Was bleibt? (an Stelle einer Einleitung)
»Wie leicht ist es, die Menschen glücklich zu machen. Eine Biographie. Was ist eine Biographie? Als ob etwas anderes zählte als das schöpferische Werk. Aber da kramt einer herum in den Abfällen, in der sogenannten Wirklichkeit, im Abgelebten, und ist glücklich.«1
Lion Feuchtwanger hat sich stets einem autobiographischen Diskurs verweigert. Als Schriftsteller wollte er nicht in eigener Sache tätig werden, wollte über sich selbst vor allem durch sein Werk Auskunft geben. Aus gutem Grund, wie er fand: »Eine Selbstbiographie schreiben, ist ein heikles Unternehmen. Das Wort ›ich‹ ist gefährlich für den Schriftsteller. Läßt er sich nur ein wenig gehen, dann bekommen seine Sätze sogleich einen wichtigtuerischen Klang; versucht er, kühl zu bleiben, dann wirkt eine solche Kühle rasch wie falsche Bescheidenheit, und die Ich-Erzählung wird doppelt unerträglich.«2 Dieser Maxime der autobiographischen Diskretion ist Lion Feuchtwanger zeitlebens treu geblieben. Es gibt nur wenige Texte aus seiner Feder, die das eigene Werden und Leben reflektieren. Meist sind es kurze, summarische Übersichten, mehr Notizen und Fragmente, die als unfertige Bausteine und Module für eine Biographie dienen können, bisweilen aber auch den Blick auf die Person Feuchtwanger mehr verstellen als erhellen. Selbst die Tagebücher, als Fragmente für die Jahre 1906 bis 1940 überliefert, sind weder für literaturwissenschaftliche noch für biographische »Ermittler« geschrieben. Es sind intime, oft im Telegrammstil abgefasste Zeugnisse, die eher den Charakter chronologischer Ereignisprotokolle haben und kaum einmal den Leser mit klugen, diskursiven Reflexionen über Literatur, Kunst, Philosophie und Politik erfreuen. Sie sind erkennbar nicht mit Blick auf eine spätere, womöglich posthume Veröffentlichung geschrieben. Es sind Zeugnisse der Selbstvergewisserung, persönliche, bisweilen explizit intime Notizen, die in der geschützten Sphäre des Privaten bleiben sollen – andernfalls hätte Lion Feuchtwanger diese nicht in der den meisten Lesern unzugänglichen Kurzschrift verfasst. Da also Feuchtwanger mit Informationen und Daten über seine Person und sein Leben sehr sparsam war, müssen andere die Aufgabe des lebensgeschichtlichen Erzählers übernehmen. Germanisten und Historikern fällt die Aufgabe zu, Zeugnis abzulegen von einem Leben, dessen Verlauf wie wenige andere die Höhen und Untiefen, die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten des »langen 20. Jahrhunderts« (Charles S. Maier) widerspiegelt.
Dieses Buch ist mehr als eine Biographie. Denn es verschränkt Lebensgeschichte mit sozialen, kulturellen, politischen Gegebenheiten. Fragt nach Bezugssystemen, Netzwerken, Abhängigkeiten, Bedingungen. Stellt den Protagonisten in einen Kontext, der – im Rang gleichwertig – die lebensgeschichtliche Erzählung einrahmt und stützt. Und doch ist dieses Buch auch viel weniger als eine Biographie. Denn: Die Geschichte eines kompletten Lebens zwischen zwei Buchdeckeln einzufangen, den Werdegang eines Menschen »von der Wiege bis zur Bahre« in all seinen unberechenbaren Windungen und letztlich doch folgerichtigen Entwicklungen zu erzählen, ist ein hoffnungsloses Unterfangen. Man möchte bekennen: Ein derartiges Projekt scheint von vornherein zum Scheitern verurteilt. Wie überhebliche Maßlosigkeit mutet es an, das Unmögliche zu wagen: zu schildern, wie sich Persönlichkeit und Charakter eines Menschen entwickeln, wandeln, festigen. Wie sich »Menschlichkeit« in einer Person verdichtet, wie sich Gefühlswelten, wie sich Hoffnungen, Ängste, Sehnsüchte, Leidenschaften und vieles mehr an emotionalen Befindlichkeiten mit Talenten und Begabungen mischen und so, stets in Wechselwirkung mit einem sozialen Umfeld, das Profil eines Individuums konturieren, seine Besonderheit formen und schließlich seine Einzigartigkeit unterstreichen.
Dieses Buch ist also vor allem: ein Versuch. Ein Versuch der Annäherung an einen Menschen, der einzig in schriftlichen Überlieferungen, in archivischen Fragmenten, in seinem poetischen, schriftstellerischen Werk fortlebt und schon längst nicht mehr in den Erinnerungen der Nachlebenden gegenwärtig ist. Denn auch die Generation der »Zeitzeugen«, die noch aus eigener Anschauung, eigenem Erleben und Mitleben über den Menschen und Schriftsteller Dr. phil. Lion Feuchtwanger berichten könnte, ist schon lange von uns gegangen. Dieses Buch ist demnach der Versuch einer Rekonstruktion. Und weil der Begriff Rekonstruktion auch den schöpferischen Aspekt der »Konstruktion« in sich trägt, gilt es einzuräumen, dass das Schreiben einer Biographie oft auch den Bereich des Spekulativen berührt. Wie etwas war, wie Ereignisse sich entwickelt und welchen Verlauf, ja, warum sie diesen Verlauf genommen haben, lässt sich nicht immer zweifelsfrei feststellen. Man kann Geschichte erschließen, deuten, andeuten. Beweisen lässt sie sich nicht. Nur Phänomene, deren spezifische Konfiguration in beliebig oft wiederholbaren Versuchsanordnungen überprüft werden kann, sind letztlich beweisbar. Geschichtswissenschaft ist hingegen eine Wissenschaft im Konjunktiv. Gleiches gilt auch für die Biographie. Erzählt wird in diesem Buch die Geschichte eines Mannes, dessen Leben – einem Brückenschlag vergleichbar – zwei Jahrhunderte miteinander verbindet, wie sie gegensätzlicher nicht sein können: Geboren und aufgewachsen ist er in der vermeintlich »guten alten Zeit«, in der jedoch das verklärte Idyll der bayerischen Prinzregentenära bereits machtvoll mit den Spannungen und Herausforderungen einer krisengeschüttelten Moderne konfrontiert wird. In die Lebenszeit von Lion Feuchtwanger fällt das unversöhnliche Aufeinanderprallen von Tradition und Fortschritt, er wird zum Zeugen (und zum Akteur) der zerstörerischen Konfrontation von bürgerlicher Selbstgefälligkeit und avantgardistischer Aufbruchstimmung. Das Leben von Lion Feuchtwanger ist gezeichnet durch die großen, die erschütternden Katastrophen der Epoche. Dieses Leben erfährt seine Zäsuren durch den Ersten Weltkrieg und in tiefgreifender, tragischer Form durch das Menschheitsverbrechen des nationalsozialistischen Judenmords. Im Leben des Protagonisten dieses Buches spiegelt sich die Vielschichtigkeit und die Tragik jener Jahrzehnte, die die Lebensentwürfe ganzer Generationen und Völker dauerhaft verändert, ja deformiert haben.
Dieses Buch über Lion Feuchtwanger verdankt den profunden Biographien von Joseph Pischel (1976), Volker Skierka (1984), Reinhold Jaretzky (1984) und Wilhelm von Sternburg (1991) viel. Sie geben die Koordinaten vor, legen das Fundament und setzen die Standards für diese Feuchtwanger-Biographie des Jahres 2014. Auch die Arbeiten von Heike Specht über »Die Feuchtwangers« (2006) und Manfred Flügge über Marta Feuchtwanger (2008) und Eva Herrmann (2012) sind grundlegend und haben ihre Spuren in der vorliegenden Darstellung hinterlassen. Damit sei gesagt, dass die Lebensgeschichte von Lion Feuchtwanger in diesem Buch nicht grundlegend neu erzählt wird, eben weil sie nicht grundlegend neu berichtet werden kann. Vieles ist bekannt, ausgeleuchtet, interpretiert und kommentiert. Dennoch beansprucht das Buch einen neuen Zugang. Die Lebensgeschichte von Lion Feuchtwanger wird hier anders akzentuiert, folgt modifizierten Leitfragen, nutzt bislang unbekannte Quellen und lenkt den Blick schließlich auf Aspekte von Leben und Werk, die in dieser Form bislang nicht die ihnen gemäße Aufmerksamkeit gefunden haben. Die Aufmerksamkeit richtet sich einmal auf München, die Geburts- und Heimatstadt Feuchtwangers. Vier Jahrzehnte hat er in der bayerischen Haupt- und Residenzstadt verbracht. Mehr Lebenszeit verbindet ihn mit keinem anderen Ort. Dieser Befund ist evident und er bestimmt Kurs und Format des lebensgeschichtlichen Narrativs. Was hat das »Milieu München« dem Menschen und Schriftsteller gegeben, wo liegen die wechselseitigen Wirkkräfte und welche literarische Energie wurde durch Reibung an und Inspiration durch dieses spezielle »Milieu München« freigesetzt? Mit anderen Worten: Wie hat sich die kulturelle und politische Physiognomie Münchens in Leben und Werk des Schriftstellers Lion Feuchtwanger eingeschrieben?
Ein zweites Leitmotiv liegt dem Buch zugrunde. Die älteren Biographien richten bei der Rekonstruktion und Einordnung des Lebens von Lion nicht nur großes Augenmerk, sondern auch großes Vertrauen in die Berichte von Marta Feuchtwanger. Marta ist die besorgte Hüterin des Feuchtwanger’schen Erbes, die Treuhänderin von Lions Nachlass und die zentrale Figur der Feuchtwanger-Rezeption, der Feuchtwanger-Biographik nach dem Tod des Schriftstellers. Mit lakonischer Selbstverständlichkeit reklamiert Marta die Deutungshoheit über den Menschen Feuchtwanger. Als »Lions Königliche Kustodin« wird sie 1981 in einem Magazinbeitrag der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« bezeichnet – eine durchaus treffende Zuschreibung. Das Werk, das jedem zugänglich ist, in millionenfacher Auflage gedruckt vorliegt, interpretiert Marta, die »lebende Legende« (Thomas Bublacher), kaum. Das...