen die Kinder den Zusammenhang zwischen Buchstaben und Lauten zu verstehen. Sie erkennen, dass bestimmten Buchstaben bestimmte Laute zugeordnet werden und umgekehrt. Beim Schreiben konstruiert das Kind aus seiner Artikulation die Lauterkennung, die es dann in Buchstaben umzusetzen versucht. Wörter werden dazu in kleinere Einheiten, den Silben zerlegt und den Lauten in der Silbe nachgespürt. Dehnbare Laute werden häufig besser erkannt als Stopplaute, die beim Nachfühlen der Laute in der Silbe sich schnell verflüchtigen. Auf dieser Stufe findet man manchmal Skelettschreibweisen wie LB für Elbe. Dies kann zum einen auf die eben genannten Gründe zurückgeführt werden, zum anderen werden im Alltag z.B. in der Familie, in den Medien und in Kinderliedern das Alphabet nicht in seinen Lauten also /l/ oder /b/, sondern als Bezeichnung für den Buchstaben L (el) oder B (be) dargestellt. So ist es durchaus logisch, wenn das Kind LB für (el)(be) schreibt. (vgl. Dummer-Smoch & Hackethal 1999a S. 27)

 

Am Ende dieser Phase ist das Kind in der Lage, die Laute von lautgetreuen Wörtern den Buchstaben zuzuordnen.

 

Nachdem die erste Stufe der alphabetischen Phase bei der schriftlichen Laut-Buchstabenzuordnung erreicht ist, wird diese Strategie auch für das Erlesen von Wörtern genutzt. So kann es auch unbekannte Wörter buchstabenweise erlesen, indem es jedem einzelnen Buchstaben den zugehörigen Laut zuordnet, diesen solange dehnt bis der nächste Laut...

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