Kapitel 1:
Geschichte des internationalen Systems und Theorien der Internationalen Beziehungen
Die Geschichte jeder bedeutenden galaktischen Zivilisation macht drei klar und deutlich voneinander getrennte Phasen durch – das bare Überleben, die Wissensgier und die letzte Verfeinerung, allgemein auch als die Wie-, Warum- und Wo-Phasen bekannt.
Douglas Adams, «Per Anhalter durch die Galaxis»
Einleitungen in Lehrbücher über die Internationalen Beziehungen (IB)[1] beginnen zumeist mit einer Beschreibung der internationalen Politik als einem anarchischen System von souveränen Nationalstaaten. Zwar haben sich diese Merkmale seit den 1990er Jahren deutlich abgeschwächt. Souveränität als Kernmerkmal der Nationalstaaten wird zunehmend gebunden an die Einhaltung bestimmter Standards guten Regierens, insbesondere die Einhaltung grundlegender Menschenrechte; Anarchie als Ordnungsprinzip des internationalen Systems wird durch die Tätigkeit internationaler Organisationen und Institutionen deutlich abgeschwächt, wenn nicht in einigen Bereichen überwunden; und der Nationalstaat scheint seine Gestalt ebenfalls zu ändern. Im globalen Süden wird von zerfallender oder begrenzter Staatlichkeit gesprochen,[2] in der die zentralen Funktionen, die sich mit dem modernen Staat verbinden, gar nicht oder nicht mehr von diesem wahrgenommen werden. Während im globalen Norden zerfasernde Staatlichkeit diagnostiziert wird,[3] in der sich die einzelnen Funktionen auf unterschiedliche Regulierungsebenen verlagern, während der Staat nur mehr als Herrschaftsmanager deren Bereitstellung überwacht.[4]
Dennoch bleibt die Idee des anarchischen Systems souveräner Staaten genereller Ausgangspunkt der Theorien und Theorieschulen der Internationalen Beziehungen, gegenüber derer Veränderungen bemessen und bewertet werden. Daher werden wir uns im ersten Teil unseres Anhalters durch die IB-Galaxis mit der Herausbildung der IB-Galaxis als intellektuelle Auseinandersetzung um die internationalen Beziehungen als anarchisches System beschäftigen, bevor wir im zweiten Teil die empirischen und theoretischen Veränderungen ausleuchten, die dieses System zunehmend in Frage stellen.
In diesem Kapitel beginnen wir unsere Reise mit dem Urknall der IB-Galaxis und rekonstruieren, wie die bedeutendsten Urzivilisationen: die Liberalen, die zunächst Idealisten, später auch gelegentlich Neoinstitutionalisten genannt wurden, die Realisten, die eigentlich immer so genannt wurden, und die Marxisten, die viele Namen trugen und tragen und zu denen keiner der Namen je so richtig passen wollte, sich entwickelt haben, und wie sie die Frage der ersten Phase jeder bedeutenderen galaktischen Zivilisation beantwortet haben: Wie überleben wir? Dies beginnt mit der Herausbildung des ersten dominanten Forschungsparadigmas der IB-Galaxis, der Frage, wie systemweite Kriege zu verhüten seien, und geht über in die Untersuchung von Kooperationserfordernissen als zweitem großen Paradigma, um der Anarchie einen ersten sanften Riegel vorzuschieben, aber beginnen wir mit dem Urknall.
1.1. Die Entstehung und Konsolidierung des internationalen Staatensystems
Die Form eines anarchischen Systems souveräner Nationalstaaten ist keine überzeitliche Konstante, sondern hat sich erst mit Beginn der Frühen Neuzeit in Konkurrenz zu anderen Organisationsformen, wie Imperialismus und Feudalismus, allmählich durchgesetzt und so die internationalen Beziehungen als Gegenstand und – deutlich später – die Internationalen Beziehungen als akademische Disziplin hervorgebracht. Ähnlich präzise und gut belegt wie die Einträge im «Anhalter durch die Galaxis», wird der Urknall der IB-Galaxis gemeinhin mit den Westfälischen Friedensverträgen von Münster und Osnabrück von 1648 in Verbindung gebracht, die die Religionskriege in Europa dauerhaft beendeten und erstmalig jene Prinzipien festschrieben, die als wesentliche Merkmale des internationalen Systems gelten sollten: Sie erkannten die jungen Staatsgebilde Europas an, indem sie ihnen interne und externe Souveränität, d.h. das Recht zusprachen, im Innern ohne Einmischung von dritter Seite zu walten und nach außen unabhängig und mit gleichen Rechten frei zu agieren. Es sollte eine wegweisende Entscheidung sein, dass sich mit dieser Anerkennung konkret die Erlaubnis verband, nach freiem Gutdünken Kriege zu erklären und Allianzen mit anderen Staaten einzugehen.
Mit den Verträgen von Osnabrück und Münster wurden mithin formal territoriale Staaten etabliert, deren Beziehung zueinander unabhängig von ihrer Größe oder Macht auf souveräner Gleichheit beruhen sollte, ohne dass über ihnen eine weitere Macht oder Autorität stand. Letzteres brachte das zentrale Ordnungsprinzip des internationalen Systems hervor: Anarchie, verstanden als Abwesenheit einer Autorität oberhalb der Staaten, die auftretende Konflikte zwischen ihnen verbindlich lösen könnte. Damit waren die wesentlichen Merkmale des internationalen Systems gegeben: Staaten, Souveränität und Anarchie. Gleichwohl ist der Westfälische Frieden eher eine entscheidende Wegmarke in der Entwicklung des modernen Staatensystems gewesen als seine Ursache, wenn diese Verknüpfung nicht sogar, wie manche meinen, einem modernen Mythos entspricht.[5] Die Herausbildung des modernen Staatensystems lässt sich eher im späten Mittelalter verorten, insbesondere in der Renaissance, die in Norditalien zu der Herausbildung von Stadtstaaten (statos) führte. Deren säkulare Herrscher schwächten den bis dato unangefochtenen Herrschaftsanspruch des Papstes und betrieben eine am Machtausbau des eigenen Staates orientierte Politik, der Niccolò Machiavelli in seiner berühmten Schrift über den «Fürsten» eine theoretische Unterfütterung gab. Die im 16. Jahrhundert einsetzende Reformation schwächte die päpstliche Vorherrschaft weiter und beförderte die Bildung von unabhängigen Kleinstaaten in Europa, die schließlich in die verheerenden Religionskriege führen sollte, die der Frieden von Westfalen formal beendete.
Mit dem Friedensschluss selbst entstand aber noch kein modernes Staatensystem, geschweige denn eine Theorie der internationalen Beziehungen. Obgleich es große zeitgenössische Denker gab, wie Niccolò Machiavelli oder Thomas Hobbes, und außerdem historische Vorläufer, wie den antiken griechischen Historiker Thukydides, die insbesondere der spätere Realismus zu seinen Gründungsvätern zählen sollte, verstanden sich diese nicht als Theoretiker internationaler Beziehungen.[6] Das Staatensystem, das sich herauszubilden begann, war für die Zeitgenossen noch kaum zu erkennen: Staaten bildeten sich, zerfielen, spalteten sich auf oder vereinigten sich. Die Durchdringung des staatlichen Territoriums durch Regierungen war bestenfalls in Ansätzen zu beobachten und auch die Bevölkerungen in diesen Staaten zeigten kaum Ansätze von Bindung oder Loyalität zum Staat, die in die Nähe dessen kamen, was man später als nationale Identität bezeichnen sollte. Die Beziehungen zwischen den Staaten waren zudem eher sporadischer Natur und die Normen der formalen Gleichheit spielten in der Praxis kaum eine Rolle.
Große Bedeutung erlangte dagegen das Recht, Kriege zu führen. Die Konsolidierung der Staaten und des Staatensystems mit dauerhaften und wechselseitigen Beziehungen zwischen ihnen erfolgte erst in den folgenden Jahrhunderten, in denen die jungen Staaten praktisch jede sich bietende Gelegenheit nutzten, um sich jeweils gegenüber den anderen Staaten einen Machtvorteil zu verschaffen. Ausgehend von der verbreiteten Ansicht, nur der physische Besitz materieller Ressourcen (wie Land oder Rohstoffe) helfe die eigene Macht zu vergrößern und dadurch gegenüber den anderen Staaten zu bestehen, war Krieg ein probates und auch anerkanntes Mittel der Machtpolitik, so dass im 17. und 18. Jahrhundert jeder größere Staat mindestens einmal gegen einen der anderen größeren Staaten in Europa einen Krieg geführt hatte.[7] Praktisch wurde im 17. wie im 18. Jahrhundert nahezu alle drei Jahre ein neuer Krieg begonnen und die politische Landkarte Europas veränderte sich kontinuierlich.[8]
Schon in dieser Phase sogenannter Kabinettskriege zeigte sich ein Merkmal im Verhalten der Staaten zueinander, das die spätere Theorieschule des Realismus zum Kern ihrer Theorie machen sollte: die Idee eines Machtgleichgewichts. So ließ sich schon in dieser Phase beobachten, dass die Staaten nicht bereit waren,...