Führer Asiens
Ende des 19. Jahrhunderts begann Japans gewaltsamer Aufstieg zur Regionalmacht, der auch die koreanische Halbinsel prägen sollte.
Um 1850, nach drei Jahrhunderten westlicher Expansion, waren Süd-, Südost- und Ostasien in Kolonialgebiete der europäischen Staaten aufgeteilt. Mit zwei Ausnahmen: Das Königreich Siam (Thailand) vermochte als Puffer zwischen britischen und französischen Herrschaftsansprüchen seine Unabhängigkeit weitgehend zu wahren. In Japan hatten sich die seit 1192 nahezu ungebrochen herrschenden Shogune (Shogun = „der die Barbaren bezwingende große General“) gegenüber dem Ausland weitgehend abgeschottet. Lediglich auf der eigens aufgeschütteten Insel Dejima in der Bucht von Nagasaki war holländischen Kaufleuten von dem regierenden Tokugawa-Clan der Unterhalt einer Handelsniederlassung gestattet worden.
Der gesamte indische Subkontinent, einschließlich Ceylons und Burmas, bildete zusammen mit der Kronkolonie Hongkong, der malaiischen Halbinsel und dem an deren Südspitze gelegenen Singapur einen Teil des britischen Empires. Der daran angrenzende Riesenarchipel, der sich von Osten nach Westen über 5.000 Kilometer erstreckt, zählte als Niederländisch-Indien zum holländischen Imperium. Die andere Inselgruppe in Südostasien, die Philippinen, waren eine Domäne Spaniens. Dessen langjähriger Rivale Portugal kontrollierte auf dem chinesischen Festland die Enklave Macao und den östlichen Teil der zu Niederländisch-Indien gehörenden Insel Timor. Die Franzosen schließlich hatten sich in Vietnam, Laos und Kambodscha festgesetzt und nannten dieses Kolonialgebiet „Indochina“. China, zu jener Zeit politisch zu schwach, um sich wirksam gegen Übergriffe von außen zu wehren, stand im Mittelpunkt der Herrschaftskalküle sämtlicher damaliger Großmächte.
Als „Spätankömmlinge“ unter den Kolonialmächten trafen das Deutsche Kaiserreich und die Vereinigten Staaten von Amerika in Asien ein. Die USA entschieden sich erst nach hitzigen Kongressdebatten zwischen den sogenannten Isolationisten und den Interventionisten, in China und Südostasien Stellung zu beziehen, als sie 1898 Spanien als neue Kolonialmacht auf den Philippinen beerbten. Hatten die Isolationisten mit dem Argument, der nordamerikanische Binnenmarkt sei groß genug, gegen ein koloniales Engagement gestimmt, optierten die Interventionisten beziehungsweise Imperialisten im Gegenzug für eine offensive Kolonialpolitik. Die Philippinen sollten den USA als Sprungbrett dienen; von dort aus wollte man „die schier unermesslichen chinesischen Bodenschätze und Märkte erschließen“, wie es wiederholt Redner im amerikanischen Kongress formuliert hatten. Über eine Pazifikflotte verfügten die USA bereits, bevor sie die pazifischen Inseln Hawaii und Guam annektierten und US-Soldaten im Sommer 1898 siegreich in die philippinische Hauptstadt Manila einmarschierten.
Gewaltsame Öffnung Japans
Jahrhundertelang hatte sich Japan gegenüber dem Ausland abgeschottet, bis 1854 eine amerikanische Flotte unter dem Befehl von Kommodore Matthew C. Perry die selbst gewählte Isolation des Inselreiches gewaltsam beendete und das Land für den Außenhandel öffnete. Dieses Ereignis markierte den Anfang vom Ende des Feudalsystems der Tokugawa-Herrschaft, das durch eine waffentechnisch weit überlegene, neue aufstrebende imperialistische Macht im Pazifik ins Wanken gebracht wurde. Letztlich aber zerbrach die Feudalordnung auch aufgrund innenpolitischer Konflikte: Bauernaufstände, Missernten, die Ausbeutung der Bevölkerung durch hohe Steuern und ein erstarrtes Gesellschaftssystem mit rigider Etikette veranlassten reformorientierte junge Samurai (Kriegsadelige) aus verschiedenen Lehnsgebieten des Landes zum Aufstand. Zur Abwehr der Bedrohung aus dem Westen wollten sie sich dessen technologisches Wissen aneignen, um es zu einem späteren Zeitpunkt gegen ihn selbst zu kehren. Gleichzeitig drangen sie darauf, anstelle der Militärherrscher aus dem Hause Tokugawa die kaiserliche Macht wiederherzustellen. Nur kurz dauerten die Auseinandersetzungen zwischen den Samurai und Shogunen an, bis ab 1868 Kaiser Mutsuhito (1852–1912) als neuer Regent antrat. Seine Herrschaft stellte er unter die Devise der „erleuchteten Regierung“ (Meiji). Anstelle von Kioto wurde die Stadt Edo zur neuen Hauptstadt Tokio ernannt.
Was folgte, war ein beispiellos rascher und tiefgreifender Wandel in Wirtschaft, Politik und Technik. Zunächst wurden gezielt Kontakte mit dem Ausland geknüpft, um sich Ideen für die Umgestaltung des Staates zu suchen. In diesem Prozess der japanischen Filtrierung der westlichen Moderne war es folgerichtig, dass das Land auch und gerade systematisch den Rat und die Expertise von Ausländern suchte. Unter den um 1890 etwa 3.000 in Japan tätigen ausländischen Experten gab es deutsche Sachverständige für Universitäten und medizinische Schulen, amerikanische Helfer für Landwirtschaft, Postverkehr und Diplomatie, britische Berater für das Eisenbahnwesen und die Kriegsmarine, französische Fachmänner für Kriegführung und juristische Fragen und schließlich italienische Ratgeber für die westliche Kunst. Diese mit Bedacht getroffene Auswahl spiegelte einerseits die japanische Gesamtbeurteilung der damaligen Lage im Westen wieder. Andererseits zeigte sie auch den, wie der japanische Politologe Maruyama Masao es formulierte, „Teufelskreis von ‚Außen’-Universalismus und ‚Innen’-Bodenständigkeitsdenken“, in dem das Land gefangen war. Für Japan bedeutete die europäische Moderne zuallererst den Einsatz von Maschinen und neuen Techniken. Deren Weiterentwicklung bescherte dem Land eine rasante Industrialisierung, sodass Japan später nicht nur China, sondern auch Russland militärisch besiegen konnte und sich in Ostasien als neue hegemoniale Macht etablierte.
Kriegsregime
Der Aufbau des Kaiserreiches auf industrieller Grundlage (wie diese Politik offiziell genannt wurde) war möglich geworden, weil der in der Landwirtschaft geschaffene Mehrwert gezielt in den industriellen Bereich überführt wurde. Mit Steuergeldern, die der Staat als Grundsteuer Bauern und Pächtern abverlangte, wurden Handelshäuser und Industriebetriebe gegründet. Zunächst entstanden Betriebe der Leichtindustrie, die sich auf die Herstellung von Fasern, Textilien und Kleidung verlegten. Doch schon bald investierte der Staat auch in strategische Bereiche, wie den Schiffsbau, die Stahl-, Schwer- und Rüstungsindustrie. Die Gewerbefreiheit wurde ebenso garantiert wie die freie Berufswahl. Träger dieses Industrialisierungsprozesses war im Gegensatz zu Europa keine aufklärerisch-moderne bürgerliche Unternehmerschicht, sondern ein dem Kaiser ergebener Adel und die reichen Händler.
Um 1890 war das neue Herrschaftssystem so weit gefestigt, dass in der Verfassung die uneingeschränkte Macht des Kaisers festgeschrieben wurde und sich dieser auf ein stehendes Heer mit allgemeiner Wehrpflicht stützen konnte. „Der Kaiser ist heilig und unverletzlich“ hieß es in der Verfassung, und er wurde dazu legitimiert, als direkter Nachfahre der Sonnengöttin Amaterasu mit unbeschränkter Machtfülle zu regieren. Als Souverän des Landes stand der Tenno an der Spitze von Armee und Marine sowie von Exekutive und Legislative. Der Wahlspruch „Reiches Land, starke Armee“ offenbarte, wie herausragend künftig die Rolle des Militärs sein würde.
Im Gegensatz zum Westen hatte die Armee traditionell eine politische Führungsrolle inne und genoss innerhalb der Bevölkerung hohes Ansehen. Sie wurde weder von der Regierung kontrolliert noch vom Parlament. Dieses konnte nur sehr begrenzt Einfluss auf das Budget der Streitkräfte nehmen. Gemäß der japanischen Verfassung kommandierte der Kaiser Armee und Marine, während die militärische Kontrolle in der Vorkriegszeit dem Kriegs- und Marineminister sowie den Generalstabschefs beider Waffengattungen oblag, eine Stellung, die ihnen ein hohes Maß an Unabhängigkeit sicherte. Beide Minister gehörten zwar dem Kabinett an, sie durften aber jederzeit am Premier vorbei direkt beim Kaiser vorstellig werden. Darüber hinaus konnten sie mit einem Rücktritt gleichzeitig den Rücktritt des Premierministers und die Bildung einer neuen Regierung erzwingen. Denn laut Verfassung existierte kein funktionstüchtiges Kabinett ohne einen Kriegs- und einen Marineminister. Da diese in der Regel vom jeweiligen Generalstab vorgeschlagen wurden oder sich aus deren Rängen rekrutierten, konnte das Militär nicht nur jede zivile Opposition in Schach halten, sondern faktisch über Fragen von Krieg oder Frieden entscheiden.
Wirtschaftsboom und militärische Expansion
Ökonomisch erlebte die japanische Wirtschaft um 1900 eine Boomphase. Bis 1905 war der Prozess der Konzentration und Zentralisierung von Kapital zu Oligopolen so weit vorangeschritten, dass sich nahezu sämtliche Großbanken, Industriebetriebe und Verkehrsmittel des Landes im Besitz von einem halben Dutzend staatlich protegierten Großfamilien befanden (unter ihnen die Familien Mitsui, Mitsubishi, Satsume und Okura). Von diesen Unternehmen war außerdem eine Vielzahl kleiner und mittlerer Zulieferfirmen abhängig. Vom weiteren Aufbau der Schwerindustrie profitierten wiederum die Streitkräfte. Deren Sieg über die chinesischen und russischen Armeen (1894/95 bzw. 1904/05) sowie die Annexion Koreas 1910 (siehe nächster Text in diesem Kapitel – d. A.) rückte erstmals ins öffentliche Bewusstsein des Westens, dass Japan sich anschickte, zur Regionalmacht in Ost- und Nordostasien aufzusteigen.
Der Erste Weltkrieg bescherte Japan einen ungeheuren Wirtschaftsaufschwung, da unter anderem Europas Großmächte auf Kriegswirtschaft...