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Das überfüllte Bett
Ihr Ehebett ist der überfüllteste Ort auf Erden. Es wimmelt nur so von Menschen darin – Menschen, denen Sie zum Teil noch nie begegnet sind. Dennoch sind sie alle da, mischen sich in Ihr Liebesleben ein, sehen Ihnen über die Schulter, wenn Sie mit Ihrem Mann schlafen, geben zu allem ihren Senf dazu und maßen sich an, über die Intensität Ihres Genusses zu urteilen.
Vermeiden Sie es auf jeden Fall, unter Ihr Kopfkissen zu sehen – aber seien Sie darauf gefasst, dass Ihre Eltern darunter lauern! Und wenn Sie das schon stört, sollten Sie sich lieber gleich an den Gedanken gewöhnen, dass unter dem Kopfkissen Ihrer Braut Ihre Schwiegereltern sitzen!
Ach ja, und am Fußende des Bettes haben sich Ihre Geschwister und die Ihrer Frau häuslich eingerichtet. Und unter dem Bett? Davon will ich lieber gar nicht erst reden!
Jetzt fragen Sie sich wahrscheinlich: Wovon redet der Mann?
Sie treten Ihre Ehe mit wesentlich mehr Gepäck an, als Sie je für möglich gehalten hätten. Gepäck, das sich zu etwas verdichtet hat, das ich hier als Ihre »Spielregeln« bezeichnen möchte – unbewusste, aber nichtsdestoweniger äußerst wirksame Überzeugungen darüber, wie die Dinge im Allgemeinen (und besonders im Bett) zu handhaben sind. Ein Großteil meiner therapeutischen Tätigkeit ist deshalb auch dem Versuch gewidmet, Menschen zu helfen, ihr persönliches Regelsystem zu durchschauen, denn dieses innere Regelwerk bestimmt das ganze Leben eines Menschen, vor allem aber seine Sexualität.
»Aber Dr. Leman!«, werden Sie jetzt einwenden, »ich wusste ja nicht mal, dass ich überhaupt eine solche Spielregel in mir trage!«
Diese Tatsache ist überhaupt nur wenigen Menschen bekannt. Dennoch geraten wir alle völlig aus dem Häuschen, wenn eine unserer inneren Spielregeln gebrochen wird. So kommt es, dass ein Ehemann letztlich für die Fehler seines Schwiegervaters bezahlt und eine Frau für die Fehler ihrer Schwiegermutter. Der Mensch, den Sie heiraten, hat eine Vergangenheit. Sie gehen mit einem Menschen ins Bett, der unauslöschlich von seiner Position in der Geschwisterreihe, den Erziehungsmethoden seiner Eltern und den Erfahrungen seiner frühen Kindheit geprägt ist. Dieser Mensch mag nackt sein, wenn er zu Ihnen ins Bett kommt, aber er ist alles andere als allein.
Da ich mich in einem anderen Buch ausführlich mit solchen inneren Spielregeln befasst habe (The New Birth Order Book: Why You Are the Way You Are), möchte ich mich hier auf das Thema beschränken, inwiefern unsere Spielregeln unser Sexualleben beeinflussen.
Ihre sexuellen Spielregeln
Cheryl will beim Geschlechtsverkehr überrascht werden; sie wünscht sich Spontaneität, Fantasie und Abwechslung in ihrem Liebesleben. Am tiefsten verhasst ist ihr Langeweile. Sie möchte, dass ihr Mann sie ständig in Atem hält und dafür sorgt, dass sie nie weiß, was als Nächstes kommt. Eine ihrer schönsten Erinnerungen gilt einem Abend, an dem ihr Mann eine Flasche Babyöl und ein großes Stück Segeltuch fürs Bett mit nach Hause brachte. Die beiden ölten sich gegenseitig am ganzen Körper ein und richteten das reinste Chaos an, aber die Aktion war spontan, rief eine Menge Gelächter hervor – und Cheryl genoss jede Sekunde.
Melissa hasst Überraschungen. Sie möchte immer mindestens vierundzwanzig Stunden im Voraus wissen, was passieren wird. Wenn sie und ihr Mann zusammen nackt im Bett liegen, muss sich jeder ein Handtuch unterlegen, bevor es zum Austausch von Körperflüssigkeiten kommt. Der Gedanke, dass diese Körperflüssigkeiten mit dem Laken in Berührung kommen könnten, ist unvorstellbar. Beide Partner müssen gründlich geduscht und sich höchstens eine halbe Stunde vor Beginn des Liebesaktes die Zähne geputzt haben. Der Gedanke, Unordnung oder gar Geräusche zu verursachen, lässt auf der Stelle jedes Fünkchen Lust in Melissa absterben. Wenn Melissas Mann eine Flasche Babyöl mit nach Hause brächte, würde sie nur sagen: »Und was hast du damit vor? Ich werde einen halben Tag brauchen, bis ich wieder alles sauber habe! Hast du schon jemals versucht, das Zeug irgendwo wieder wegzubekommen?«
Woher kommen diese völlig unterschiedlichen Bedürfnisse?
Ted hat es gern, wenn seine Frau beim Geschlechtsverkehr auch einmal die Initiative ergreift. Er mag es, wenn sie ihn aufs Bett wirft und sich auf ihn legt. Wenn sie aktiv wird und von sich aus die Position einnimmt, in der sie die größte Befriedigung empfindet, steigert das seine Erregung ins Unermessliche. Wenn sie ihren Gefühlen dann noch verbal Ausdruck verleiht, kann er kaum noch an sich halten.
Andy muss ständig alles im Griff haben. Er würde jeden sexuellen Vorstoß seiner Frau als Affront gegen seine Männlichkeit empfinden. Er beschließt, was sie tun, wann sie es tun und wie sie es tun; Kommentare ihrerseits sind nicht erwünscht.
Warum sind die beiden Männer so verschieden?
Eine der ganz großen Gefahren beim Schreiben eines solchen Buches liegt darin, dass es keine zwei Männer oder zwei Frauen gibt, die gleich sind. Männer können sich dabei ebenso sehr von ihren eigenen Geschlechtsgenossen unterscheiden wie die beiden Geschlechter voneinander. Wir können zwar die eine oder andere Verallgemeinerung versuchen, doch jedes Stereotyp wird sehr rasch von irgendjemand widerlegt werden – deshalb ist in einer Ehe die individuelle Verständigung so wichtig. Ich kann Ihnen zwar sagen, was den meisten Männern gefällt, doch möglicherweise widert genau das Ihren Mann einfach nur an. Das Beste, was Ehepaare tun können, ist deshalb, dieses Buch gemeinsam zu lesen und darüber zu reden.
Doch woher rührt die große Verschiedenheit sexueller Vorlieben? In neun von zehn Fällen ist sie auf das interne Regelsystem des Betreffenden zurückzuführen. Cheryls Spielregel sagt: »Sex macht mehr Spaß, wenn er spontan und überraschend ist. Das Leben ist zu kurz, um irgendetwas zwei Mal zu tun.« Melissas Spielregel sagt: »Sex muss sich nach strengen Maßstäben richten, sonst gerät er außer Kontrolle.« Jims Spielregel sagt: »Sex ist dann am schönsten, wenn meine Frau mich begehrt und mir ihr Begehren zeigt.« Und Andys Spielregel sagt: »Sex ist okay, wenn ich das Kommando habe.«
Diese Regelkataloge sind geprägt von unserer Reaktion auf Kindheitserfahrungen, von unserer Erziehung und von unserer Stellung in der Geschwisterreihe. Die Regelsysteme innerhalb einer Familie weisen meistens gewisse Ähnlichkeiten, aber immer auch ausgeprägte Unterschiede auf. Letztlich ist das Regelsystem eines Menschen etwas ganz Individuelles und bestimmt praktisch jede seiner Handlungen.
Das Leidige an solchen inneren Regelsystemen ist, dass sie häufig unbewusst sind. Melissa kann wahrscheinlich ebenso wenig erklären, warum sie beim Geschlechtsverkehr grundsätzlich ein Handtuch unterlegen muss, wie Andy, warum er wahnsinnig würde, wenn seine Frau versuchen würde, die Führung zu übernehmen. Dennoch kontrollieren diese unbewussten Regeln jede einzelne unserer sexuellen Handlungen.
Durchschauen Sie Ihren sexuellen Regelkodex
Einfluss der Eltern
Um herauszufinden, welche ungeschriebenen und meist unbewussten Regeln Sie in Ihrem sexuellen Verhalten bestimmen, sollten Sie sich folgende Fragen stellen:
• Was erregt mich im Bett am meisten?
• Was schenkt mir die größte sexuelle Erfüllung?
• Was bewirkt, dass ich jegliches Interesse am Geschlechtsverkehr verliere?
• Was weckt mein Interesse am Geschlechtsverkehr am stärksten?
• Welches sexuelle Ansinnen oder welche sexuelle Handlung ruft die größte Angst bei mir hervor?
Als Nächstes überlegen Sie, warum das so ist. Warum ekelt mich der Gedanke an Oralsex, wo doch so viele andere Menschen ihn erregend finden? Warum erstirbt jedes Fünkchen Lust in mir, wenn ich beim Geschlechtsverkehr das Licht anlasse, wo es doch andere so sehr erregen kann, wenn sie einander sehen? Warum kann ich nie selbst die Initiative ergreifen, sondern muss immer warten, bis mein Ehepartner sexuelles Interesse signalisiert?
Die Antwort auf diese Fragen ist wahrscheinlich zum Teil in der Einstellung zur Sexualität zu finden, mit der Sie aufgewachsen sind. Manchen Menschen, vor allem, wenn sie aus sehr religiösen Familien kommen, wurde beigebracht, dass man über Sexualität am besten gar nicht spricht. »Geschlechtsverkehr ist notwendig, damit die Menschen nicht aussterben, aber wir tun am besten so, als ob es ihn ansonsten gar nicht gäbe!« Wer in einer solchen Umgebung aufwächst, wird vermutlich nie innerlich so frei sein, am Geschlechtsverkehr um seiner selbst willen Spaß zu haben.
Es gibt einen guten Grund, sich diese Fragen zu stellen und die »verborgenen Einflüsse« auf Ihr Liebesleben ans Tageslicht zu befördern: Wenn Sie die Zusammenhänge zwischen Ihrer Vergangenheit und Ihren sexuellen Vorlieben erst einmal erkannt haben, können Sie selbst beurteilen, ob es sich um gesunde oder ungesunde Einflüsse handelt. Sie können entscheiden, ob Sie weiter danach leben wollen oder ob sie ein Hindernis für Ihre Ehe darstellen, das Sie gern loswerden möchten.
Also stellen Sie sich ruhig folgende Fragen: Waren Ihre Eltern einander zugetan? Gehörte Ihre Mutter zu den Frauen, die ihren Mann stets abwehrte, wenn er sich ihr zu nähern versuchte? War Ihr Vater den Kindern und der Ehefrau gegenüber auffallend kühl? Benutzte er seine Hände nur, um Sie zu bestrafen, und nie, um Sie zu liebkosen? Und das...