Die Familien mit Kindern, die ich zu einem Beratungsgespräch eingeladen habe, erleben den Familienalltag und das Erziehen ihrer Kinder ausnahmslos als sehr anstrengend. Sie äußern aber auch, dass sie vermuten, die Atmosphäre zu Hause habe viel mit ihrem eigenen Agieren und ihrer eigenen Stimmung zu tun. Und das stimmt. Wenn ein Kind die Familie durch Wutausbrüche tyrannisiert, braucht es meist ein anderes Verhalten der Eltern, damit sich auch das Verhalten des Kindes und die Gesamtsituation verändern können. Und dabei geht es überhaupt nicht um die Frage, wer Schuld an der Familiensituation hat. Eltern müssen nur erst einmal wahrnehmen, was ihr erzieherisches Verhalten leitet. Und außerdem erkennen: Die Qualität ihrer Paarbeziehung entscheidet über die Stimmung und die Atmosphäre in der Familie.
Manche Erwachsene sind sich ihrer eigenen Bedürfnisse und Grenzen gar nicht bewusst und müssen selbst erst noch lernen, diese klar zu vermitteln. Kinder lernen aber nun mal am meisten durch das Verhalten der Eltern – und auch den Umgang der Eltern miteinander – und nicht durch noch so kluge Erziehungsmaßnahmen oder allgemeine Hinweise von Eltern und Erziehenden, was richtig und was falsch ist.
Nur weil man Vater oder Mutter geworden ist, hat man ja nicht plötzlich eine andere Persönlichkeit. Wer vor der Geburt seines Kindes selbst noch nicht erwachsen geworden ist, der wird es jetzt nicht automatisch. Mutter zu werden, Vater zu werden, Familie zu werden kann ein großes Glück sein und ist immer auch ein Arbeiten – an sich selbst und auch an seiner Liebesbeziehung. Ich lade Sie herzlich ein, in den folgenden Gesprächen mit mir zu entdecken, wie sich Eltern verhalten und was ihr Denken und Tun leitet. Und fühlen Sie sich zwischen den Zeilen dazu ermuntert, selbst zu fragen: Wer bin ich? Und wohin möchte ich – nicht nur als Mutter oder Vater, sondern auch als Frau und Mann und mit meinem Partner oder meiner Partnerin?
»Hilfe, wir sind uns in Erziehungsfragen überhaupt nicht einig«
Die Willensstärke und Wutausbrüche von Tochter Lara sind auch Ausgangspunkt für Streit zwischen den Eltern Yvonne und Tobias. Yvonne versucht, sich in ihre Tochter hineinzuversetzen, und ist eher geduldig, aber bestimmte Familiensituationen eskalieren trotzdem immer wieder. Yvonne macht sich außerdem Sorgen, dass Tobias’ Art, mit Lara in Konfliktsituationen zu sprechen, der Tochter schadet. Sie wünscht sich mit ihrem Partner mehr Konsens in Erziehungsfragen. Tobias kommt mit Lara schneller an seine Grenzen als seine Frau und greift früher in Situationen ein. Er möchte seine Haltung nicht verändern, weil er es wichtig findet, Lara zu vermitteln, welches Verhalten von ihr in konkreten Situationen nicht geht bzw. welche Konsequenz es hat.
Das Gespräch
Yvonne und Tobias
sind die Eltern von Lara, 5, und Ben, 1
Yvonne: Wir sind eine Familie mit einem Kind, das am liebsten alles selbst bestimmen möchte. Wir haben zwei Kinder, aber unsere ältere Tochter Lara ist diejenige, die genau weiß, was sie möchte. Das finde ich grundsätzlich auch nicht schlecht, dass sie weiß, was sie will. Wir haben das sicher auch mit Fragen wie »Was möchtest du anziehen? Was magst du essen?« gefördert. Und es hat auch gut funktioniert. Nicht gut läuft es, wenn Lara keine Wahl hat – und Autorität greifen soll. Das kommt ja regelmäßig vor, zum Beispiel morgens, wenn man Zeitdruck hat. Oder ein ganz großes Thema ist, seit wir das zweite Kind haben, Rücksichtnahme. Ich sage zu Lara etwa: »Sei nicht so laut. Ben schläft noch.« Wenn überhaupt, klappt das für zwei Minuten, dann ist es mit der Rücksicht schon wieder vergessen. Ich sage es also noch mal, und noch mal und noch mal. Irgendwann platzt mir dann der Kragen, und ich werde laut. »Mensch, ich habe es dir doch schon tausendmal gesagt, jetzt sei mal leise!«, schimpfe ich dann. Funktioniert aber auch nicht. Und dann überrascht sie uns plötzlich und spricht ganz von allein im Flüsterton. Weil: »Ben schläft ja noch, Mama.« Dann denke ich: Boah, was habe ich denn jetzt anders gemacht, warum funktioniert das jetzt einfach so? Wahrscheinlich, weil es nicht verlangt war.
Jesper: Also, wenn man vier Jahre alt ist und eine kleine Schwester oder einen kleinen Bruder bekommt, dann braucht man ja auch Zeit, um sich an die neue Familiensituation zu gewöhnen. »Mein ganzes Leben war ich allein und konnte genau so laut sein, wie ich wollte. Und jetzt geht das nicht mehr!« So empfindet sie das. Das dauert nun mal.
Yvonne: Ja, ich frage mich auch immer: »Wie viel kann ich verlangen?« Ich mache mir viele Gedanken. Ich würde auch behaupten – und das ist unser nächstes Thema –, dass ich stärker versuche, mich in die Kinder hineinzuversetzen. Mein Mann sagt eher: »So geht das nicht, jetzt müssen wir hier mal einen härteren Weg einschlagen.« Aber das geht für mich gar nicht. In Erziehungsfragen sind mein Mann und ich uns nicht einig. Das belastet unsere Beziehung! Und ich versuche zwar, vor den Kindern meinen Mund zu halten, wenn ich Tobias’ Art, mit den Kindern umzugehen, nicht für richtig halte, aber ab und zu halte ich das nicht aus und grätsche voll rein. Ich sage zum Beispiel: »Boah, das kannst du so aber gar nicht machen. Das geht nicht.«
Jesper: Kann ich ein Beispiel haben für so einen Konflikt, bei dem ihr unterschiedliche Meinungen habt?
Yvonne: Ja. Wir sind vor Kurzem zu Oma und Opa zum Faschingfeiern gefahren, von Samstag bis Sonntag. Auf der Hinfahrt hat Lara dann mal wieder ständig gegen den Fahrersitz getreten, und mein Mann sagte irgendwann aufgebracht: »Wenn das jetzt dahinten nicht aufhört, dann fahren wir sofort wieder nach Hause!« Ich fand das nicht richtig und habe ihn gefragt: »Das meinst du doch nicht ernst, oder? Wir fahren doch jetzt nicht wieder nach Hause.« Aber er blieb dabei und sagte noch mal laut: »Ich würde das jetzt machen.« Und da habe ich gesagt: »Ich würde aber nicht mitmachen.«
Jesper: Und warum?
Yvonne: Weil . . . weil ich den Konflikt nicht stark genug fand, um so eine Konsequenz anzudrohen und die ganze Familie darunter leiden zu lassen. Ich finde, das muss eine realistischere Konsequenz für Lara sein. Da sind wir aber nicht im Konsens. Und finden ihn auch nicht.
Jesper: Okay, aber ich meinte etwas anderes. Deine Reaktion ist ganz eindeutig die einer Mutter, ich würde gern wissen, was deine Reaktion als Partnerin ist.
Yvonne: Ich glaube, das verstehe ich nicht ganz.
Jesper: Nein, das glaube ich auch nicht. (Jesper und Yvonne lachen.) Mütter sind ja immer damit beschäftigt: Was ist gut für mein Kind?
Yvonne: Ja.
Jesper: Das sind aber nur 50 Prozent der Welt – dazu kommt: Was ist gut für meinen Partner?
Yvonne: Das heißt, ich habe den Weg nicht gefunden, was gut für beide ist?
Jesper: Das weiß ich nicht.
Yvonne: Oder ich suche den Weg nicht.
Jesper: Ja, das ist ein bisschen näher dran, glaube ich. (Jesper lacht.)
Yvonne: Ja, da fühle ich mich jetzt ertappt.
Jesper: Für mich ist das aber der einzige Weg. Man kann ja ganz schnell das Verhalten oder die Sprechweise eines anderen...