So richtig im Klaren über unseren Umgang mit dem Internet sind wir uns nicht – aber die Momente, in denen wir darüber nachdenken und uns Sorgen machen oder uns bewusst werden, welche Bedeutung es für uns hat, werden häufiger. Während vor ein paar Jahren die Allgemeinen Geschäftsbedingungen (AGBs) im Internet eigentlich nie gelesen wurden, wird mittlerweile zumindest über die AGBs verschiedener Unternehmen diskutiert. Auch die Veränderung des Umgangs mit unserer Privatsphäre führt immer öfter zu Diskussionen und manchmal auch dazu, dass Menschen ihr Verhalten ändern, zum Beispiel Facebook nicht mehr nutzen, vom Smartphone wieder auf ein altes Handy umsteigen oder internetfreie Zeiten in ihren Familienalltag einführen.
Gustav D., der in diesem Kapitel auftaucht, ist ein typischer Fall dafür: Erst lief alles super und das ständige Leben mit dem Internet fühlte sich großartig an – aber auf einmal war vieles anders, und er konnte gar nicht so genau sagen, warum. Es geht um Kontrollverlust. Dabei wird deutlich, dass uns Rituale fehlen, um die Informationen und Wahlmöglichkeiten, mit denen unser Bewusstsein konfrontiert wird, besser ordnen zu können. Rituale sind nach festgelegten Regeln ablaufende, ursprünglich feierliche Handlungen. Seit einiger Zeit hat auch die Psychotherapie ihren Nutzen wiederentdeckt; denn mit ihrer Hilfe lassen sich Ordnungen wiederherstellen, wo sie nicht mehr als vorgegebene Struktur vorhanden sind. Solche Rituale können sein, dass wir bestimmte Nachrichten nur zu bestimmten Zeiten oder an bestimmten Orten lesen und beantworten, etwa am Schreibtisch. Aber auch, dass wir uns bestimmte Umgangsformen mit dem Internet angewöhnen, zum Beispiel (wie Sie später in Experiment 11 sehen werden), indem Sie die Menschen, die mit Ihnen am Frühstückstisch sitzen, kurz wissen lassen, für welche Tätigkeit Sie sich gerade ins Internet begeben («Ich geh' dann mal kurz arbeiten …»).
Als Erstes prüft der Psychiater, ob sein Patient wach ist, schläfrig, im Tiefschlaf oder gar im Koma. In welchem Zustand sind wir, wenn es um unser Verhältnis zum Internet geht? Sind wir wirklich wach? Sind wir gerade erst am Aufwachen? Oder schlafen wir noch tief und fest?
Im Jahr 2014 wurden die Ergebnisse eines von der finnischen Internet-Sicherheitsfirma F-Secure gesponserten Experiments veröffentlicht. Mitarbeiter hatten kostenlose WiFi-Hotspots aufgebaut, an denen jeder, der sich einloggte, das Internet kostenlos nutzen konnte, sofern er den AGBs zustimmte. Diese umfassten, dass der Nutzer einwilligte, im Gegenzug für den Zugang zum Internet sein erstgeborenes Kind der Firma zu überlassen. Der Fall sorgte für Aufmerksamkeit, für Lachen, für etwas Sorge – aber ich kenne niemanden, der seitdem die AGBs im Internet häufiger liest. Wir denken nicht nur nicht darüber nach, wir verdrängen aktiv, welchen Dingen wir da zustimmen. Für ein langsames Erwachen sprechen Projekte wie das erfolgreiche Internetangebot einer kleinen Kreuzberger Firma, die für einen Euro im Monat einen E-Mail-Account ohne Datenklau und dafür mit echter Privatsphäre verspricht. Das ist zwar nicht ganz neu, da es auch vor dem großen Erfolg der Freemail-Anbieter schon ähnliche Angebote gab, aber die Tatsache, dass auf einmal viele Menschen von den Freemail-Anbietern, die sie vorher jahrelang genutzt haben, zu solchen Angeboten wechseln, zeugt aus meiner Sicht von einem neuen Bewusstsein. Oder vielleicht auch nur einer neuen Mode: Auch ich habe eine E-Mail-Adresse bei dieser Kreuzberger Firma, habe aber trotzdem die AGBs nicht gelesen und weiß also selbst eigentlich gar nicht, ob sie wirklich besser mit meinen Daten umgeht. Und ich könnte es im Zweifelsfall auch gar nicht selbst überprüfen. Eine nichtrepräsentative Befragung unter anderen Nutzern dieses Angebots förderte ähnliche Verhaltensweisen zutage. Ich würde unser Verhältnis zum Internet hier also großzügig als noch ziemlich schläfrig bezeichnen.
Ein deutliches Erwachen bemerken wir allerdings bezüglich unserer steinzeitlichen menschlichen Bedürfnisse. Ich werde in diesem Buch immer wieder zu dem Punkt kommen, dass nicht «das Internet» das Problem ist, sondern der Mensch. Denn die große Chance und gleichzeitig auch große Bedrohung des Internets besteht darin, dass es einige unserer ursprünglichen menschlichen Bedürfnisse so wunderbar erfüllt. Natürliche Bedürfnisse sind aus meiner Sicht, im Guten wie im Schlechten, ganz banale Dinge: im Kopf abzuschalten, die Anstrengung selbst zu regulieren (im Internet zum Beispiel «Nerviges» einfach «wegzuklicken»), mit den Menschen, die einem wichtig sind, Kontakt aufzunehmen und seine Zuneigung zu bekunden, wann immer man will – aber auch, durch ungehemmte Selbstinszenierung Aufmerksamkeit einfordern oder einfach mal ungehemmt herumpöbeln. Etwas sehr Ungezähmtes erwacht da in uns, und wir registrieren es mit Unbehagen. Wir schieben es auf das Internet, sprechen von dem Sog, den es auf uns ausübt, bis hin zur Sucht, und behaupten, die Rettung sei im «natürlichen» Leben außerhalb des Internets zu finden. Dabei übersehen wir oft, dass Arbeiten oder Rumhängen gar keine Alternativen im Umgang mit dem Internet sind, sondern nur Extreme. Häufig bewegen wir uns von Informationen aus Zeitungen zu Kommunikationssträngen mit Freunden, lesen etwas nach und suchen nach Quellen, etwa dem Video mit der Rede eines Politikers.
Nachdem wir über mehrere Generationen immer sozialer, freundlicher und effektiver werden mussten, scheinen nun in dem neuen, zunächst weitgehend regellosen Raum, den das Internet in unserer Gesellschaft geschaffen hat, sehr basale Bedürfnisse zu erwachen. Wenn es im Folgenden darum geht, wie wir mit unseren Internetproblemen zurechtkommen, dann wird es dabei immer wieder um diese sehr ursprünglichen Bedürfnisse gehen, die das Internet befriedigt, verbunden mit der Frage, wie wir diese Bedürfnisse – zum Beispiel durch neue kulturelle Normen – in den Griff bekommen können. Zu diesem Zweck möchte ich mit einem Fallbeispiel beginnen: dem Fall von Gustav D., der plötzlich «erwachte» und merkte, dass er keine Kontrolle mehr über seinen Umgang mit dem Internet hatte.
Gustav D. kam nicht in meine Sprechstunde, sondern fragte mich privat um Rat. Seit ich mich aus psychiatrischer Sicht mit dem Internet beschäftige, stellen mir zahllose Menschen Fragen bezüglich des Internets und erzählen mir ihre Geschichten. Doch kaum einer davon geht deswegen wirklich zum Psychiater. Die Geschichte von D. ist in vielerlei Hinsicht völlig normal und kein Grund zur Sorge. Am Ende hat er, wie die meisten anderen auch, seinen Weg gefunden. Und trotzdem ist es ein klassisches Beispiel dafür, wie wir plötzlich – ohne dass sich um uns herum irgendetwas grundlegend verändert hat – erwachen und merken, dass wir im Internet etwas tun, das nicht mehr unseren Vorstellungen von uns selbst entspricht oder uns nicht mehr guttut.
Und plötzlich ist die Kontrolle weg
Alles begann mit einem vielversprechenden neuen Job. Als D. seine Stelle in Berlin antrat, war er voller Enthusiasmus. Sein neuer Chef war herzlich und zeigte sich begeistert von seinen Ideen und seinem Gestaltungswillen. D. stürzte sich in die Arbeit und war trotz einer 80-Stunden-Woche ausgeglichen und noch regelmäßig abends mit den neuen Kollegen unterwegs. Nervös wurde er nur, wenn er ohne Computerzugang nicht mitbekam, dass neue E-Mails eintrafen. Aufgrund der vielen Projekte hatte er sich angewöhnt, alles sofort abzuarbeiten, und der Gedanke, dass sich die E-Mails in seinem Posteingang stapelten, während er offline war, machte ihm zu schaffen. Deshalb war er einer der Ersten, der sich ein Smartphone anschaffte. Es machte D. Spaß, ständig erreichbar zu sein, auf «der Welle der Arbeit zu surfen», wie er das nannte. Die Bewunderung der Kollegen für seine ständige Erreichbarkeit bestärkte ihn darin. Er behauptete manchmal süffisant, das Smartphone habe ihn von seiner «Internetsucht geheilt». Seit er wisse, dass er über jede wichtige neue Nachricht sofort informiert werde, müsse ...