Was macht den Sonntag zum Sonntag?
In meiner frühen Kindheit hätte ich die Antwort auf die Frage, was den Sonntag zum Sonntag macht, aus dem Ärmel schütteln können: »Sonntag ist, wenn Lenti nicht da ist!« Lenti war unsere Kinderfrau. Was vielleicht etwas elitär klingen mag, unterschied sich nicht wirklich von den Erfahrungen heutiger Kinder in Horten, Kitas und Kindergärten: Heute ist fast jedes Kind fremdbetreut und hat seine Kinderfrau(en). Zumindest gehen die politischen Bestrebungen dahin, hauptsächlich aus wirtschaftlichen Erwägungen. Damals gab es wohl andere Gründe für die Kinderbetreuung. Jedenfalls gehörten meine Geschwister und ich diesbezüglich zu einer Avantgarde. Für uns war vor 50 Jahren ödeste Normalität, was heute als Gipfel modernen Familienmanagements propagiert wird: ganztags Fremdbetreuung.
»Wenn Lenti nicht da ist.« Anfangs war es nur eine Beobachtung: Während wir tagein, tagaus Lentis hochstrukturiertem Betreuungsmanagement unterstellt waren, das mit kontrolliertem Zähneputzen morgens begann und abends mit ekelerregendem Lebertran von einem unfair tiefen Suppenlöffel endete, gab es dazwischen immer wieder einzelne Tage völligen Friedens. Sie kamen regelmäßig, man konnte sich darauf verlassen. Irgendwann im Strom der vorüberziehenden Zeit passierte immer wieder das Wunderbare: Einmal in der Woche wurde morgens nicht auf jene forsche, frisch-muntere Weise geweckt, die ich schon früh hassen gelernt hatte, sondern Vater oder Mutter kamen in weichen Bademänteln leise ins Zimmer geschlichen und drückten einem ein warmes Küsschen auf die Stirn. Bald versammelten sich alle Familienmitglieder auf einem Bett, vorzugsweise dem großen meiner Eltern, wo mein Vater vom Flugbohrtauchschiff erzählte, einem von ihm erdachten Wundergefährt, welches sowohl in die Vergangenheit als auch in die Zukunft navigiert werden konnte. Bei seiner Bedienung spielte natürlich jeder von uns Kindern samt unseren Kuscheltieren eine sehr wichtige Rolle. Die gemeinsam bestandenen Abenteuer machten bald Appetit auf das Sonntagsfrühstück, das ganz gemütlich im Pyjama eingenommen wurde. Lenti wäre darüber sicher nicht amüsiert gewesen! Abgesehen vom gemeinsamen Kirchgang gab es kein festes Programm, außer dass Eltern und Kinder alles zusammen machten: Spiele in Haus, Garten oder Wald, Häuserbau aus Kisten, Decken und Schirmen, Wanderungen, ein ausgiebiges Festessen, Vorlesen und Erzählen bei Kerzen- oder Feuerschein: All das gehörte irgendwie zum Sonntag dazu. Aber jeder Sonntag war letztlich ein wenig anders. Oft kamen Gäste, die, je nachdem, als störend oder bereichernd für die Qualität des Sonntags empfunden wurden. Häufig besuchten wir unsere Großmutter, bei der wir fast immer noch andere Vettern und Cousinen antrafen. Nachdem wir gemeinsam einer gewaltigen Kuchentafel den Garaus gemacht hatten, spielten wir anschließend Verstecken in ihrem großen Haus mit seinen vielen geheimnisvollen Winkeln. Was den Sonntag insgesamt ausmachte, war für mich – Freiheit! Und das Gefühl von Wärme und heiterer Gelassenheit, vom ersten bis zum letzten Moment. Auch wenn dies natürlich niemals ausgesprochen wurde, war ich mir sicher: Sonntag war, wenn die ganze Familie feierte, dass Lenti nicht da war.
Was macht für Sie/dich den Sonntag zum Sonntag? habe ich letzthin viele Menschen gefragt, junge, mittlere, ältere und alte, Bekannte und Fremde. »Wenn Sie etwas von den Menschen wissen wollen, fragen Sie sie«, empfiehlt der Persönlichkeitspsychologe George Kelly. Das klingt wie das Ei des Kolumbus: Gespräche statt Statistiken. Also habe ich so gut wie jeden angesprochen, dem ich in den letzten Monaten begegnet bin – manche habe ich gezielt aufgesucht. Interessant war, fast alle Antworten hatten mit Zeit zu tun: Zeit zum Ausschlafen, für die Familie, den Partner, den Freundeskreis. Zeit für ausgedehnte Mahlzeiten, zum Spielen mit den Kindern oder Enkeln. Zeit für Sporttraining, für Verwandtenbesuche, zum Klavierspielen, zum Liebemachen. Zeit für Spaziergänge, Fahrradtouren, Wanderungen. Zeit für einen Kinobesuch, einen Ausflug zum Flohmarkt oder in einen Freizeitpark. Zeit für Ausstellungen oder Konzerte, auch für politische Veranstaltungen. Zeit zum Lesen, einen ausgedehnten Nachmittagsschlaf, Fernsehen, zum Chatten, für PC-Spiele, aber auch, um wieder einmal gründlich aufzuräumen oder aufzuarbeiten, was unter der Woche liegengeblieben ist. Manche beklagten, dass sie sonntags viel zu viel Zeit hätten, der Effekt sei Langeweile. Das signifikante Merkmal des Sonntags – ob positiv oder negativ – heißt also offenbar für die allermeisten Menschen »Zeit«.
Andere Antworten auf die Frage, was den Sonntag zum Sonntag macht, waren: Sonntagsgottesdienst, Frühschoppen, Restaurantbesuch, Sonntagskuchen, Sonntagsbraten und – sehr selten und fast nur bei der älteren Generation anzutreffen: Sonntagskleidung. Da ich größere Teile meiner Schulzeit in England zubrachte, wo bis heute das Tragen von Schuluniformen üblich ist, kann ich diejenigen gut verstehen, die das Tragen von Sonntagskleidung noch favorisieren: Durch das Ganztagsschulsystem bedingt, steckte man die ganze Woche in der ungeliebten Uniform. Sonntags war damals der einzige Tag, an dem man seine »home clothes«, also die eigenen Klamotten, anziehen durfte. Raus aus der Uniformität, rein in die nach außen sichtbare Individualität. So etwas prägt!
Ein überraschend großer Teil der von mir Befragten gab an, am Sonntag öfters zu arbeiten. Manche fanden das schlecht, andere gut, die meisten waren indifferent nach dem Motto: Wat mutt, dat mutt. Wer seinen freien Tag öfters ersatzweise an anderen Wochentagen als dem Sonntag nehmen muss, für den ist die Antwort auf meine Frage klar, was den Sonntag zum Sonntag macht: Dass dann viele Menschen gleichzeitig mit mir freihaben und man dadurch problemlos im Familien- oder Freundeskreis zusammenfinden kann. Genau das ist an anderen Frei-Tagen nicht möglich, da dann meist die anderen arbeiten müssen.
Für Menschen im Alten- oder Pflegeheim macht häufig der ersehnte Besuch ihrer Lieben den Sonntag zum Sonntag. In konfessionellen Einrichtungen wurde die Möglichkeit zum Gottesdienst erwähnt, der sonntags besucht werden kann und auf Wunsch auch ins Zimmer übertragen wird. Erwähnung fand auch, dass es sonntags oft ein besseres Essen und einen etwas ausgefalleneren Kuchen als unter der Woche gibt, was bei einigen gut ankam. Ansonsten sah ich auch viele traurige Gesichter auf meine Frage. Einige der alten Leute wandten sich stumm ab. Ein alter Herr sagte mir ins Gesicht: Es gibt nichts, was den Sonntag zum Sonntag macht. Außer vielleicht die gallige Enttäuschung am Sonntagabend, dass man wieder umsonst gehofft hat, dass etwas den Sonntag zum Sonntag macht. Egal was.
Für einige der Befragten macht die Sonntagszeitung den Sonntag zum Sonntag. Die wurde einst in England erfunden zu einer Zeit, als der Sonntag noch völlig frei war von jeglicher Tätigkeit. Offenbar erfreut sich die besonders dicke Zeitung auch heute noch großer Beliebtheit. Wieder wurde in diesem Zusammenhang der Faktor »Zeit« genannt: Die Sonntagszeitung wird nicht nur als besonders interessant und amüsant gewertet, sondern vor allem hat man auch Zeit, sie ganz und gar durchzuschmökern.
Eine große Anzahl der von mir Befragten fand die Vorstellung von verkaufsoffenen Sonntagen nicht prinzipiell abzulehnen, allerdings mit der Einschränkung, nur solange man nicht selbst hinter dem Verkaufstresen stehen müsste. Gerade junge Berufstätige schätzen die Option des Sonntagseinkaufs, da während der Arbeitswoche oft keine Zeit zum beschaulichen Einkaufsbummel, auch mit Freunden und Familie, bleibt. Dieser gehört aber zum Inbegriff der Muße und des entspannten Freizeitvergnügens.
Auffällig war, dass viele der Befragten ihre Antworten mit »früher« begannen. »Früher« machten andere Dinge den Sonntag zum Sonntag als heute: der sonntägliche Gottesdienst, spezielle Gerichte, die es nur sonntags gab und Sonntagskleidung. Hinzu kam fast immer der Sonntagsspaziergang, der mehr als heute ein Ritual darstellte. Öfters hörte ich auch, dass Hausmusik »früher« eine große Rolle für die Gestaltung des Sonntags gespielt habe. Ebenso verhielt es sich »früher« mit dem Verwandtenbesuch: Er hatte speziell am Sonntag seinen festen Platz. Bei allen, die ihre Antworten mit »früher« einleiteten, fragte ich zurück: »Und wie ist das heute?« Oft hörte ich, heute sei doch alles anders. Nicht schlechter – nein, das wollte kaum jemand so sagen. Aber eben anders. Weniger strukturiert. Schwammiger. Das Ausschlafen sei beispielsweise wichtiger geworden, »früher« habe man das nicht so benötigt. Jetzt aber gehe viel Zeit für Gemeinsamkeit am Sonntag verloren, die man »früher« irgendwie besser genutzt hätte. Gerade, wo es heute doch viel mehr Möglichkeiten und Angebote gebe, die freie Zeit zu füllen, bringe einen dies oft in eine Art Zugzwang: Man müsste dies, man könnte das – und plötzlich fehlt es schon wieder an Zeit. Auf der anderen Seite gebe es heute zuweilen Leerlauf, den man »früher« nie empfunden hätte, schade eigentlich, wo der freie Tag doch so schnell vorbei sei. Wenn ich versuche, die gefühlten Unterschiede zu »früher« auf einen Nenner zu bringen, dann vielleicht so: Heute ist der Sonntag oft hektischer – und gleichzeitig langweiliger.
Einerseits gibt es also sehr hohe Erwartungen an den Sonntag, andererseits fehlt ihm oft etwas, sogar ein Maßstab, an dem diese Erwartungen gemessen werden können. Gibt es etwas, das den Sonntag zum Sonntag machen...