In Anlehnung an die Einleitung soll in diesem Kapitel als theoretische Basis zunächst eine Klärung des Begriffs der phonologischen Bewusstheit erfolgen, um danach einen Bezug zum Berliner Rahmenlehrplan der Grundschule herstellen zu können. Darauf folgend wird der Einfluss der phonologischen Bewusstheit auf die Lese-Rechtschreibkompetenz sowie deren Bedeutung für Schulanfänger beschrieben.
Phonologische Bewusstheit beschreibt die Fähigkeit, die Aufmerksamkeit von der Bedeutung der Sprache abzuwenden und auf den formalen, lautlichen Aspekt zu lenken.[18] Sie ist folglich die Kompetenz, sprachliche Einheiten wie Wörter, Silben und Phoneme[19] identifizieren und differenzieren zu können.
Die phonologische Bewusstheit ist eine der drei Teilbereiche der »phonologischen Informationsverarbeitung«.[20] Darunter versteht man »… allgemein die Nutzung von Information über die Lautstruktur bei der Auseinandersetzung mit gesprochener bzw. geschriebener Sprache«.[21] Die folgende Tabelle veranschaulicht die drei Teilbereiche der phonologischen Informationsverarbeitung:
Tab. 1: Die drei Teilbereiche der phonologischen Informationsverarbeitung nach Wagner/Torgesen[22]
Man unterscheidet zwischen der »phonologischen Bewusstheit im weiteren Sinn« und der »phonologischen Bewusstheit im engeren Sinn«.[23]
Die phonologische Bewusstheit i. w. S. bezieht sich auf die Gliederung des Sprechstromes, die sich an der „Oberfläche“ und den Merkmalen konkreter Lautbildung orientiert, und beinhaltet einfachere phonologische Kompetenzen wie
Reimerkennung und Reimproduktion sowie
Gliederung von Wörtern in Silben (Segmentierung).
Diese Aufgaben haben einen sprechrhythmischen Bezug und können häufig auch schon von Kindern im Vorschulalter bewältigt werden.
Die phonologische Bewusstheit i. e. S. bezieht sich auf die Gliederung von Lautfolgen nach einzelnen Phonemen und beinhaltet spezifische Fähigkeiten wie
Anlaute (sowie In- und Endlaute) identifizieren,
Phonem-Syntheseaufgaben (Synthese von Dehnsprache),
Phonem-Analyseaufgaben (Anzahl der Phoneme in einem Wort)
sowie bei zunehmendem Schriftspracherwerb
Wortlängen-Vergleichsaufgaben,
Silben neu zusammensetzen,
Bedeutungsunterscheidung durch Entfernen des Anlauts,
Lautumstellungen (Lautsynthese mit Umkehraufgabe).
Die Fähigkeit, Lautunterscheidungen vorzunehmen, entwickelt sich meist erst vollständig in der Auseinandersetzung mit dem alphabetischen Schriftsystem. Deshalb wird die phonologische Bewusstheit im engeren Sinn am besten durch den Umgang mit Schrift - also beim Schriftspracherwerb - und nicht ausschließlich durch isolierte Trainingsmaßnahmen gefördert.
All dies zeigt, dass die phonologische Bewusstheit sowohl als basale Kompetenz (Bereich Wahrnehmung) als auch als sprachliche Kompetenz (Lernbereich Deutsch) aufgefasst werden kann (vgl. Abb. 1 Interdependenz der zu überprüfenden Entwicklungsbereiche bei Schulanfängern): Versteht man sie allgemein als basale Kompetenz, geht es darum, distinktive lautliche Einheiten überhaupt wahrzunehmen. Versteht man sie hingegen als sprachliche Kompetenz, geht es darum, zu Einsichten in Sprache und Schrift zu gelangen. Die phonologische Bewusstheit scheint sowohl eine wesentliche Voraussetzung als auch ein wichtiger Begleitprozess für schulisches Lernen im Allgemeinen und das Erstlesen/-schreiben im Speziellen zu sein.
Die vier Aufgabenbereiche des Deutschunterrichts »Sprechen und Zuhören«, »Lesen - mit Texten und Medien umgehen«, »Schreiben - Texte verfassen/Rechtschreiben« und »Sprache und Sprachgebrauch untersuchen« greifen integrativ ineinander. »Der Schriftspracherwerb ist kein eigener Bereich, sondern ist Bestandteil der verschiedenen Aufgabenbereiche […]. […] Alle weiteren schulischen Anforderungen können die Schüler […] nur dann bewältigen, wenn sie lesen und schreiben können. Es sind daher Lernbedingungen zu schaffen, unter denen […] jeder Schüler die Schriftsprache erlernt [vgl. 5.3 Organisatorisch-methodische Rahmenbedingungen der Förderung]. Am Anfang der Schriftsprache ist eine diagnostische Erfassung der Lernausgangslage notwendig [vgl. 3.2 Durchführung der Lernstandserhebungen], um die […] Schüler im Unterricht ihren individuellen Lernprozessen differenziert fördern zu können. Durch regelmäßige Beobachtungen, Dokumentation und Förderung der Lernentwicklung werden die weiteren Lernprozesse begleitet [vgl. 1 Lernstandserhebungen in der SAPH]. Der Schriftspracherwerb umfasst die Jahrgangsstufen 1 und 2.«[24] Auch wenn der Terminus »Phonologische Bewusstheit« im Berliner RLP nicht ausdrücklich genannt wird, finden sich in ihm Inhalte, die auf phonologische Kompetenzen zielen, wie z. B.
Wörter in Einzellaute gliedern
Lautstellung und -folge in Wörtern bestimmen
Lauten Buchstaben zuordnen
Wörter in Silben gliedern
Analyse und Synthese anhand von Wörtern
Erfassen der Buchstaben-Laut-Struktur
Die phonologische Bewusstheit stellt eine Vorläuferfähigkeit für den Schriftspracherwerb dar (vgl. 2.4 Zur Bedeutung der phonologischen Bewusstheit bei Schulanfängern) und wird explizit in LauBe und in der Überprüfung grundlegender Kompetenzen dargelegt (Hrsg. v. SenBJS). Es erfolgt somit lediglich eine latente Berücksichtigung im Berliner RLP.
Wie vorangehend bereits beschrieben, geht es bei der phonologischen Bewusstheit um »die Fähigkeit von Kindern, die Lautstruktur der gesprochenen Sprache zu analysieren und ggf. zu manipulieren«.[25] Ferner unterscheidet man zwischen der phonologischen Bewusstheit i. w. S., die sich auf größere lautliche Einheiten wie Wörter, Silben und Reime bezieht, und der phonologischen Bewusstheit i. e. S., die sich auf die Phone[26] nach ersten Erfahrungen mit dem orthografischen System beim Leselehrgang bezieht. Hier deutet sich bereits die unmittelbare Verknüpfung der phonologischen Bewusstheit mit den Schriftsprachfertigkeiten an. Man geht von einem reziprok-kausalen Wirkungsmuster aus, in dem sich die Leistungen der phonologischen Bewusstheit und der Lese-Rechtschreibleistungen gegenseitig beeinflussen. Um dies zu veranschaulichen, bietet sich das »Modell der zweifachen Zugangswege nach Coltheart« an, das zwei Möglichkeiten der Worterkennung beim Lesen beschreibt:[27]
Abb. 2: Modell der zweifachen Zugangswege beim Worterkennen nach Coltheart
Das Modell zeigt die beiden Möglichkeiten des Lesens: Zum einen die phonologische Rekodierung, also »indirektes Lesen«[28] über das Lautieren der einzelnen Buchstaben, und zum anderen den »direkten Zugang«[29], indem die Wörter ohne die Übersetzung der einzelnen Buchstaben in Laute abgerufen werden. Selbst geübte Leser bedienen sich hin und wieder noch dieses indirekten Zugangs: Jeder Erwachsene kennt dies bei schwierigen Texten, indem er bei komplizierten und unbekannten Wörtern ebenfalls phonologisch rekodiert („lautiert“), um zu einer Sinnentnahme zu gelangen. Je mehr sich - insbesondere bei Leseanfängern, aber auch bei Erwachsenen - ein mentales Lexikon ausbildet, desto leichter gelingt der direkte Zugang, nämlich die unmittelbare Identifikation einer Buchstabenfolge als ein entsprechend gespeichertes Wort. Ungeübte Leser - also Grundschulkinder - nutzen demzufolge vor allem die („indirekte“) phonologische Rekodierung zur Worterkennung.[30] Diese Zerlegung der geschriebenen Wörter in Einzelbuchstaben, deren Verknüpfung mit den entsprechenden Einzellauten und letztendlich deren korrekte Synthese, ist umso besser und treffsicherer möglich, je ausgeprägter die Einsicht in die basalen Einheiten der Sprachwahrnehmung und -produktion ist.[31] Unter Berücksichtigung dieser theoretischen Überlegungen und in Bezug auf das nachfolgende Kapitel bedeutet dies für die unterrichtsrelevante Praxis in der...