2 Klinische Untersuchung
2.1 Allgemeines
Bei der klinischen Untersuchung ist zu bedenken, dass diese in einer absoluten Stresssituation für den Patienten stattfindet. Das betroffene Tier wurde unter Umständen außerhalb seiner physiologischen Aktivitätszeit aus seiner gewohnten Umgebung herausgenommen und von seinen Partnertieren getrennt. Die Fahrt zum Tierarzt und die Wartezeit in einer unruhigen Umgebung mit fremden Geräuschen und Gerüchen tragen bei vielen Kleinsäugern ebenfalls zu einem veränderten Verhalten bei. Dieses äußert sich entweder durch übersteigerte Aktivität oder aber durch extreme Zurückhaltung und kann ggf. Krankheitssymptome überdecken. Diese Aspekte sind bei der Interpretation der Untersuchungsergebnisse zu berücksichtigen und zeigen noch einmal den Stellenwert einer ausführlichen Anamnese.
Die klinische Untersuchung selbst sollte idealerweise in einem ruhigen Raum stattfinden, in dem gleichzeitig keine anderen Tierarten behandelt werden. Auch die Stimmlage und die Bewegungen der untersuchenden Personen müssen gleichmäßig ruhig sein.
Kleinnager werden nicht immer in einer leicht zugänglichen Transportbox, sondern oftmals in einem eingerichteten Transportkäfig in die Praxis gebracht. Das Herausfangen sollte nach Entfernen der Versteckmöglichkeiten zügig, aber behutsam erfolgen. Ein wildes Jagen kann zu einem Schockgeschehen führen. Vielfach hat es sich bei Mäusen, Hamstern und Rennmäusen bewährt, eine kleine Papprolle bereitzulegen. Die Tiere klettern oft bereitwillig in dieses vermeintliche Versteck und können dann mit der Rolle herausgehoben werden. Ohne solche Hilfsgegenstände erfolgt das sichere Herausnehmen von zahmen Kleinnagern meist von unten in der hohlen Hand. Bei Mäusen ist auch das Fassen und Herausheben am Schwanzansatz möglich. Ratten können mit einer Hand von unten um den Brustkorb umfasst und mit der zweiten Hand an der hinteren Körperhälfte unterstützt werden.
Die Untersuchung geschieht überwiegend in der Hand der Hilfsperson. Sollte das erkrankte Tier, z. B. zur Beurteilung seines Bewegungsablaufs, auf dem Behandlungstisch untersucht werden müssen, sind rutschfeste Auflagen sinnvoll. Ein glatter, kalter Tisch löst in der Regel Angst und einen Fluchtreflex aus.
Sehr unruhige oder bissige Tiere müssen zusätzlich fixiert werden. Dies gilt auch für den Fall, dass eine Injektion oder eine schmerzhafte Untersuchung ansteht, bei der die Reaktion des Patienten nicht abgeschätzt werden kann. Bei Ratten und Mäusen wird dann mit einer Hand das Nackenfell gegriffen, mit der anderen die Schwanzbasis fixiert, und das Tier wird leicht gestreckt. Bei Ratten kann alternativ auch mit einer Hand der Hals umgriffen werden (▶ Abb. 2.1).
Abb. 2.1 Fixation einer Ratte zur subkutanen Injektion.
Rennmäuse dürfen niemals am Schwanz oder am Schwanzansatz ergriffen werden, da die Schwanzhaut sich leicht löst und ganz oder teilweise abgestoßen wird.
Rennmäuse und auch Hamster werden daher zwar auch im Nackenfell oder am Unterkiefer erfasst, aber gleichzeitig bleibt der Körper des Tieres in der hohlen Hand des Helfenden fixiert (▶ Abb. 2.2).
Abb. 2.2 Fixation eines Hamsters im Nackenfell.
2.2 Adspektion
Allgemeinbefinden
Ernährungszustand
Pflegezustand
Fortbewegung, Bewegungsapparat
Atmung
Schleimhäute
Haut, Haarkleid und Hautanhangsorgane
Augen
Ohren
Nase
Maulhöhle, Zähne und Backentaschen
2.2.1 Allgemeinbefinden
Die Adspektion des Patienten beginnt mit der Beurteilung des Allgemeinbefindens. Ein gesunder Kleinnager sollte an seiner Umgebung interessiert sein und auf sie reagieren. Solche Reaktionen fallen sehr unterschiedlich aus und richten sich stark nach der jeweiligen Haltungsform. Tiere, die den Umgang mit ihren Besitzern gewöhnt sind und Freilaufmöglichkeiten erhalten, stehen einer fremden Umgebung und dem Untersuchenden oft sehr aufgeschlossen und neugierig gegenüber. Nager, die ohne nennenswerten Menschenkontakt in ihrer Familiengruppe leben, versuchen in der Praxis dagegen eher zu flüchten oder sich zu verstecken. Vereinzelt können sie auch bissig erscheinen, wenn sie sich bedrängt fühlen und keine Ausweichmöglichkeit sehen.
Beim nachtaktiven Goldhamster ist zu berücksichtigen, dass ein Praxisbesuch in der Regel während der üblichen Ruhezeiten des Tieres stattfindet. Oftmals erfordert es einige Zeit, den Patienten zur Untersuchung behutsam zu wecken. Die anderen Kleinsäugerarten, bei denen sich Aktivitäts- und Ruhephasen abwechseln, sollten spätestens bei Ansprache oder vorsichtigem Berühren wach sein.
Wurden Kleinnager im Winter bei Kälte ohne Wärmflasche oder ähnliche Wärmequelle bzw. im Sommer bei großer Hitze transportiert, so beeinflusst dies ebenfalls ihr Verhalten und schränkt die Beurteilungsmöglichkeit ihrer Aktivität auch dann ein, wenn weder eine akute Unterkühlung oder ein Hitzschlag vorliegen. Grundsätzlich sollte der Besitzer aber auf die Auswirkungen der Temperaturschwankungen sensibilisiert werden, damit die Tiere in einer möglichst gleichmäßig temperierten Box windgeschützt transportiert werden.
Absolute Teilnahmslosigkeit ist in jedem Fall als eine Störung des Allgemeinbefindens zu beurteilen, muss unter Umständen jedoch von einer Schreckstarre differenziert werden.
2.2.2 Ernährungszustand
Eine exakte rein adspektorische Beurteilung des Ernährungszustands ist bei Kleinsäugern schwierig, da die Tiere bei gestörtem Allgemeinbefinden oft zusammengekauert und mit gesträubtem Fell in einer Ecke sitzen. Zudem kann der Ernährungszustand beispielsweise bei Mäusen mit gelocktem Fell oder beim Teddyhamster ebenfalls nicht nur durch eine Adspektion eindeutig beurteilt werden. Erst mithilfe der Palpation kann eine Aussage getroffen werden. Eine Abmagerung stellt sich durch herausstehende Dornfortsätze der Wirbelsäule, Beckenknochen und Rippen dar, während die erwähnten Knochenpunkte bei adipösen Tieren schlecht oder gar nicht zu ertasten sind.
2.2.3 Pflegezustand
Bei der Beurteilung des Pflegezustands des Patienten ist auf sauberes, trockenes Fell, kurze Krallen und saubere Pfoten zu achten. Während diese Kriterien auch grobe Rückschlüsse auf die Haltungsbedingungen zulassen, sprechen andere grundsätzlich für ein reduziertes Putzverhalten und damit für ein schlechtes Allgemeinbefinden. Hierbei stehen insbesondere Verschmutzungen im Anogenitalbereich sowie rötliche Verklebungen um Augen und Nase durch Reste des Harder’schen Drüsensekrets, die nicht beim Putzen im Fell verteilt wurden, im Vordergrund. Glanzloses, struppiges oder auch fettig aussehendes Fell kann einerseits auf unzureichende Haltungsbedingungen hinweisen (z. B. fehlendes Sandbad, Bad mit Quarzsand anstelle von Tonmineralsubstrat), aber auch ein Anzeichen für mangelnde Körperpflege bei schlechtem Allgemeinbefinden sein.
2.2.4 Fortbewegung, Bewegungsapparat
Es ist oftmals schwierig, die physiologische Fortbewegung eines Kleinsäugers unter Praxisbedingungen zu beurteilen, da sich das Tier auf dem Tisch oft entweder gar nicht bewegt oder versucht, hektisch zu flüchten. Bei ausreichender Größe des Transportkäfigs können jedoch die Einrichtungsgegenstände ausgeräumt werden, um dann die tierartspezifischen Bewegungen und die Belastung der Gliedmaßen innerhalb des Käfigs zu beurteilen.
Bei nach oben offenen Transportboxen ist dabei zu bedenken, dass manche Kleinnager ein ausgeprägtes Sprungvermögen besitzen und in Panik versuchen könnten zu flüchten. Die Box muss daher abgeschirmt werden, um Unfälle zu vermeiden.
Kleinnager können mit ihren Vorderpfoten sehr gut greifen. Um diese Funktion zu überprüfen, kann ein Leckerbissen gereicht werden, der unter Stressbedingungen jedoch oft verweigert wird. Mäuse und Ratten klettern häufig auf ihren Besitzern herum, sodass hierbei die Fähigkeit zum Greifen überprüft werden kann. Andernfalls muss der Besitzer anamnestisch...