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Libyen

Hintergründe, Analysen, Berichte

AutorAwni S. Al-Ani, Gerd Bedszent, Ines Kohl, Karin Leukefeld, Rami Salem¤, Stefan Brocza, Thomas Hüsken
VerlagPromedia Verlag
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl208 Seiten
ISBN9783853718094
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis13,99 EUR
Der Band beleuchtet die Hintergründe des libyschen Machtkampfes und versucht, Antworten auf die brennendsten Fragen zu geben: Wie kam es dazu, dass ein ursprünglich revolutionäres, antikolonialistisches Projekt der Herrschaft des Volkes zu einer Diktatur über das Volk verkommen ist? Was ist vom neuen Libyen zu erwarten? Kommt es gar zu einer Teilung des Landes? Und welche Interessen vertritt der Westen tatsächlich mit seinen Bomben und Marschflugkörpern?

Fritz Edlinger, geboren 1948 in Wien, ist Generalsekretär der 'Gesellschaft für Österreichisch-Arabische Beziehungen'. Gemeinsam mit Erwin M. Ruprechtsberger veröffentlichte er 2010 den Band 'Libyen. Geschichte - Landschaft - Gesellschaft - Politik' bei Promedia.

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Leseprobe

Vorwort


Fritz Edlinger


Im Dezember 2009 habe ich in das Vorwort in dem von mir gemeinsam mit Erwin Ruprechtsberger herausgebrachten Buch über Libyen1 geschrieben: „Die Libysch-Arabische Volks-Dschamahirija ist zweifellos auf dem Weg der Öffnung und dies ist ein – trotz mancher äußerer und innerer Widerstände – irreversibler Prozess. Wohin diese Öffnung letztlich führen wird, ist derzeit noch nicht mit Sicherheit zu sagen, aber die Dinge sind in Bewegung geraten.“ Zu diesem Zeitpunkt existierten weder organisierte Rebellengruppen in der Kyrenaika noch Hinweise darauf, dass der Westen solche unterstützen würde. Die erste Prognose meiner damaligen Einschätzung ist – und das kann man heute (dieses Vorwort wurde am Tage des Eindringens der Rebellentruppen in Tripolis am 22. August 2011 verfasst) mit Sicherheit sagen – tatsächlich eingetreten, wenngleich auch in einer für viele überraschenden Art und Weise. Die zweite Aussage erwies sich als noch zutreffender. Ohne Zweifel wird die libysche Rebellion in absehbarer Zeit den endgültigen Sieg davontragen. Was aber danach kommen wird, ist ungewiss. Dieses Buch, dessen Beiträge ohne Ausnahme zu einem Zeitpunkt verfasst wurden, da die militärischen Auseinandersetzungen gerade ein, zwei oder drei Monate im Gange waren, will also nicht in erster Linie die Ausgestaltung des politischen Systems im neuen Libyen behandeln. Sondern die aus meiner Sicht zumindest ebenso spannenden Fragen, wie es zu den jüngsten Entwicklungen kommen konnte und wie die strukturellen Grundprobleme der libyschen Gesellschaft lauten. Dies ist – vor dem endgültigen Niedergang des 42 Jahre andauernden Systems der Volksherrschaft – eine riskante Angelegenheit und ich möchte mich auch an dieser Stelle bei den Autorinnen und Autoren dieses Buches herzlich für ihren Mut, mich bei diesem heiklen politik- und sozialwissenschaftlichen Experiment zu unterstützen, bedanken. Wir haben versucht, die komplexe und in vielen Aspekten dem durchschnittlichen Publikum kaum bekannte innere Beschaffenheit dieses nordafrikanischen Staates näher zu analysieren. „Wie kam es dazu?“ lautete unsere Fragestellung, aber auch: „Wie wird/kann es weitergehen?“.

Bei der Auswahl der Autorinnen und Autoren für dieses Buch haben wir in keiner Weise auf die politische Zuordnung geachtet, wichtig war uns die fachliche Kompetenz, das Wissen um bestimmte Zusammenhänge, die persönliche Erfahrung und auch da und dort die Originalität der zu erwartenden Beiträge. Insofern ist uns – ich hoffe sehr, dass sich unsere eigene Einschätzung mit jener der Leserinnen und Leser decken wird – ein Buch gelungen, das interessante und bislang kaum bekannte Details öffentlich macht. Wer sich eine Kampfschrift für oder gegen eine der beiden Konfliktparteien des jüngsten Bürgerkriegs2 erwartet, wird enttäuscht sein. Dies war kein ausschlaggebendes Kriterium bei der Auswahl der Beiträge. Man wird massive Kritiker des alten Systems ebenso finden wie Skeptiker und offene Kritiker der NATO-gestützten Rebellion.

Somit möchte ich mir noch einige persönliche Einschätzungen erlauben, wobei ich bewusst auf eine vordergründige Stellungnahme zu den jüngsten Ereignissen verzichte. Dies wird zum Teil ohnedies in einigen der folgenden Beiträge getan, zum anderen möchte ich an dieser Stelle einzelne Aspekte beleuchten, die zweifellos die zukünftigen politischen Verantwortlichen in Libyen aber auch in der gesamten Region beschäftigen werden.

Da ist zu einem die Rolle der Jugend in der libyschen Rebellion, die im Gegensatz zu Tunesien und Ägypten in den Berichten der letzten Wochen und Monate kaum erwähnt wurde. Dies hängt meiner Meinung nach weniger damit zusammen, dass die gesellschaftliche Position der jungen Menschen in Libyen sich von jener in den meisten anderen arabischen Staaten grundsätzlich unterscheidet, sondern in erster Linie doch mit der, etwa im Vergleich zu Tunesien und Ägypten, deutlich zurückhinkenden gesamtgesellschaftlichen Entwicklung. Dies gilt vor allem für die Bereiche Bildung und Beschäftigung, wie dies auch im Beitrag von Konrad Schliephake gut dargestellt wird. Ein weiterer Unterschied zwischen Libyen und den beiden Nachbarstaaten betrifft den in den letzten Jahren wieder deutlich zunehmenden tribalen Einfluss auf das öffentliche Leben, der die Entwicklungschancen der Jugend in der libyschen Gesellschaft deutlich einschränkt und hemmt. Der Ethnologe Thomas Hüsken geht in seinem Beitrag über die Situation in der ostlibyschen Region Kyrenaika auch ausführlich darauf ein und schildert, dass sich die Jugend dort kaum gegenüber den Repräsentanten der althergebrachten Stammesstrukturen behaupten kann und auch in den Entscheidungs- und Beratungsgremien des Aufstandes fast nicht vertreten ist. Die jungen Libyer haben sich daher in den Monaten der Rebellion weitgehend auf den militärischen Kampf konzentriert. Thomas Hüsken sieht für die Periode des Aufbaus neuer politischer Strukturen einen Generationenkonflikt voraus. Die Situation in Tripolitanien dürfte sich – im Gegensatz zu der jugendfreundlichen Selbstdarstellung des Gaddafi-Regimes – von jener im Osten nicht wesentlich unterscheiden. Denn auch Gaddafi griff in den letzten Jahren immer stärker auf die Traditionen und Vorstellungen der Stämme zurück. Es ist daher durchaus zu erwarten, dass die libysche Jugend, dem Beispiel ihrer tunesischen und ägyptischen Alterskollegen folgend, diese Marginalisierung nicht länger hinnehmen wird. Somit wird sich auch das neue Libyen, wie immer dieses im Detail aussehen mag, mit den politischen, ökonomischen und sozialen Wünschen und Forderungen der Jugend auseinandersetzen müssen.

Damit komme ich zu einem zweiten Aspekt, der aufgrund vergleichbarer Erscheinungen in anderen unruhigen Staaten des Nahen Ostens wichtig erscheint: die starke Rückbesinnung auf familiäre Stammesbeziehungen. So stellt diese Entwicklung beispielweise im Jemen einen ganz wichtigen Faktor des Bürgerkriegs dar. Im Unterschied zu anderen Staaten in der engeren Region3 nahm auch Muammar Gaddafi, der trotz seiner beduinischen Abstammung zunächst eine Politik im Sinne des arabischen Sozialismus von Nasser verfolgte, relativ bald wieder auf die traditionellen Stammesstrukturen Rücksicht. Zwei Faktoren dürften für diese Rückwendung ausschlaggebend gewesen sein: eine gewisse Mystifizierung des naturnahen und freien Lebens der herkömmlichen Wüstenbewohner4, aber zweifellos auch ganz konkrete und brutale Interessen der Machterhaltung und die dazu nötige Schaffung von Loyalitäten, die der Revolutionsführer in erster Linie bei den ihm nahestehenden Clans Tripolitaniens suchte und fand. Gaddafi verstärkte damit eine traditionell bestehende Kluft zwischen dem östlichen und dem westlichen Teil Libyens und einen der Beweggründe des Bürgerkriegs. Eines der im Nachkriegslibyen auf jeden Fall zu bewältigenden Probleme wird daher die Wiederannäherung der unterschiedlichen Stämme der Kyrenaika und Tripolitaniens sein.5 Ob dies der im Übergangsrat vereinigten Anti-Gaddafi-Koalition tatsächlich gelingen wird, ist schwer zu beantworten. Denn der Einfluss der Repräsentanten des traditionellen Stammeswesens dürfte in der Kyrenaika beträchtlich sein und es bleibt abzuwarten, ob sich die gegenwärtige Führung des Übergangsrats, in dem abtrünnige Gaddafi-Gefolgsleute und im Westen ausgebildete Technokraten dominieren, weiterhin behaupten kann. Eine interne Machtverschiebung vom Westen in den Osten wird es nach Beendigung des Bürgerkriegs meines Erachtens nach auf jeden Fall geben und es ist daher nicht auszuschließen, dass die Stammesvertreter aus der Kyrenaika alte Rechnungen mit den bisherigen Herrschern aus Tripolitanien begleichen werden.

Diese Akzentverschiebung zugunsten traditioneller ethnischer und religiöser Strukturen in vielen Staaten Arabiens stellt sowohl einen Auslöser wie auch ein Ergebnis der verschiedenen revolutionären und rebellierenden Bewegungen dar. In einem gewissen Maße vertritt die „Revolution der Jugend“ in Tunesien und Ägypten ein Gegenkonzept zu diesen Strömungen. Wir werden mit Spannung beobachten, wohin der Trend in den nächsten Jahren geht.

Damit komme ich zum letzten Aspekt meiner Einleitung: die zu erwartenden regionalen Auswirkungen der libyschen Rebellion. Diese wurden in der Berichterstattung der letzten Wochen und Monate viel zu wenig behandelt, könnten sich aber sehr bald als ein höchst unangenehmer und gefährlicher Kollateralschaden des libyschen Bürgerkriegs erweisen. Bei den meisten westlichen Interventionen in den letzten Jahrzehnten (etwa in Afghanistan oder dem Irak) wurden kaum die Folgewirkungen derartiger Eingriffe bedacht und zogen jahrzehntelange militärische Auseinandersetzungen nach sich, die Hundertausende, wenn nicht Millionen unschuldiger Opfer forderten und zudem Unsummen an finanziellen Mitteln verschlangen. Libyen könnte sich zu einem ähnlich unbedachten westlichen Abenteuer entwickeln. Es scheint den Planern des NATO-Feldzugs entgangen zu sein, dass dieses Land inmitten einer höchst instabilen Region liegt und zudem Gaddafi eine von vielen afrikanischen Politikern durchaus geschätzte Politik der afrikanischen Einheit betrieben hat. Manche kritische Beobachter unterstellen den Regisseuren des NATO-Feldzugs, in erster Linie Frankreich (das in Westafrika nach wie vor massive, aus der Kolonialzeit stammende Interessen pflegt), weit über Libyen hinausreichende Absichten. Ganz zu schweigen von den Interessen jener westlichen Staaten, deren Ölkonzerne wieder stärker auf den libyschen Markt drängen und das zu wesentlich günstigeren Bedingungen als dies unter Gaddafi der Fall war. Es würde den Rahmen eines Vorworts bei weitem...

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