La Bohème
Titel La Bohème, Scene da «La Vie de Bohème» di H. Murger/Szenen nach «La Vie de Bohème» von H. Murger. Quattro quadri/4 Bilder. Libretto Nach dem (Fortsetzungs)-Roman «Scènes de la vie de Bohème» (1845–1849) von Louis Henri Murger (Geburtsname: Henry Mürger, 1822–1861) und dem daraus entwickelten Drama «La Vie de Bohème» (1849) von Murger und Théodore Barrière (1823–1877) in ein Libretto gefasst von Giuseppe Giacosa (1847–1906) und Luigi Illica (1857–1919). Mitarbeit am Libretto: Giulio Ricordi und Giacomo Puccini. Uraufführung 1.2.1896, Teatro Regio, Turin. Ort und Zeit der Handlung Paris ca. 1830. Vom Weihnachtsabend bis in den Frühsommer. Handlung. 1. Bild In der eiskalten Mansarde müht sich der Maler Marcello an einem Bild, das wohl nie fertig werden wird, während sein Dichterfreund Rodolfo versucht, Verse zu schreiben. Beide scheitern. Colline, der Philosoph, kommt hinzu, gleichfalls enttäuscht, da er am Weihnachtsabend das Pfandhaus geschlossen fand. Überraschend erscheint Schaunard mit Lebensmitteln und Geld, das er gerade durch Musikunterricht bei einem spleenigen Engländer verdient hatte. Die allgemeine Freude wird getrübt, als der Hauswirt Benoît den fälligen Mietrückstand eintreiben will. Mit rhetorischen Mitteln wird man den Hauswirt wieder los und bricht auf, um im Café Momus den weiteren Abend zu verbringen. Rodolfo bleibt zurück. Mimì, die im selben Haus wohnt, bittet um Feuer für ihre Kerze. Die beiden verlieben sich und folgen den Freunden nach. 2. Bild Weihnachtstrubel vor dem Café Momus. Rodolfo stellt Mimì den Freunden vor; sie wird in den Kreis der Bohemiens aufgenommen. Musetta erscheint mit dem Staatsrat Alcindoro und reizt die Eifersucht ihres Ex-Liebhabers Marcello. Unter einem Vorwand schickt Musetta den Staatsrat fort, die alte Liebe entbrennt. Im Trubel der Szene verlassen die Freunde das Café – Alcindoro muss die Rechnung für alle bezahlen. 3. Bild Trostloser, eisiger Wintermorgen. Mimì, deren Beziehung zu Rodolfo in eine Krise geraten ist, sucht Rat bei Marcello. Sie wird ungesehen Zeuge eines Gesprächs zwischen Rodolfo und Marcello, in dem sie erfährt, dass sie tödlich (Schwindsucht) erkrankt sei und Rodolfo sich von ihr deshalb trennen will. Ein Hustenanfall verrät sie. Rodolfo ist der Situation nicht gewachsen. Beide wollen die Trennung noch einmal aufschieben. Marcello gerät in Streit mit Musetta. Erneute Trennung – bis zur nächsten Begegnung. 4. Bild Mimì hat Rodolfo tatsächlich verlassen. In der Mansarde versuchen Marcello und Rodolfo mit ihrer Situation umzugehen. Mangels Geld entwerfen die vier Freunde die Fiktion eines Gelages. Die groteske Szene wird abrupt unterbrochen, als Musetta die schwerkranke Mimì zurückbringt, die wieder bei Rodolfo sein möchte. Die Freunde und Musetta können ihr, trotz bestem Willen, nicht mehr helfen. Mimì erinnert sich an die erste Begegnung mit Rodolfo und an die Tage ihrer Liebe, dann stirbt sie.
Zum Begriff
Wenn irgendwo von der «Bohème» die Rede ist, so kommt uns dieser Begriff vertraut vor – und der Titel von Puccinis gleichnamiger Oper trägt zu dieser Vertrautheit nicht wenig bei. Leicht assoziiert man damit «wie eiskalt ist dies Händchen» sowie eine Pariser Liebesromanze. Darüber hinaus aber ist der Begriff schillernd und in hohem Maß mehrdeutig. Die Oper Puccinis deckt nur einen relativ schmalen und zudem künstlich-fiktionalen Aspekt dieses Ausdrucks ab.
Vor dem 17. Jahrhundert bezeichnete man so die von Böhmen oder aus Osteuropa eingewanderten Sinti und Roma als «bohémiens» («die aus Böhmen»), danach wechselt der Gebrauch ins Volkssprachliche, wird gar Terminus einer Polizeisprache und entwickelt sich zu einer mehr gefühlten als objektivierenden Bezeichnung für die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe. Diese zeichnete sich durch ungebundene, nicht sesshafte, verwahrloste, haltlos-liederliche und unzuverlässige Lebensart aus. Die ethnische Bedeutung verlor sich, und der Begriff mutierte zu einer abwertenden Bezeichnung all jener, die in einem Spannungsverhältnis zur bürgerlichen Wertewelt lebten. Bis Mitte des 19. Jahrhunderts wurde Bohème noch allgemein auf städtische Unterschichten bezogen – so bei Balzac und bei Marx, der das französische Wort mit «Lumpenproletariat» übersetzte. Ab etwa 1830, mit der Julirevolution, rückte das Künstlertum als kennzeichnendes Element in den Bedeutungskreis der Bohème; damals entstand die Blüte einer Künstlerbohème, die gleichzeitig den Beginn realistischer und naturalistischer Tendenzen in der Kunst markiert.
Murgers Bohème
Murger war eine Zentralgestalt dieser Künstlerbohème, er gehörte sogar dem höchst exzentrischen Zirkel der «buveurs d’eau», den sog. «Wassertrinkern» an, die in extremem Purismus den Idealen der Kunst lebten und dafür alle Art von Entbehrungen auf sich nahmen, ohne aber selbst je eine anerkennenswerte künstlerische Leistung vollbracht zu haben. Murger machte diesbezüglich insofern eine Ausnahme, als er seit März 1845 vier Jahre lang für eine kleine, pittoreske, aber vielgelesene Zeitschrift «Le Corsaire de Satan» schrieb (Hg. Gérard de Nerval, 1808–1855) – eine Art Fortsetzungsroman, vergleichbar unseren heutigen TV-Serien – der als «Scènes de la vie de Bohème» betitelt war. Es handelte sich mehr um Feuilletonskizzen aus dem Milieu der Bohème als um einen Roman im literarischen Sinne. Die einzelnen Fortsetzungen sind locker aneinandergereiht und bilden je in sich geschlossene kleine Geschichten – eine durchgehende Handlung ist nicht zu erkennen.
Murger liefert selbst eine Beschreibung der Pariser Bohème, wenn er sagt: «Bohème ist die Vorrede zur Akademie, zum Hospital oder zum Leichenschauhaus». Die Bohème sei keine Straße, sondern eine Sackgasse. Die ihr angehören, «sterben … an jener Krankheit, die die medizinische Wissenschaft nicht zu nennen wagt, die man Elend nennt.» Die milieu-spezifische Bohème in Murgers Roman zeichnet sich, obwohl in den Jahren revolutionärer Stimmungen geschrieben, durch völliges Fehlen politischer oder sozialkritischer Reflexion aus. Der Autor bezieht keine politische Position, sondern richtet sich nur gegen Konventionen. Was seiner Bohème mangelt, ist sowohl ein gesellschaftliches als auch künstlerisches Ziel; sie gibt sich eher leichtsinnig, harmlos antibürgerlich, gewinnt weder soziales noch politisches Profil, meidet jede revolutionäre Dynamik und zieht die Künstleridylle einer gesellschaftlich-visionären Aggressivität vor. Sie ist nicht zukunftsfähig, pflegt die Realitätsverdrängung und basiert auf Selbstbetrug. Sie entwickelt keine Haltung zu einer ästhetisch-kritischen Position; ihre Akte gegenbürgerlicher Rebellion erschöpfen sich im Symbolischen. Murger selbst gelang mit seinem Erfolg der Wechsel ins bis dato von ihm verachtete bürgerlich-künstlerische Establishment. Aber durch ihn wurde «Bohème» als soziale Kategorie im Sinne einer künstlerischen Subkultur begrifflich popularisiert. Nach ihm sollte der Bohème-Begriff weitere Wandlungen und Spezifizierungen erfahren. Heute ist er im strengen Sinne nur noch historiographisch verwendbar.
Die Entstehung der Oper
Zwar findet sich bereits in einem Brief Ricordis aus dem Jahr 1892 ein Hinweis auf Murgers Fortsetzungsroman, und die erste belegbare Äußerung von Puccini selbst über den Bohème–Stoff stammt vom 9. Februar 1893. Aber erst eine kuriose Begegnung am 19. März 1893 darf als Initialzündung für Puccinis neues Opernprojekt gelten. Er saß mit Ruggero Leoncavallo, seinem Komponistenfreund, in Mailand plaudernd im Café, und man tauschte sich über alle möglichen Dinge aus. Dabei kam en passant heraus, dass sie beide an der gleichen...