Kapitel 2 – Im Paradies wird‘s dunkel
Man muss sich die Umgebung, in der ich aufgewachsen bin, wie ein kleines Paradies vorstellen. Im Frühling und Sommer waren die Tiere meines Vaters auf der Koppel. Jeden Tag ging es deshalb mit einem mobilen Melkstand hinaus zu den Tieren, um sie von den schweren, prall gefüllten Eutern zu befreien und die Milch nach Hause zu holen. Heutzutage muten diese Erinnerungen wie Öko-Träumereien einer längst vergangenen Zeit an; der Anbinde-Stall, in welchem die Tiere den Herbst und den Winter verbrachten, konnte damals wohl allenfalls Realos bei der neu aufgekommenen Umweltbewegung überzeugen. Ich hinterfragte diese Dinge freilich noch nicht, sondern genoss das Landleben in vollen Zügen.
Was mir dabei allerdings nicht auffiel, war, dass ich mit der Zeit immer schlapper wurde, kaum noch laufen mochte und mich des Öfteren erbrach. Meine Eltern merkten es natürlich schon, gingen dann auch schließlich mit mir zum ebenfalls im Dorf ansässigen Hausarzt der Familie. Dieser tat das, was viele, wohl die meisten Hausärzte, in dieser Situation getan hätten: Man betrachtete sich die Symptome, schaute, was gerade so in der Luft lag, und stellte schließlich eine naheliegende Verbindung her. Wegen einer Welle von Keuchhusten-Erkrankungen hatten das Erbrechen und die Schlappheit nach seiner Meinung also genau damit zu tun. Es wurden die herkömmlichen Medikamente verschrieben und man wartete auf Besserung.
Diese stellte sich jedoch nicht ein. Ich erinnere mich noch daran, dass mir der Flur, der ohnehin ziemlich dunkel war, immer bedrohlicher erschien. Ich vermutete wilde Tiere in den dunklen Ecken, was zweifelsohne daran lag, dass ich zu dieser Zeit schon schlechter sehen konnte. Das Nächste, woran ich mich erinnere, sind Krankenschwestern, die an meinem Krankenhausbett standen und scheinbar keine Notiz von mir nahmen.
Was ich zu jener Zeit nicht wusste: Meine Eltern hatten mit mir bereits eine Odyssee durchstehen müssen! Zunächst hatte sich mein Gesundheitszustand wohl so verschlechtert, dass meine Eltern mit mir zum Kinderarzt in einem Nachbardorf gefahren waren. Dieser schickte, die Symptome betrachtend, meine Eltern und mich sofort weiter ins Krankenhaus nach Rendsburg. Dort diagnostizierte man wohl schon einen Gehirntumor und machte meinen Eltern auf Grundlage dieser Erkenntnis wenig Hoffnungen, mich lebend wieder mit nach Hause nehmen zu können. Man könne es noch in Kiel versuchen, dort würde man aber zu keinem anderen Schluss kommen.
Meine Eltern gaben nicht auf und holten die Kieler Zweitmeinung ein. Und zum Glück gab es dort einen Chefarzt, der die Lage anders – und im Nachhinein richtig – einschätzte. Wegen des Tumors an einer höchst sensiblen und damals inoperablen Stelle konnte das Gehirnwasser nicht richtig zirkulieren. Der Chefarzt implantierte einen VA-Shunt2, der das Gehirnwasser zur Entlastung des Kopfes in eine Arterie umleitete. Das Sehzentrum war durch den Überdruck allerdings bereits so stark in Mitleidenschaft gezogen worden, dass es nicht mehr zu retten war. Ich war fortan blind!
Durch die Hilfe des eingesetzten Schlauchs ging es mir aber ansonsten schnell wieder sehr viel besser. Allerdings machte mir die straffe Stationsregie in Kiel zu schaffen: Meine Eltern durften tagsüber nicht lange bei mir sein, was wegen des verlorenen Sinns aber durchaus angebracht gewesen wäre. Zunächst registrierte ich den Verlust des Sehvermögens wohl auch gar nicht so sehr. Die fremde Umgebung sowie die Langeweile machten mich verrückt. Die Zeit ohne meine gewohnte Umgebung und die gewohnten Menschen ließ mich verzweifeln. Das Pflegepersonal machte mir auch nicht den Eindruck, als wäre es sehr an meinem Wohlergehen interessiert. Ich erinnere mich noch sehr gut daran, wie ich die meisten Untersuchungen – natürlich letztlich erfolglos – ablehnte. Dieses tat ich nicht, weil ich dem Personal die Arbeit erschweren wollte. Ich habe schlicht und ergreifend keinen Sinn darin gesehen und fühlte mich auch nicht wirklich ernst genommen. Man hätte schon damals – so mein heutiger Eindruck – ganz vernünftig mit mir über bestimmte Notwendigkeiten reden können. Aber ob es so gewesen ist, wird man nie erfahren.
Daher fuhren meine Eltern und teilweise auch Großeltern Tag für Tag die knappe Stunde nach Kiel, um mich wenigstens ein paar Stunden am Tag auf andere Gedanken zu bringen und sich davon zu überzeugen, dass es mir tatsächlich besser ging. Einem Jungen im Nachbarbett ging es zu jener Zeit nicht ganz so gut, und ich wurde im frühen Kindesalter mit der Endlichkeit des Lebens konfrontiert. Dass mich diese Erlebnisse emotional nachhaltig beeinflussten, mag wohl jeder verstehen. Die Schwarzwaldklinik, eine Krankenhaus- Serie von Anfang der 1980er Jahre, half meiner Familie und mir später sehr gut dabei, die gemachten Erfahrungen gemeinsam zu verarbeiten.
Es war wohl Silvester 1984, als meine Eltern und ich die Heimreise von Kiel antreten konnten. Ich erinnere mich aus dieser Zeit an schrille Träume, an grell-bunte Bilder, die ich zwar schon irgendwo gesehen hatte, die auf ihre Weise aber auch meinen weiteren Lebensweg prägen sollten. Blindheit hat nämlich nicht unbedingt etwas mit Dunkelheit zu tun, es ist für mich vielmehr ein innerer Film, auf dessen Verlauf man kaum Einfluss hat.
Seit jener Zeit haben bestimmte Buchstaben, Zahlen und Worte für mich eine ganz eigene Farbe. Mit dem weithin verbreiteten Wort der Synästhesie, das die Kopplung bestimmter Sinne beschreibt, konnte ich damals noch nichts anfangen; ich weiß auch heute nicht, ob ich ein Synästhet bin. Es spielt im weiteren Verlauf aber auch keine Rolle. Wenn überhaupt, ist es nur ein Grund mehr, warum ich mich vermutlich nie als richtig blind gefühlt habe.
Als ich mein Elternhaus wieder erreicht hatte, war die Erleichterung bei allen Familienmitgliedern riesengroß. Ich durfte mit im elterlichen Schlafzimmer schlafen, bekam leckere Dinge zu essen und wurde rundherum versorgt. Wir hörten oftmals das Lied von Katja Eppstein »Im Leben, im Leben geht so mancher Schuss daneben«. Ich hatte dieses Lied damals nicht als Omen verstanden und es war auch tatsächlich keines – zumindest wäre es unter normalen Umständen wahrscheinlich keines gewesen.
Da man aber nach wie vor nicht wusste, ob der Tumor jetzt doch noch wächst, sind meine Eltern mit vielen heilversprechenden Instanzen in Kontakt getreten. Auf dem Markt der Wunderheiler tummeln sich zu jeder Zeit doch zahlreiche Anbieter. Ich erinnere mich noch an Fahrten in die Niederlande zu einem handauflegenden Gesundheitsmagier, der in einem Hotel seine Show abzog. Man kann nicht sagen, ob diese Dinge etwas Positives bei mir bewirkt haben. Ausschließen möchte ich es nicht.
Ein Ereignis, das mir in diesem Zusammenhang aber sehr viel eindrucksvoller erscheint, trug sich in meinem Heimatdorf zu. Ich selbst habe keine Erinnerung daran, meine Mutter erzählte es aber bei Gelegenheit. Damals waren noch sehr viel häufiger als heutzutage Händler – damals nannte man sie Zigeuner – unterwegs, die an Haustüren Gummibänder feilboten. Es war der Frühling oder Sommer nach meiner Erblindung und ich spielte wohl gerade im Sandkasten vor dem Küchenfenster, da klingelte eine Dame mit osteuropäischem Antlitz an der Tür des Dethlefs-Hauses und wollte mutmaßlich ihre Gummibänder verkaufen. Als meine Mutter öffnete, sagte die Besucherin in einer getragenen Stimme: »Du hast große Probleme, Du musst nichts kaufen.« Natürlich sorgte sich meine Mutter damals um mein Überleben und um die Zukunft im Allgemeinen, was die fremde Dame aber wohl kaum wissen konnte. Diese fuhr fort: »Du und dein Sohn werden uralt, habe keine Angst.« Meine Mutter gab der Frau sofort fünf Mark. Auch wenn sie für die fünf Mark keine Gegenleistung erwartete, wurde sie sofort ausgiebig mit Gummibändern versorgt. So schnell, wie es dieser Gruppe Menschen auch heute noch eigen ist, war die geheimnisvolle Frau dann wieder verschwunden. Ich weiß noch, dass meine Mutter jedes Mal, wenn wieder eine Händlerin an der Tür klingelte, nach dieser Dame ausschaute, sie selbst kam aber nie wieder an unser Haus.
Gesundheitlich ging es mir – abgesehen von einem aufkommenden Asthma-Leiden, das ohnehin in der Familie lag – aber tatsächlich weiterhin gut. Hin und wieder musste ich zu Routine-Untersuchungen nach Kiel, wo die Funktion des Shunts überprüft wurde. Jedes Mal hatte ich Angst, wieder dort bleiben zu müssen – doch nach einem Tag war die Konfrontation mit der jungen, als furchtbar empfundenen Vergangenheit in Krankenhaus meist schon wieder vergessen. Der Tumor verhielt sich zum Glück statisch.
Meine Eltern machten somit auch keinen Unterschied zwischen mir und einem Kind ohne Handicap. Extrawürste gab es keine. Auch falsches Mitleid war bei uns – wie in der Landwirtschaft üblich – fehl am Platze.
Das ererbte Asthma-Leiden und die damit in unheilvoller Weise verbundenen Allergien erweckten zwar noch stärker den Eindruck bei mir, dass mein Körper bisweilen ein richtig schlecht gelaunter Diktator war, der mich nicht aus seinen Fängen entließ. Gleichwohl nahm ich mein Schicksal an und versuchte, das Beste...