Bohemien in Schwabing
Das Klima ist vergleichsweise liberal, Schriftsteller wie Heinrich Mann, Wedekind, Mühsam haben sich hier niedergelassen. Und es gibt die Schwabinger Boheme, die das künstlerische Leben der Stadt bestimmt. Sie bietet den Söhnen des Bürgertums Fluchtmöglichkeiten aus der Welt der väterlichen Wohlanständigkeit. Sie ist modern und antibürgerlich, sie setzt sich hochmütig über moralische Prüderien hinweg: In der Weltanschauung, in der Literatur, auf der Bühne jener Jahre waren alle Sexualfragen überbetont. Alle Geschehnisse der Welt wurden auf die Frau bezogen, in einem sehr feindseligen Sinn etwa von Strindberg, pathetisch und doktrinär von Wedekind, leicht sentimental von den Wienern, von Schnitzler und vom jüngeren Hofmannsthal, die es geradezu aussprachen: Liebe, Komödie und Tod seien Sinn und Inhalt des Lebens. Feuchtwanger findet schnell Zugang zur ästhetischen Lebensstimmung dieser Zeit. Er liest die Dramen Wedekinds, Oscar Wildes «Salome», Heinrich Manns «Herzogin von Assy» («Die Göttinnen»). In der Musik herrschte Richard Strauss, auf der Szene triumphierte bunt, sinnlich und sehr gekonnt der Darstellungsstil Max Reinhardts. Und allgemein anerkannt war als künstlerisches Grundprinzip, daß es nicht auf das Was, sondern selbstverständlich nur auf das Wie der Darstellung ankomme.
Es ist nicht nur die Kunst selbst, die ihn anzieht, es ist ebenso die Aura eines aus bürgerlichen Zwängen freigesetzten Künstlerdaseins, die Schwabinger Lebenskultur mit ihrer Unbeschwertheit, ihrem spöttischen Witz, ihrer Arroganz. Feuchtwanger lebt sich in diese Kultur hinein, er verkehrt mit Schauspielern, Regisseuren und Literaten. In jenen Jahren, sehr früh, lernte ich einige Schriftsteller kennen, die ich überaus hoch achtete, Wedekind vor allem und Heinrich Mann, und ich kam ihnen nahe. Vieles dessen, was sie lebten und schrieben, leuchtete mir ein, aber es war auch ersprießlich, mit ihnen zu streiten. Er schreibt literarhistorische Abhandlungen vornehmlich für das gebildete und liberale Publikum der «Vossischen» und der «Frankfurter Zeitung».
Feuchtwanger führt das Leben eines Bohemiens, jedoch nicht im ursprünglichen Sinne einer verächtlichen Abgrenzung vom offiziellen Kunstbetrieb, im Gegenteil: Er teilt nicht die Skepsis gegenüber dem literarischen Markt, lediglich empfängt ihn die literarische Öffentlichkeit noch nicht als Schriftsteller, wiewohl er sich darum bemüht. Er versucht es mit Prosa und Dramen. Ich machte viele literarische Experimente und suchte die mir gemäße Form zu finden. Ich schwankte hin und her zwischen realistischer Darstellung der Gegenwart und romantisch übersteigerter Schilderung der Vergangenheit. Die sprachliche Meisterschaft Hofmannsthals, Stefan Georges, Rilkes beeindruckte mich, auf der anderen Seite die realistische Psychologie Zolas, Schnitzlers und Ibsens. Einige seiner Stücke werden aufgeführt, sie fallen allerdings mit Recht durch. Zuerst ist er jedoch Theaterkritiker. Er gewinnt schnell einen Namen, er ist verwickelt in öffentlich ausgetragene Intrigen. Und es zieht ihn hin zu risikoreichen Unternehmungen. Er steht dem literarischen Verein «Phöbus» vor. Unter seinem Einfluss entscheidet man sich für die Stücke umstrittener Autoren. Wedekind, Strindberg, auch Hauptmanns «Pippa» gelangen hier zur Uraufführung. Er liebt provozierende, moderne Entscheidungen: Die alteingesessenen Münchner Schriftsteller und Rezensenten erklärten meine Tätigkeit für die Frechheit eines Jungen, der noch nicht trocken hinter den Ohren sei. Ich gewann manche Freunde und viele Feinde.
Ein anderes Unternehmen ist die Herausgabe einer Halbmonatsschrift mit dem Namen «Spiegel», überaus artistisch und recht geschmäcklerisch. Die erste Nummer erscheint 1908, und zu ihren Mitarbeitern gehören so bedeutende Literaten wie Max Halbe, Thomas Mann, Hermann Bahr, Jakob Wassermann. Die «Blätter für Literatur, Musik und Bühne», so der Untertitel, streben eine Vereinigung von diskursiver und intuitiver Kunstbetrachtung an, es sollen zwei Lichtquellen sich einen, die Strahlen wissenschaftlich-forschender, rein verstandesmäßiger Kritik und die Strahlen künstlerisch-impressionistischen, intuitiven Erkennens. Zwar wird das Blatt noch im selben Jahr eingestellt, doch findet Feuchtwangers Tätigkeitsdrang schnell andere Aufgaben. Siegfried Jacobsohns «Schaubühne» verpflichtet ihn als ihren Münchner Bühnenkritiker. Er unterstützt das Theater Max Reinhardts, er porträtiert Schauspieler und liefert scharf zersetzende Angriffe gegen die Kultstätten reaktionärer Heimatkunst wie die Oberammergauer Festspiele. Er ist streitbar und unnachsichtig. Ich schrieb … ziemlich viele Rezensionen in jenen Jahren. In einem reichlich brillanten, fechterischen Stil, ziemlich bösartig. Ich habe manchem Manne wehgetan damals; denn ich wußte viel, ich war in den Ästhetiken mancher Epochen gut beschlagen, ich konnte, wenn ich wollte, recht scharf treffen.
Er ist der Ästhetik seiner Zeit verpflichtet. Die ästhetisierende Lebensbetrachtung des Fin de Siècle hat auf den literarisch interessierten Bürgersohn, der um seine materielle Existenz wenig fürchten muss, nachhaltig gewirkt. Ihn interessiert nur das Wie der Kunst und: Ob jemand faulenden Käse schildert oder die schöne Helena, gilt gleich, wenn seine Schilderung nur Kunst ist. Im Übrigen möchte der später engagierte Literat die Kunst weitab von aller Politik wissen. Ein programmatisches Bekenntnis seiner literarästhetischen Überzeugung legt er 1908 in dem Aufsatz Zur Psychologie der Bühnenreform ab. Er teilt dort die Literatur des 19. Jahrhunderts recht schematisch in zwei Richtungen: in eine moderne kritizistische und in eine harmonisierend-idealistische, der seine ganze Abneigung gilt: sie liebt das Einfache, in sich Geschlossene, Gemüt- und Sinnvolle, das «Gesunde», und sie haßt das Zwiespältige, das Komplizierte, das «Kranke». Sie spricht gern und voll Überzeugung von höherer Einheit, von Totalität, Simplizität. Gefühl ist ihr alles. Sie sinniert und spintisiert gern: aber mit Kritik will sie sich nicht abgeben. Sie spricht häufiger von Herzen als von Hirn und immer mit Überzeugtheit. Sie liebt das Holzschnittartige, Dürerhafte, das Süße und das Derbe, das Herzhaftige und das Sinnige. Sie liebt große erhebende Symbole, die mehr zum Gemüt als zum Verstand sprechen. Sie liebt das Gutbürgerliche, den Sonntag, den Bratenrock, das Handwerk, das Feierliche, das Gravitätische, das Stille, das Ernste. Sie liebt alte ehrbare Trinkstuben, sonnige, versonnene Frühlingsmorgen, ehrenwerte Jünglinge und tugendhafte Jungfrauen, erfreuliche knusprige Gänsebraten, dann Märchen und Schnurren, das Vaterland, altnordische Mythen, die Natur – breite, langsame Flüsse vor allem und Mittelgebirg –, die Kinder und die lautere Wahrheit. Die Welt, die Schiller’s «Glocke» und seinen «Spaziergang» umspannt, ist ihre Welt, und was darüber hinausgeht, möchte sie am liebsten leugnen. Sowenig er diese idealistische Traditionslinie schätzt, so sehr bekennt er sich zu einer kritizistischen und psychologisierenden Gegenrichtung. Diese andere Richtung liebt die Weltstadt, das rege, tosende Leben, das Moderne und Modernste. Den Komfort, die Verweichlichung, die tausenderlei Raffinements entwickelter Kultur. Das Nachtleben, die Eleganz, müde, intellektuelle Krawatten und erklügelte Geschlechtskitzel. Sie hat keine Pietät vor dem Schweiß ehrenfester Arbeit, ja, sie erdreistet sich, ihn als unästhetisch zu empfinden. Sie interessiert sich für den Menschen. Mehr als für die Natur und alle Metaphysik. Sie seziert die Empfindung und kritisiert selbst im Pathos und im Sentiment. Sie steht dem Volkstümlich-Naiven sehr fern und ist im Wesen esoterisch. Sie hält große Stücke auf eingehende Analyse. Sie ist im Innersten zwiespältig und ist sich wohl bewußt, daß sie zwei oder gar drei und vier Seelen hat: so klingt selbst ihr echtestes Pathos und ihr echtester Gefühlsausbruch leicht gewollt und ironisch. Es sind die Attribute des Wiener Impressionismus und der Neuromantik, der Literatur Hofmannsthals, Schnitzlers, Rilkes, Georges, die Feuchtwanger hier engagiert vorträgt.
Nicht nur als Kritiker, auch als Verfasser von Dramen und Prosa ist er dieser Richtung verpflichtet. Unter dem Einfluß Oscar Wildes und der deutschen Neuromantik entstanden meine ersten Dramen, die mir einigen Erfolg einbrachten. Feuchtwanger schreibt seit dem achtzehnten Lebensjahr. Er experimentiert, er imitiert. Die literarische Kritik nimmt wenig Notiz von seinen Ergebnissen. Schroff weist man ihn als Familienblattbegabung zurück. Er selbst will später von seinen literarischen Anfängen nicht viel wissen. Der gebildete und scharfsinnige Kritiker gibt seinen hohen Anspruch auf, wenn er in die Haut des Schriftstellers schlüpft. Er schreibt süßlich, an der Grenze zum Kitsch. Sein frühes Werk bezeugt seinen Drang zum Schreiben, es fehlt ihm jedoch der erlebte Konflikt, das innere Motiv. Die frühen erzählerischen und dramatischen Versuche kreisen um moderne philosophische Themen, um Fragen ästhetischer Lebenshaltung und Ethik. Geschmeichelt mag der an Eleganz und Form interessierte junge Feuchtwanger Nietzsches Appell an das Geschmacksurteil der ästhetisch Gebildeten gelesen haben. Aber Feuchtwanger ist auch Moralist genug, um der amoralischen Sentenz...