|26|2 Grundlagen des Lernens
Beispiel
Der 3-jährige Max sitzt im Kinderzimmer und reiht seine Spielzeugautos aneinander. Seine Mutter setzt sich dazu und fängt spontan an, die Autos zu zählen. Max hört interessiert zu. Nachdem die Mutter alle Autos gezählt hat, bittet Max sie, die Autos erneut zu zählen. Auch er steigt nun in dieses Abzählspiel ein. Von da an nutzt er im Alltag – ob beim Einkaufen, Warten auf den Bus oder Besuch im Zoo – jede Gelegenheit, um Dinge zu zählen. Recht schnell gelingt es ihm, die Zahlen in der korrekten Reihenfolge zu benennen.
Dieses Beispiel verdeutlicht, dass wir nur dann etwas Neues lernen, wenn wir uns das Gelernte durch Wiederholung einprägen. Nur dann gelingt es, zu einem späteren Zeitpunkt das Gelernte auch wieder erinnern zu können. Beim Lernen kommt es also auf das Gedächtnis an. Wie funktioniert jedoch unser Gedächtnis und wie ist es organisiert? Und was passiert in unseren Köpfen, wenn wir etwas Neues lernen oder Gelerntes erinnern? Welche Bedingungen fördern oder hemmen Lern- und Gedächtnisvorgänge? Mit der Klärung dieser Fragen beschäftigen sich die nachfolgenden Abschnitte.
2.1 Lernen und Gedächtnis
Lernen und Gedächtnis sind eng miteinander verbunden. Erfahrungen und Lernen verändern das Verhalten (z. B. in Form eines Wissenszuwachses oder dem Erwerb neuer Fertigkeiten). Für den Erhalt und den Abruf des Gelernten bedarf es einer entsprechenden Speicherstruktur: dem Gedächtnis. Das Gedächtnis lässt sich hinsichtlich Gedächtnisprozesse, der Verweildauer von Informationen im Gedächtnis und nach Inhalten einteilen.
|27|Merke
Während Lernen dem Erwerb von Fakten (Wissen) oder Fertigkeiten (Können) dient, stellt das Gedächtnis eine Struktur dar, die gewährleistet, dass Informationen (Gelerntes) gespeichert und abgerufen werden können. Wissen und Fertigkeiten bilden die Ergebnisse des Lernens und damit die Inhalte des Gedächtnisses.
2.1.1 Gedächtnisprozesse
Das Gedächtnis stellt jene kognitive Struktur dar, mit der Informationen aufgenommen, eingespeichert (enkodiert), langfristig gespeichert (konsolidiert) und bei Bedarf wieder abgerufen werden können. Diese Gedächtnisprozesse stellen grundlegende Voraussetzungen für das Lernvermögen dar. Dabei sind verschiedene Gehirnregionen beteiligt (vgl. Güntürkün, 2019). Das limbische System mit Hippocampus und Amygdala spielt beispielsweise eine wesentliche Rolle bei der Enkodierung und beim Abruf von Informationen, aber auch bei der Verarbeitung emotionaler Reize. In der Hirnrinde (Cortex) können Informationen über sehr lange Zeiträume gespeichert werden. Das Kleinhirn (Cerebellum) ist zentral für das Erlernen motorischer Reaktionen.
Merke
Das Gedächtnis dient der Aufnahme, Einspeicherung, Speicherung, Modifikation und dem Abruf von Informationen. Seine vielfältigen Funktionen erfordern die Beteiligung verschiedener Regionen des Gehirns.
Informationsaufnahme. Die Aufnahme und Registrierung von Informationen hängt unter anderem von der Aufmerksamkeit, die man aufwendet, und auch von der emotionalen Bedeutung einer Information ab (Arndt & Sambanis, 2017). An emotional bedeutsamere Informationen kann sich der Lernende später besser und detailgenauer erinnern als an neutrale Informationen (Brand & Markowitsch, 2006). Viele kürzere Lerneinheiten (verteiltes Lernen) sind darüber hinaus effektiver als wenige lange Lerneinheiten (massiertes Lernen). Dies ist damit zu erklären, dass die beteiligten neuronalen Strukturen während der Lernpausen weiterhin aktiv sind und die Informationen weiterverarbeiten. Auf diese Weise können sich Erinnerungen festigen (Konsolidierung). Außerdem stehen beim verteilten Lernen mit größerer Wahrscheinlichkeit viele unterschiedliche Kontexte zur |28|Verfügung, die später beim Abruf der gelernten Inhalte helfen (Buchner, 2012).
Einspeicherung. Dieser Prozess (auch Enkodierung genannt) erfolgt mehrstufig. Informationen werden, nachdem sie von einem Sinnesorgan registriert wurden, im Gedächtnis in eine entsprechende Form (z. B. in Form von Sprache, Bildern oder Szenen) umgewandelt. Es wird also eine Art inneres Abbild dieser Informationen (mentale oder auch kognitive Repräsentation) für die weiterführende Verarbeitung erstellt (Schandry, 2016).
Der spätere Abruf von Gedächtnisinhalten wird erleichtert, wenn das Lernen und der Abruf von Inhalten in einer ähnlichen Umgebung stattfinden. Dies ist der Fall, weil die Merkmale des Kontextes als Hinweise für den Abruf der Gedächtnisinhalte dienen können (Buchner, 2012). Dieser Effekt wird als Enkodierspezifität bezeichnet.
Der Prozess des Einspeicherns kann darüber hinaus durch den gezielten Einsatz von Lern- und Gedächtnisstrategien gefördert werden. Dazu gehören Strategien des Wiederholens, des Kategorisierens und des Elaborierens (Schneider & Berger, 2014). Unter Kategorisieren (auch als Organisieren bezeichnet) versteht man das Ordnen von Lerninhalten nach Oberbegriffen. Beim späteren Abruf dient das Kategorisieren als Orientierungshilfe. Elaborieren bedeutet, dass neue Begriffe durch inhaltliche, sprachliche oder bildliche Verknüpfungen mit bereits bekannten Begriffen in Zusammenhang gebracht werden (Bildung von „Eselsbrücken“). Weitere elaborative Techniken bestehen darin, sich selbst Fragen zum Lernstoff zu stellen oder Lerninhalte durch das Anfertigen von Schaubildern oder Tabellen zu strukturieren und zu visualisieren.
Beispiel
Lernstrategien lassen sich gut am Beispiel des Vokabellernens verdeutlichen. Vokabeln müssen meistens durch mehrfaches Lesen und Aufsagen gelernt werden, damit sie sich einprägen (Wiederholung). Vokabeln wie cat, bread, cloud, cheese, mouse, sun und dog können leichter gelernt werden, wenn sie nach Kategorien (z. B. „Tiere“, „Essen“, „Wetter“) geordnet werden (Organisieren). Bei ähnlichen Wörtern kann man Eselsbrücken bilden (Elaborieren). Das englische Wort dog für Hund zum Beispiel klingt so ähnlich wie das deutsche Wort „Dogge“, sodass sich ein Schüler/eine Schülerin das Wort mithilfe des Satzes: „Die Dogge ist ein Hund (dog).“ merken könnte. Als weitere Merkhilfe könnte der Schüler/die Schülerin zum Beispiel die genannten Objekte zeichnen und mit den englischen Wörtern beschriften.
|29|Um Kindern – sei es im Kindergarten- oder Schulalter – beim Einprägen und Erinnern von Wissen zu unterstützen, müssen der Entwicklungsstand und die Lernvoraussetzungen berücksichtigt werden. Gedächtnisstrategien von Kindern entwickeln sich dabei schrittweise (vgl. Tab. 3). So beginnen Kinder erst im Schulalter, Strategien selbstständig einzusetzen, die ihnen beim Einprägen und Erinnern neuer Inhalte helfen. Imhof (2016) gibt einen Überblick zu Lernstrategien in bestimmten Entwicklungsphasen, die Lehrkräfte im Unterricht vermitteln können.
Tabelle 3: Wie Kinder die Gedächtnisleistung durch den Gebrauch von Strategien verbessern (nach Schneider & Berger, 2014)
Mediationsdefizit | Jüngere Kindergartenkinder nutzen selten Gedächtnisstrategien spontan und auch bei gezielter Anleitung verbessert sich die Gedächtnisleistung nicht. |