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E-Book

Leitwölfe sein

Liebevolle Führung in der Familie

AutorJesper Juul
VerlagBeltz
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl232 Seiten
ISBN9783407865236
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis8,99 EUR
Kindern kann nichts Besseres passieren als Eltern, die liebevoll ihre Führungsrolle in der Familie wahrnehmen. Klare Entscheidungen treffen, dabei auch Unpopuläres durchsetzen und zu einem zeitgemäßen Autoritätsverständnis finden - der erfahrene Familientherapeut Jesper Juul ermutigt Mütter und Väter, einen Führungsstil zu entwickeln, an dem alle wachsen: Kleinkind, Teenager und nicht zuletzt die Eltern selbst. Die Neuausgabe wurde um Gespräche zu Schlafproblemen, Geschwisterstreit und weiteren Themen, die eine klare Führung der Erwachsenen verlangen, erweitert.

Jesper Juul (1948-2019) war einer der bedeutendsten und innovativsten Familientherapeuten Europas. Über 40 Jahre lang arbeitete der Däne mit Familien; seine Bücher sind Bestseller und wurden in viele Sprachen übersetzt. Sein »gelassener Optimismus« (Der Spiegel) wurde zu seinem Markenzeichen. Er gründete das familylab, das mit Elternkursen und Schulungen in Deutschland, Österreich, der Schweiz und 24 weiteren Ländern in Europa und Übersee aktiv ist.

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Leseprobe

Einleitung


Unsere Welt verändert sich schneller als jemals zuvor. Wir alle versuchen verzweifelt, Schritt zu halten und für uns selbst und unsere Kinder Anpassungsmöglichkeiten an den Wandel zu finden. Die gute Nachricht ist, dass wir dabei oft erfolgreich sind. Die Smartphones, Tablet-PCs, Apps und andere elektronischen Geräte, die heute im Umlauf sind, und ihr Einfluss auf das Leben sowohl des Einzelnen als auch der Familie sind anschauliche Beispiele. Wir haben die kritische, besorgte und defensive Haltung, die noch vor zehn Jahren im Hinblick auf die Fülle der technologischen Neuerungen vorherrschte, hinter uns gelassen und einen Punkt erreicht, an dem Schulkinder angespornt werden, sich auf elektronikfreie Tage oder Wochen einzulassen, und Familien spannende und wohltuende Mittel und Wege ersinnen, die Zeiten zu beschränken, in denen jeder den Blick auf das eigene Display heftet. Sehr viele entdecken den Wert der persönlichen Interaktion aufs Neue, und wenn Eltern den Mut haben, neue Maßstäbe zu setzen, folgen die Kinder bereitwillig.

Seit mehr als einer Generation versuchen die Gesellschaft als Ganzes und auch die meisten ihrer einzelnen Mitglieder, die Tatsache zu verarbeiten, dass heute jeder von uns – ungeachtet des Lebensalters – erheblich stärker, kompetenter und selbstbestimmter ist, als es früher möglich schien. Meine eigene Generation hat bedeutende Veränderungen in der Altenpflege auf den Weg gebracht, Kindergärten und Schulen sehen sich zu einem Kurswechsel in ihren Denk- und Verhaltensweisen gezwungen, und auch die Ehe und andere Liebesbeziehungen zwischen Erwachsenen fordern einen Einstellungswandel.

Die Suche nach einem gesunden Gleichgewicht zwischen unserem Wunsch nach Kooperation und Anpassung einerseits und dem Bedürfnis nach Integrität und persönlichen Grenzen andererseits ist heute mehr denn je in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt. Sind wir zu individuell und egozentrisch geworden oder gestatten wir uns noch Sozialisationsprozesse, die auch Kummer und Enttäuschungen mit sich bringen? Diese Suche ist eine große existenzielle Herausforderung, und viele Kinder, die verhätschelt und von den Eltern zum absoluten Mittelpunkt ihrer Lebenswelt gemacht wurden, halten nun − inzwischen erwachsen geworden − nach Möglichkeiten Ausschau, einen Beitrag zum Wohl anderer zu leisten. Sie und wir alle wissen, dass auch heute die Mehrzahl der Kinder auf Unterstützung und Ermutigung angewiesen ist, um ihr Potenzial voll zu entfalten.

Erziehungswissenschaftler, Pädagogen, Leute wie ich streiten über viele Themen, jedoch über eine Tatsache nicht. Bei diesem Thema gibt es keinen Zweifel und keine Debatte: Kinder brauchen Führung durch Erwachsene. Das wissen wir, weil es Kindern, die ohne diese Führung leben, schlecht geht – ob sie allein sind, nur unter anderen Kindern oder mit Eltern, die nicht führen können oder wollen. Eine Mutter hat mir einmal geschrieben, dass ihre zweijährige Tochter morgens nicht in den Kindergarten wollte. Wenn das Mädchen im Kindergarten ankam, ging alles wunderbar, aber vor der Fahrt dorthin weigerte sie sich, ins Auto zu steigen. Eines Tages hat die Mutter zufällig drei oder vier Gummibärchen im Auto gefunden und gesagt: »Wenn du jetzt kommst, kriegst du die Gummibärchen.« Zu der Zeit, als die Mutter mir den Brief schrieb, forderte ihre Tochter schon mindestens zweihundert Gramm Gummibärchen, wenn sie ins Auto einsteigen sollte, und die Mutter fragte: »Was mache ich jetzt?« Wir wissen alle, dass innerhalb weniger Monate die Gummibärchen nicht mehr funktionieren werden. Wie macht man das in einem solchen Fall mit der Führung? Die Antwort ist im Grunde einfach und trotzdem schwierig. Es geht darum, seine Kinder kennenzulernen, ihre persönlichen Grenzen kennenzulernen, sich diesen gegenüber respektvoll zu verhalten und mit seinen Kindern so authentisch wie möglich umzugehen. Das ist das Thema dieses Buches.

Kinder brauchen Eltern als Leitwölfe, damit sie sich im Dickicht des Lebens zurechtfinden. Sie brauchen Eltern, die manchmal – es gibt da keine genaue Zahl – klare Signale senden. Wir sehen heute viele Familien, in denen die Eltern so große Angst haben, ihren Kindern zu schaden oder sie zu verletzen, dass die Kinder zu Leitwölfen werden. Und die Eltern streifen orientierungslos durch den Wald. Meine Generation hat noch geglaubt, es sei ganz einfach. Wir dachten, wenn wir einfach das genaue Gegenteil dessen leben, was unsere Eltern gemacht haben, sei alles okay. Doch es war nicht alles okay, und auch die Männer und Frauen, die heute Eltern werden, haben kaum eine Vorstellungen davon, wie man als Familie so zusammenleben kann, dass alle zu ihrem Recht kommen. Man kann natürlich als Individuum sehr starke Wertvorstellungen mitgebracht haben – aus der eigenen Familie oder aus der Gegend, dem Land oder der Kultur, aus denen man stammt –, aber eine gemeinsame deutsche, bayerische oder dänische Sammlung von Werten gibt es nicht. Das macht das Leben natürlich schwieriger. Entweder lebt man als Familie von Konflikt zu Konflikt, was dahin führt, dass es eine Riesennachfrage nach Lösungen gibt, die es nicht geben kann. Oder man muss reflektieren und nachdenken. Man muss sich miteinander unterhalten, und man muss sich fragen: Was will ich als Basis für meine Familie, was will ich als Fundament für unser gemeinsames Heim? Und was finde ich so wertvoll, dass ich es meinen Kindern gern mitgeben möchte, weil ich glaube, dass es auch in zwanzig oder fünfzig Jahren noch wertvoll sein wird? Diese Fragen sind einfach zu stellen, aber sie sind nicht einfach zu beantworten. Und wie jede Krise bringt auch diese sowohl Leid als auch Potenzial für Wachstum und Veränderung mit sich.

Das Grundgeflecht jeder Gesellschaft ist die Familie. Ungeachtet der Vielfalt der Familienkonstellationen und der hohen Scheidungsraten handelt es sich um Beziehungen, die auf dem Fundament der Liebe errichtet sind. In Europa konnten wir eine allmähliche Entwicklung von dem, was ich »Wir-Familie« nenne, zur »Ich-Familie« beobachten. Jedes einzelne Familienmitglied hat heute Zugriff auf die unendlichen Chancen einer globalen Welt und somit auf lebenslange, folgenschwere Wahlmöglichkeiten. Die Qualität dieser Wahlmöglichkeiten hängt weitgehend vom Selbstwertgefühl und den Leitwerten ab, die im Verlauf der Entwicklung vielleicht durch neue ersetzt werden oder langfristig Bestand haben. Eine Fülle von Faktoren – auf ökonomischer, soziologischer, psychologischer und demografischer Ebene – trieb diesen Prozess des Wandels voran.

In einigen Ländern werden inzwischen erste Anzeichen sichtbar, dass Menschen nach Möglichkeiten suchen, die Ich-Familie anzupassen, um sich auf neue Weise in die eigene erweiterte Familie, in die lokale Gemeinschaft, in Migranten- und andere soziale Gruppen einzubringen. Die wirtschaftlichen Umstände legen nahe, sich eingehender mit der Betreuung unserer älteren Mitbürger zu befassen, und alle diese Bestrebungen setzen voraus, dass wir über Begriffe wie »Gebende« und »Nehmende« hinausdenken. Es gilt, neue Wege einzuschlagen, um Werte und Prinzipien wie die Würde des Menschen, persönliche Grenzen, Authentizität und Empathie in unser Denken und Handeln einzubeziehen.

Ein Text in diesem Buch (Kapitel 7) greift die Frage auf, ob wir uns tatsächlich dafür einsetzen, Stärke und Gesundheit unserer Kinder zu fördern. Das Gleiche gilt für Erwachsene. Die politische Agenda in Europa verlangt Leistung, Wettbewerb und Individualismus, die bekanntlich extrem ungesund für Kinder und Erwachsene sind. Um uns nicht an diese sozialen Normen automatisch anzupassen, brauchen wir klare Wertvorstellungen. Wenn das Fundament einer Gesellschaft sich ändert, müssen auch die alten Begriffe einer Untersuchung unterzogen und gegebenenfalls neu definiert werden: persönliche Autorität, individuelle Verantwortung (Kapitel 1), die Paradoxie der Macht (Kapitel 8). Wie gelangen wir zu den Maximen, die unser Leben bestimmen sollen? Nach wessen Vorstellungen wollen wir leben? Salopp gesagt: Wer ist hier der Bestimmer?

Seit im Zuge der antiautoritären Bewegung und des Kampfes der Frauen um Gleichberechtigung in den Siebzigerjahren die traditionelle westliche Kernfamilie sich aufzulösen begonnen hat, steckt das Konzept elterlicher Führung in einer Art Identitätskrise. Früher war die Sache klar: Der Patriarch führte die Familie an. Der Chef führte die Firma, der Lehrer bestimmte, was in der Schule passierte. Es besteht kein Zweifel, dass die Auflehnung gegen den autoritären Führungsstil von Staatsoberhäuptern, Regierungen, Bürokraten, Lehrern , Eltern und anderen unumgänglich war. Sie hatte zahlreiche positive Auswirkungen sowohl auf die Gesellschaft als auch...

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