Einleitung
Ärztliches Tun ist an der Zielstrebigkeit des Organismus sich zu erhalten orientiert („Selbstheilungskräfte“). Diese naturgegebene Zweckhaftigkeit verlangt vom Arzt kunstvolles Handeln. Denn Heilung ist nicht Herstellung einer Sache, sondern Wiederherstellen eines individuellen Zustandes. Die Materie, an der der Arzt seine Kunst ausübt, ist bereits das Kunstwerk selbst – der Patient. Die Zweckorientierung in der Heilkunst bedarf jedoch der Wissenschaft, um die Bedingungen der Gesundheit durch Erforschen von Krankheitsursachen überhaupt verstehen zu können. Die mit der Aufklärung im 18. Jahrhundert aufgekommene reduktionistische Naturwissenschaft hat aufgrund der Forderung nach kausalanalytisch erhobenen, objektiven Daten das Zweckdenken als subjektiv und unwissenschaftlich abqualifiziert. Während damit in der Technik und der am Ursache-Wirkungs-Denken orientierten Medizin ein ungeheurer Fortschritt erzielt wurde und noch wird, kann das kausalanalytische Denken in der Medizin nicht uneingeschränkt gelten. Denn der Arzt hat es immer mit dem jeweiligen Subjekt, dem je individuellen Einzelfall zu tun, der durch keine analytische Bestandsaufnahme erschöpft werden kann. Um zur richtigen Diagnose und zu angemessener Therapie zu gelangen, ist ärztliche Urteilskraft als Gabe persönlicher Intuition und Erfahrung unabdingbar. Wie sollen Arzt und Patient mit ihren Ängsten, Hoffnungen, Fantasien und Kreativität umgehen angesichts der als gültig angesehenen Kriterien Objektivierbarkeit, Wiederholbarkeit und Vorhersagbarkeit bei zunehmender Zersplitterung der Humanmedizin in immer weitere Teilgebiete? Einen Ausweg stellt die Rückbesinnung auf die hippokratische Medizin dar, die als Gesundheitslehre und -erziehung zu verstehen ist. Galen (129–199 n. Chr.) zog daraus den Schluss, dass Gesundheitsbewahrung über die Krankheitsüberwindung zu stellen wäre. Die Medizin war über Jahrtausende eine Lehre von der Gesundheit, ehe sie zum System der Krankenversorgung wurde.
Die Medizin als Naturwissenschaft muss daher durch Gesundheitslehre und -erziehung zur Kulturwissenschaft ergänzt werden. Gesundheitslehre ist der gebildete Umgang mit der Umwelt, Lebensmitteln, Arbeitswelt und zwischenmenschlichen Beziehungen ▶ [706].
In der wissenschaftlichen Medizin hat sich ein genetisches Paradigma durchgesetzt, wonach die bedeutendsten Krankheiten bereits intrauterin oder nachgeburtlich gentechnologisch diagnostiziert und behandelt werden könnten. Dabei wird übersehen, dass nur etwa zwei Prozent aller Krankheiten monogen sind, d. h. einem linearen dominanten Erbgang unterliegen. Auf 98 Prozent aller Krankheiten, die die eigentliche Gesundheitsbedrohung des Menschen darstellen, lässt sich dieses Paradigma jedoch nicht anwenden (Übersicht s. ▶ [768]). Es ist eine irrige Annahme, komplexes biologisches Geschehen mit entsprechend komplexem multifaktoriellen Krankheitsgeschehen durch gentechnologische Analyse kausal erklären und behandeln zu wollen. Das in 98 Prozent aller Krankheiten vorliegende hochvernetzte polygene Verhalten, auch als Disposition bzw. innere „Krankheitsursachen“ bezeichnet, wird zusätzlich durch individuelle Umwelt- und Inwelteinflüsse als Exposition überlagert und vernetzt. Daraus entsteht ein nichtlineares Verhalten, das von Rückkopplungen, d. h. Rückwirkungen von Teilsystemen auf das System selbst („Regelkreise“), geprägt ist. Langfristige Vorhersagen sind bei nichtlinearem Verhalten aber nur schwer möglich.
Das genetische Material (Genom) ist zwar als dauerhaftes Programm zu Erhalt und Evolution einer biologischen Art notwendig, aber nicht ausreichend für Vorhersagen individueller Lebens- und Krankheitsverläufe. Im Korrelationsfeld von Erleben und zugeordneten körperlichen Leistungen wird die individuelle psychosomatische Konstitution als Gesundheits- wie Krankheitsfähigkeit eines Individuums sicht- und erlebbar. Disposition und Exposition weisen aber als somatopsychische bzw. psychosomatische Begriffe keine Linearität auf. Sie haben vielmehr mit der Lebensordnung des Menschen im Ganzen zu tun. Diese in der antiken Medizin als „diaita“ dargestellte Beziehung bedient sich der „physis“, des natürlichen Wachsens und Gedeihens, und erreicht eben damit den „nomos“, das rechte Maß und die Regel, den kultivierten Lebensstil einer verbindlichen Lebensordnung. Das geht nicht ohne „paideia“, ohne Weisung und Lenkung, ohne „arete“, die Tugend, und „sophrosyne“, die Einsicht, nicht ohne die Bildung in jenem geschlossenen Milieu, das die Alten „kosmos“ nannten, die gefühlte Ordnung eines harmonisch durchstimmten Universums ▶ [707]. Dessen Maßstab finden wir auch im Mikrokosmos, im Zusammenspiel der Zellen und der sie umfangenden Grundsubstanz (im Folgenden als extrazelluläre Matrix – ECM – bezeichnet). Auch hier ist es das Ziel, den Organismus im Ganzen zu formen und zu gestalten. Bei Nichterreichen oder Verlust eines individuell zuträglichen Milieus ist daher auch eine Grundregulation, d. h. Wechselwirkungen zwischen Zelle und ECM, auf Dauer nicht möglich. Der beginnende Circulus vitiosus mündet schließlich ein in Dysregulation, in chronische Erkrankungen und Tumoren. Biologische Medizin bzw. Ganzheitsmedizin heißt daher auch, das innere und äußere Milieu aufeinander abzustimmen. Es kann keiner gesunden oder gesund bleiben, wenn er nicht als Mensch gewollte und geliebte Verbindung mit seinesgleichen hat. Um dies heilkundlich auszuloten und zu wissen, dass dicht neben dem Nutzen die Noxe steht, braucht die Heilkunst die Wissenschaft, die Theorie. Sie strebt nach Regeln, nach jener Norm, die als Ethos menschliches Leben durchwirkt und maßgeblich ist für unser Verhalten und Handeln. Das der Norm zugrundeliegende Ethos ist höchst verpflichtend für einen Beruf, der Hilfe in Not verspricht und das Not-Wendende zum Ziel hat ▶ [707]. Der gegenwärtige Mangel an Ethik ist ein Verlust an Subjektivität zugunsten einer vermeintlich wertungsfreien Objektivität. Daher ist auch der Zellbegriff lediglich eine morphologische Abstraktion. Biologisch gesehen kann er nicht ohne das Lebensmilieu der Zelle, die ECM, verstanden werden.
In der Polarität von Pathogenese und Salutogenese (Aktivierung der Selbstheilungskräfte) ist die Medizin als Ganzes, als Heilkunst erfasst. Gegenwärtig wird durch Umwelteinflüsse, Lebensformen und Überalterung die individuelle Konstitution zunehmend labiler. Dies korreliert mit der Zunahme von chronischen Erkrankungen, Allergien und Tumoren in allen Altersgruppen.
Konstitution lässt sich allgemein als Einheit von Seele und Leib erfassen ▶ [838]. Diese unauflösliche Einheit äußert sich im Befinden. Befindensstörungen seelischer Art werden daher immer auch als körperliche Störungen zur Geltung kommen und umgekehrt. Besonders deutlich wird dies in der modernen Gesellschaft, die im krassen Missverständnis von Individualität zur sozialen Isolierung einzelner und ganzer Gruppen neigt. Die erhöhte Mortalitätsrate sozial isolierter Menschen hat sich dabei als unabhängig von den Lebensgewohnheiten (Rauchen, Übergewicht, körperliche Aktivität, ökonomischer Status, Teilnahme an präventiven Gesundheitsprogrammen) erwiesen ▶ [796]. In den westlichen Industrieländern zeigen nach diesen Autoren etwa ein Drittel der Menschen, die mit gesundheitlichen Problemen einen Arzt aufsuchen, keine Anzeichen einer organischen Erkrankung.
Aufgrund der enormen diagnostischen Möglichkeiten moderner Medizin werden derartige psychosomatische Störungen in ein organisches Erkrankungsschema gepresst und entsprechend falsch behandelt. Die dabei sich entwickelnden Patientenkarrieren können sich über Jahrzehnte erstrecken, wobei die moderne biotechnische Medizin zu einem „Risikofaktor ersten Grades“ werden kann. Balint (1896–1970) war einer der ersten, der den technologischen Ansatz der Medizin um den biografischen Aspekt wie auch die gegenwärtige dynamische Lebenssituation des Patienten erweiterte. Er wies darauf hin, dass Patient und Arzt in ein kommunikatives System eingeschlossen sind, wobei der Arzt selbst aktiver Teilnehmer ist. Ähnlich wie die Atomphysiker in der Quantentheorie zu Beginn dieses Jahrhunderts erkannten, dass der Beobachter selbst Einfluss auf sein Objekt hat, können objektive Beobachtungen ...