Einleitung
Ankunft des
Lifelogging-Jahrzehnts
Einführung – Was ist Lifelogging?
http://mediathek.hs-furtwangen.de/index.php?cmd=videodetails&id=d0866abdc31a9c0cefdc83c5b72b07f5
Lifelogging, die digitale Protokollierung des eigenen Lebens, boomt. Eine Idee hat die Labors verlassen und macht sich daran, in unsere Gehirne und damit in unser Weltbild einzudringen und Teil unseres Alltags zu werden. Natürlich hat das eine technische Seite. Für dieses Buch sprach ich daher mit Entwicklern und Experten, um ihre Denkweise zu verstehen. Ich besuchte Orte, von denen maßgebliche Innovationen ausgehen, um mir selbst ein Bild der schönen neuen Lifelogging-Welt zu machen, die Folgen dieser Entwicklung besser abschätzen zu können und Einblicke in eine kommende Gesellschaft zu gewinnen. Noch nie hatten Menschen einen derart tiefen Spiegel, in den sie schauen konnten. Dieser Spiegel sind die neuen digitalen Technologien, die der Selbstvermessung, der Selbstbeobachtung sowie der Selbstoptimierung dienen. Sie erlauben einen detaillierten Blick auf uns selbst, aber sie steigern auch die Gefahr, sich in der eigenen Selbstverliebtheit zu verlieren.
Sind wir bereit, diesem Blick standzuhalten?
»It’s all about MY self«
Während im November 2013 draußen in San Diego noch eine angenehme Novembersonne scheint, versammelt sich im fensterlosen Vortragssaal der University of California ein Kreis Eingeweihter – vor allem Lifelogging-Entwickler und Wissenschaftler – um seinen Guru Jim Gemmell. Gemmell ist der Architekt der einflussreichen Lifelogging-Software von MyLifeBits und zugleich Gründer der Firma Tr?v. Er verdeutlicht in persona, dass die Idee, das eigene Leben umfassend digital zu protokollieren, aus den Labors der Softwareunternehmen, den Entwicklungsabteilungen von Mobilfunkunternehmen oder den Hochschulen es in die freie Wildbahn geschafft hat. Lifelogging bedeutet zunehmend auch, dem Lockruf des Geldes zu folgen.
In San Diego versammeln sich Experten, die ihrer Zeit voraus sind. Seiner Rolle als Guru wird Jim Gemmell gerecht, weil er diesen Experten den Weg in die Zukunft aufzeigt. Er predigt die Ankunft eines neuen Zeitalters. »Wir befinden uns am Beginn des Lifelogging-Jahrzehnts. Es werden aufregende Zeiten sein. Alles ist im Fluss. Die Welt, wie wir sie kennen, wird sich durch Lifelogging komplett ändern.«1 Jim Gemmell glaubt fest an die Vorteile der digitalen Lebensprotokollierung, und wie es sich für einen Guru gehört, findet er markige Worte für seine Überzeugungen. »Lifelogging wird unvermeidbar sein. Lifelogging ist nicht bloß das Vermessen des Menschen mit Sensoren. Es geht darum, die digitale Existenz der Menschen sicherzustellen.«
Der Gunst des Publikums kann sich Gemmell sicher sein. Wie aber würde seine Botschaft bei denen ankommen, für die Mobiltelefone bloß Alltagsgegenstände und keine Softwareprojekte sind? Schließlich produzieren wir alle unentwegt einen digitalen Schatten, wobei sich immer häufiger und dringlicher die Frage stellt, was eigentlich genau mit diesen Daten passiert.
Lifelogging stellt die Frage nach den Bedingungen und Grenzen der Nutzung privater Daten in verschärfter Form. Dabei geht es auf den ersten Blick um einen digitalen Humanismus – die Idee der Verbesserung des Menschen und seiner Lebensbedingungen. Für Gemmell ist Lifelogging das zentrale »Persönlichkeitsveredelungsprojekt« des kommenden Jahrzehnts. »It’s all about MY self«, ruft er den Eingeweihten zu. »ICH mache die Daten nutzbar für MICH. ICH halte sie zusammen, bewahre sie für immer, sichere sie, greife auf sie zu, wann immer ICH es möchte. Die Daten sind einfach da, wenn ICH sie brauche. Es ist wichtig, SELBST entscheiden zu können, wann man etwas erinnern möchte. ICH erkenne MICH. Das ist der Mehrwert. Und deswegen wird das Lifelogging-Jahrzehnt kommen.« Die Gesellschaft, so seine Verkündigung, wird sich in Richtung einer Totalerfassung digitaler Lebensspuren bewegen. Dabei ist er überzeugt davon, dass mehr Daten automatisch zu einem besseren Leben führen. Ob diese Auffassung mehrheitsfähig ist?
Lässt sich für technische Laien überhaupt verstehen, wie die digitale Totalerfassung funktioniert? Gemmell kreiert eine schlichte, aber anschauliche Definition für das, was Lifelogging im Kern ausmacht: »Lifelogging ist eine Black Box für Menschen. Alles, was unser Leben ausmacht, steckt darin.« Für diese Black Box gibt es inzwischen viele Namen: Human Digital Memory, Personal Life Archive oder E-Memory. Formal nennt sich die Idee, individuelle Daten zu erfassen und statistisch auszuwerten, personenbezogene Informatik. Für dieses Buch wählte ich jedoch Lifelogging als Titel, weil ich davon ausgehe, dass er verständlicher und prägnanter ist. Die Begriffsanteile – »Life« (= Leben) und »to log« (= protokollieren, sammeln) – sind selbsterklärend. Nach und nach wird durch Daten erfassende Tätigkeiten (»loggen«, »tracken«) die Black Box mit »Lifelogs«, also Lebensspuren oder -daten in digitaler Form, gefüllt.
Daraus leitet sich ein Verständnis für die Grundoperationen ab, die mit Lifelogging verbunden sind. Der Erfassung (»Capturing«) unterschiedlichster Lebensdaten durch Geräte, Kameras und Sensoren folgt die Speicherung (»Storage«) dieser Daten. Zentral für Lifelogging ist dabei die Idee, später immer wieder auf die Daten zurückgreifen zu können (»Retrieval«) und diese mit Hilfe schlauer Programme auswerten zu können. Schließlich besteht das Ziel von Lifelogging darin, neues Wissen zu erzeugen, das in die Optimierung der eigenen Lebensführung mündet.2 Damit ist Lifelogging eine technische Antwort auf die zentralen W-Fragen des Lebens: Was passierte wo mit wem und wie? Unaufdringliche digitale Technologien ermöglichen es inzwischen, kontinuierlich und passiv die eigene Black Box zu füttern, ohne diesem Prozess zu viel Aufmerksamkeit widmen zu müssen.
Wie lässt sich das Verhältnis zur personalisierten Black Box beschreiben? Black Box, das klingt nach Flugzeugkatastrophen, zu deren Aufklärung Daten aus crashsicheren Flugschreibern ausgelesen werden, die zuvor vom Meeresgrund geborgen wurden. Welches Menschenbild verbirgt sich hinter der Black-Box-Analogie? Ist unser Leben ein permanentes Unglück, das wir nur dadurch erklären können, dass wir ständig Daten über unsere Existenz aus unserem »Lebensschreiber« auslesen und interpretieren? Lifelogging kann sehr unterschiedliche Formen annehmen. In diesem Buch werde ich fünf Formen vorstellen, die zeigen, wie die Black Box nutzbar gemacht werden kann: 1. die Selbstvermessung des eigenen Körpers und das gemeinsame Heilen bei chronischen Krankheiten, 2. die Erfassung von Aufenthaltsorten und Aktivitäten in Echtzeit, 3. die digitalen Erinnerungsstützen und Gedächtnisse, 4. die Idee digitaler Unsterblichkeit sowie 5. die Idee der umfassenden Transparenz und Sousveillance. An diesen Grundtypen, auf die ich im zweiten Kapitel näher eingehe, werde ich schrittweise die wichtigsten kulturrelevanten Fragen diskutieren. Denn der digitale Lebensschreiber ist nicht nur eine neue Technologie. Er bringt vor allem neue Lebensformen mit sich, so wie die Uhren, die das gesellschaftliche Gefüge tiefgreifend veränderten. Diesen Veränderungen spürte ich – auch durch Selbstversuche – nach. Experimentelles Lernen kombinierte ich mit soziologischer Analyse. Heraus kamen dabei fünf unterschiedliche Typen der Selbsterhebung digitaler Daten, die das breite Spektrum digitaler Selbstvermessung und Lebensprotokollierung kennzeichnen und die ich übergreifend Lifelogging nennen.
1. Am Puls des Lebens – Lifelogging als Körpervermessung
Bekannt wurde die digitale Selbstvermessung des eigenen Körpers und der eigenen Gesundheit durch die Quantified-Self-Bewegung. Ihre Anhänger folgen dem Leitbild, dass Zahlen Selbsterkenntnis ermöglichen. Sie vermessen sich mit Kleinstsensoren, die am Körper getragen werden, um Daten über ihre Fitness, ihr Ernährungsverhalten oder ihre Schlafgewohnheiten zu erhalten. Um das alles zu verstehen, nahm ich an Treffen der Selbstvermesser in den USA und Deutschland teil. Die Beobachtungen vermittelten mir einen Eindruck von den Motiven, Ängsten und Erwartungen der Selbstvermesser und zeigen die Grenzen des Selbstvermessungsansatzes auf: Digitale Daten ermöglichen einfache Formen sozialer Vergleiche, aber sie erhöhen auch den Herdentrieb und damit den sozialen Druck.
2. Leben an der langen Leine –
Lifelogging als Ortsbestimmung und Aktivitätstracking
Aus der Sorge, ein Kind könne verschwinden oder entführt werden, speist sich eine weitere Grundform von Lifelogging, bei der durch Sensoren die Aufenthaltsorte von Personen festgestellt und auf einer digitalen Karte angezeigt werden. Human Tracking lässt sich aber nicht nur zum Schutz von Kindern einsetzen. Man kann damit auch den Aufenthaltsort von Ehemännern/-frauen ermitteln oder die Arbeitsleistung von Mitarbeitern dokumentieren. Gerade diese Nutzungsweise zeigt die Doppelbödigkeit von Lifelogging: Die Grenzen zur Überwachung und Kontrolle sind fließend. Auch bei der Vermessung von Freizeitaktivitäten halten sich Versprechen und Risiko die Waage.
3. Ich sehe was, was du...