Theorien haben die Funktion Beobachtungen zu vereinfachen, sie auf das Wesentliche zu reduzieren und zu systematisieren. Eine Theorie kann als „[…] eine Ansammlung miteinander in Beziehung stehender Aussagen definiert werden, deren wichtigste Funktion es ist, Beobachtungen (von denen angenommen wird, es seien Tatsachen) zusammenzufassen und zu erklären. Einige dieser Aussagen kann man als Gesetzmäßigkeiten, andere als Prinzipien bezeichnen. Aber die meisten von ihnen sind weder das eine noch das andere. Man sollte sie am besten als Annahmen bezeichnen“[36]
In der Psychologie basieren die meisten Theorien weniger auf Gesetzmäßigkeiten als vielmehr auf Prinzipien und Annahmen.
Im Laufe der Zeit wurden eine Vielzahl von Theorien und Modellen entwickelt, die versuchen menschliche Lernprozesse zu erklären. Nach Lefrancois sind „Lerntheorien […] Versuche, die Kenntnisse über das Lernen zu systematisieren und zusammenzufassen.“[37] Sie unterscheiden sich nicht nur hinsichtlich der Vorstellungen wie menschliche Lernprozesse ablaufen, sondern auch hinsichtlich ihrer Ansichten über die Rolle von Lehrenden und Lernenden sowie ihren Vorstellungen von Wissen und der damit verbundenen Wissensvermittlung. Lerntheorien versuchen, Aussagen darüber zu machen, unter welchen Bedingungen optimales Lernen eintritt und unter welchen nicht. Im Folgenden werden behavioristische, kognitive und konstruktive Theorien zum Lernen dargestellt und kritisch bewertet.
3.1 Behaviorismus – Lernen als Veränderung von Verhaltensweisen
Die Ergebnisse ursprünglicher psychologischer Theorien basierten vor allem auf der Auseinandersetzung mit geistigen Prozessen. Die Untersuchung eigener Gefühle und Motive sowie die anschließende Generalisierung der „Ergebnisse“ auf andere Menschen galten unter den frühen Psychologen als geeignete Methode, Anschauungen darzustellen. Behavioristische Lerntheorien entwickelten sich als Gegenreaktion auf die bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts dominierende „Bewusstseinspsychologie“. Man wollte die Psychologie zu einer exakten Naturwissenschaft machen, indem man die Forschungen auf das von außen zu beobachtende Verhalten und dessen Veränderungen beschränkte. Aufgrund der ausschließlichen Betrachtung von beobachtbaren Verhaltensweisen wurde diese Bewegung später unter dem von John B. Watson geprägten Ausdruck Behaviorismus bekannt. Behavioristische Lerntheorien übten auf die zeitgenössische Psychologie sowie auf die Gestaltung von Lernprozessen bedeutenden Einfluss aus.[38]
In behavioristischen Lerntheorien wird Lernen als beobachtbare Verhaltensänderung aufgefasst. Phänomene wie menschliches Bewusstsein oder Wahrnehmung spielen bei diesen Theorien keine Rolle. Das Gehirn wird als so genannte „black box“ aufgefasst, die auf einen bestimmten Input deterministisch reagiert. Demnach wird das Gehirn als ein passiver Behälter verstanden, der mit Inhalten gefüllt werden muss. Behavioristen vertreten die Überzeugung, dass jedes Verhalten durch Umwelteinflüsse zu steuern und zu verändern ist.
Die dem Behaviorismus zugrunde liegende Position ist dem Objektivismus zuzuordnen. Nach objektivistischer Sichtweise wird davon ausgegangen, dass Wissen unabhängig vom Lernenden existiert und exakt mit der Wirklichkeit übereinstimmt. Das Wissen über bestimmte Eigenschaften und Merkmale von Umweltobjekten ist demnach objektiv und für jeden gleich vorhanden. Unterschiedliche Sichtweisen und Meinungen beruhen also auf einer fehlerhaften Wahrnehmung der externen Welt. Lernen besteht nach objektivistischer Auffassung in der „[…] Übermittlung äußerlich existierenden Wissens an ein lernfähiges Individuum.“[39]
Zu den Vertretern behavioristisch orientierter Lerntheorien gehören unter anderem Edwin R. Guthrie, Clark L. Hull, Kenneth Spence sowie John B. Watson, Iwan P. Pawlow und Edward L. Thorndike, deren Theorien im Folgenden näher erläutert werden.
Der Amerikaner John B. Watson (1878-1958) gilt als Begründer des Behaviorismus (Behavior = Verhalten). Das Lernmodell von Watson basiert vor allem auf den Untersuchungen des russischen Physiologen Iwan Petrowitsch Pawlows (1849-1936). Dieser entwickelte durch Untersuchungen an Tieren das Modell der klassischen Konditionierung. Man bezeichnet diese Art des Lernens auch als Reiz-Reaktions- (oder Stimulus-Response-) Lernen, Signallernen oder reaktives Lernen. Pawlow benutzte für seine Experimente vorwiegend Hunde, berühmt wurde er durch den so genannten „Pawlowschen Hund“.
Dieser Begriff steht für die Untersuchungen Pawlows zur Speichelabsonderung von Hunden. Gelangt Nahrung in den Mundraum, wird zur Vorverdauung unwillkürlich Speichel abgesondert. Es handelt sich hierbei also um eine unkonditionierte (ungelernte) Reaktion. Die Nahrung, im Falle Pawlows Fleischpulver, wird als unkonditionierter Stimulus betrachtet. Im Laufe seiner Untersuchungen bemerkte Pawlow, dass einige Hunde schon beim Anblick des Fleischpulvers Speichel absonderten. Um eine wissenschaftliche Erklärung für dieses Verhalten zu finden, führte er verschiedene Experimente durch, in denen er während oder kurz vor der Fütterung einen Signalton erklingen oder eine Lampe aufleuchten ließ. Nach mehrmaligen Wiederholungen zeigten der Ton oder das Aufleuchten der Lampe schließlich die gleiche Wirkung wie die Futtergabe. Die vorher neutralen Reize „Ton“ und „Licht“ sind zu reaktionsauslösenden, konditionierten Reizen geworden. Die Reaktion, die auf einen konditionierten Stimulus ausgelöst wird, bezeichnet man als konditionierte Reaktion.
Vor der Konditionierung:
Lernergebnis:
Abbildung 3: Schematische Darstellung der klassischen Konditionierung
Durch die klassische Konditionierung wird keine neue Reaktion gelernt, der Lernprozess besteht vielmehr darin, dass eine neue Reiz-Reaktions-Verbindung aufgebaut wird. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass der zu erlernende Reiz und der reaktionsauslösende Reiz zeitlich zusammenfallen. Je häufiger der Konditionierungsvorgang stattfindet, desto stärker ist die neu erlernte Reiz-Reaktions-Verbindung.
Watson ging von der Annahme aus, dass allein die Umwelt für die Entwicklung eines Menschen verantwortlich ist. „Sein wahrscheinlich meist zitierter Ausspruch ist seine Behauptung, er sei imstande, aus 12 gesunden Säuglingen das zu machen, was immer er wolle, wenn man ihm freie Hand bei der Gestaltung ihrer Umwelt ließe.“[40] Er vertrat die Auffassung, dass auch emotionales Verhalten von Menschen auf klassischer Konditionierung beruht. Um seine Vermutung zu belegen, führte er ein Experiment durch, in dem er einen elf Monate alten Jungen (den „kleinen Albert“) so konditionierte, dass dieser beim Anblick einer weißen Ratte Angstreaktionen zeigte. Vor dem Beginn des Experimentes löste die Ratte keine Furcht aus, sie konnte dementsprechend als neutraler Reiz betrachtet werden. Nach mehrmaliger Darbietung des Tieres mit einem lauten, angstauslösenden Geräusch reagierte der Junge schließlich mit Furcht auf den Anblick der Ratte.
Die Psychologen Edward Lee Thorndike (1874-1949) und Burrhus Frederick Skinner (1904-1990) erweiterten die behavioristischen Ansätze um das Modell der Operanten Konditionierung. Gage und Berliner beschreiben das Prinzip der Operanten Konditionierung wie folgt: „Diese Art von Lernen heißt operantes Konditionieren, weil das in Betracht kommende Verhalten im handelnden Umgang (= operant) mit der Verstärkung spontan auftritt.“[41] Im Gegensatz zur klassischen Konditionierung spielt also bei der operanten Konditionierung der reaktionsauslösende Reiz keine Rolle. Untersucht wird vielmehr, wie sich unterschiedliche Konsequenzen auf ein bestimmtes Verhalten auswirken.
Thorndike benutzte für seine Experimente hungrige Katzen, die er ohne Nahrung in einen Käfig einsperrte. Um an einen Futternapf zu gelangen mussten sie einen in dem Käfig befindlichen Hebel drücken, der bewirkt dass sich die Tür öffnet. Er machte die Beobachtung, dass die Katzen anfangs scheinbar zufällig alle Verhaltensweisen zeigten, zu denen sie fähig waren. Nachdem sie allerdings mehrmals zufällig den Hebel gedrückt und als Belohnung Futter bekommen hatten, zeigten sie diese Verhaltensweise häufiger als andere.
Thorndike schlussfolgerte aus seinen Beobachtungen, dass Lernen durch Versuch und Irrtum zustande kommt. Er ging davon aus, dass Verhaltensweisen in Abhängigkeit von ihren jeweiligen Konsequenzen ausgewählt und verändert werden. Verhaltensweisen die kurz vor einem angenehmen Zustand gezeigt werden treten mit hoher Wahrscheinlichkeit häufiger auf. Dagegen vermindert sich die Auftretenshäufigkeit einer Verhaltensweise, wenn ihr eine unangenehme Konsequenz folgt. „Eine...