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E-Book

Lochhansi oder Wie man böse Buben macht

Eine Kindheit aus der Innerschweiz

AutorJeannot Bürgi
VerlagLimmat Verlag
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl220 Seiten
ISBN9783038550648
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis26,99 EUR
1939 - Landesausstellung: Unweit des Festgeländes in Zürich wird an einem Spätsommerabend ein Säugling in einer Kartonschachtel aufgefunden. Das Findelkind kommt zur städtischen Fürsorge und wird Jahre später von einem kinderlosen Ehepaar aus der Innerschweiz adoptiert. Der Bub verbringt seine Kindheit auf einem Bauerngut - dem 'Loch' - in Bürglen am Lungernsee. Im Zentrum dieser Kinderwelt steht Ätti, der schwadronierende Grossvater, der das Bätziwasser liebt und die Feste feiert, wie sie fallen. Lebenslustig ist auch der Vater, er arbeitet im Holzbau und ist viel unterwegs. Mutter ist fromm und empfängt den Dorfkaplan bei Schinken und Rauchwurst zu erbaulichen Gesprächen. Dass der Kleine dem Adoptivvater gleicht, sorgt für Gespött, darüber gesprochen wird nicht. Des Rätsels Lösung liegt im Nachlass der Mutter. Unzimperlich und oft hart ist das Leben in der kleinen Gemeinde. Nüchtern, unverblümt und doch mit Wärme erinnert sich Jeannot Bürgi an seine Kindheit in dieser katholisch-barocken Welt der Vierzigerjahre.

Jeannot Bürgi, geboren 1939 in Zürich, wächst in Bürglen / OW auf. Nach der Kunstgewerbeschule Luzern freier Bildhauer in Holland, ab den Achtzigerjahren in der Schweiz, in Frankreich und Griechenland. 1986 mit dem ersten Küsnachter Kulturpreis ausgezeichnet. Er starb 2011 am Walensee.

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Leseprobe
Kindheitserinnerungen

Das ist wie das Rühren im Bodensatz einer klaren Brühe. Wer weiss, was da alles zum Vorschein kommt, was da aufgewirbelt durch Raum und Zeit saust. Alte Verkrustungen, Vernarbungen, Ablagerungen von Jahrzehnten, die den Panzer eines Menschenalters gebildet haben.

Ich war meinen leiblichen Eltern kein Wunschkind. Mit dieser Feststellung und Erkenntnis bin ich sicher nicht allein, kein Sonderfall. Trotzdem, eine Frage beschäftigte mich ein Leben lang: Warum hat mich meine Mutter ausgesetzt, in einer Kartonschachtel beim Müll am Strassenrand entsorgt? Ich dachte, ich sei schon längst darüber hinweg, es mache mir überhaupt nichts aus, darüber zu sprechen, nachzudenken. Jetzt entdecke ich, nachdem ich siebzig Jahre alt geworden bin und ein ganzes, reiches Leben hinter mir habe, dass es mir noch immer etwas ausmacht, dass da noch immer die Frage im Raum steht, dieses «Warum», auf das ich bis zum heutigen Tag keine Antwort gefunden habe.

Meine Erklärung ist einfach und auf der Hand liegend: Ich war ihr Last und Störung, ich passte nicht in ihr Leben, sie hatte sich das so nicht vorgestellt. Ein Gof, das fehlte gerade noch, damals Ende der dreissiger Jahre, mitten in Wirtschaftskrise und Arbeitslosigkeit, mit dem Krieg vor der Tür. Das Leben damals war schon allein schwer genug, ein Kind ein Esser mehr, eine Sorge dazu, ein Hindernis, Verantwortung und Kosten. Sie musste über die Runden kommen, Anschaffen hiess das in ihrem Fall, für sich und wahrscheinlich auch für ihren Zuhälter. Sicher war sie jung, leichtsinnig und oberflächlich, schliesslich war es ihr egal, was mit dem geschah, was sie da in die alte Schachtel stopfte. Abfall eben, den man los sein will.

Wahrscheinlich war sie auf einem Bauernhof aufgewachsen, sie war es gewohnt, mit anzusehen, wie man den Wurf neugeborener Kätzchen auf den Mist warf oder in der Jauchegrube ersäufte, das war doch alltäglich, ganz normal. Was solls, ich mag nicht weiter darüber nachdenken. Ich weiss nicht, wie diese Frau war, weiss nicht, wie sie gelebt hat, weiss nur, dass sie einsam und alt geworden im Altersheim verstorben ist. Ich habe mir nie ein Bild von ihr machen können, habe nie ein Foto von ihr gesehen, ich habe nicht einmal ihr namenloses Grab besucht. Es sei ein Ge­mein­schaftsgrab, sagte mir die Leiterin des Altersheims, sie sei auf Gemeindekosten bestattet worden, die Armenpflege sehe in diesem Falle nur ein Gemeinschaftsgrab vor.

Ich ging nicht hin zum Friedhof, nicht weil ich ihr grollte, was hatte ich der Frau, die mich geboren hat, schon zu grollen, was zu verzeihen, war ich denn Gott? Ich mochte einfach nicht. Lass gut sein, dachte ich und fuhr nach Hause. Das Leben hat es doch gut mit mir gemeint. Habe ich denn nicht alles bekommen was ich mir gewünscht habe, und sogar noch einiges mehr? Ich kann mich wahrlich nicht beklagen. Und wenn ich das nun so aufschreibe, meine ich das auch so.

Komisch ist nur, dass meine ersten Erinnerungen Erinnerungen an Unfälle sind.

Kindheit ist nicht etwas, woran ich mich als Zeit erinnere. Für mich ist Kindheit Ereignis, eine Folge von Geschichten, einige schön, andere weniger. Hier leicht und luftig, dort schwer und dumpf. Für alles suche ich Wörter, die zur Sache passen, meinem Erlebnis möglichst nahe kommen. Zu meiner Kindheit passt das Wort «Muhheim», es sagt alles aus. In ihm finden sich Gerüche, Töne und Formen. Mein Staunen auch, und wenn man genau hinsieht, findet sich darin sogar meine Angst. Eigentlich finde ich es schade, dass ich diese Kindheit nicht mit meinen ungelenken kindlichen Worten umschreiben kann. Doch die kindlichen Worte habe ich schon lange vergessen, und erzählen kann ich nur das, was mir an Erinnerung geblieben ist.

Vor «Muhheim» gab es noch etwas, für das ich aber kein Wort finde. Es sind hier nur Gerüche, die geblieben sind, Figuren, die aus dem Nebel der Geschichte auftauchen, verschwommene Konturen, Geräusche und Sprachfetzen. Der Duft der würzigen Käseküchlein aus der Küche der Mama Früh oder das Plätschern des Wassers im Brunnen auf dem Bullingerplatz. Ein Drängen, Stossen und Schubsen der Menschen in der Bäckeranlage vor dem Volkshaus. Wars ein Streik, eine 1.-Mai-Feier oder nur ein Volksauflauf, die Sammlung zu einem Demonstrationszug? Überall standen Soldaten herum, Worte schwirrten durch die Luft wie verängstigte Vögel.

Dreikäsehoch der ich war, mein weiches, weisses Körpergeschiebe fortbewegend wie ein vierbeiniges Amphibium, doch schnell und neugierig jeden Winkel, jeden Spalt erforschend, gelangte ich in einen Raum voll Sonnenlicht und süssen Duft. «O Jesses Gott, was machst du da?»

«Mas tu da», sagte ich, mit schwerer Zunge die ungewöhnlichen Vokale formend, indem ich meinen Fleischberg mühsam zu voller Grösse aufrichtete. Ich hielt mich fest am Zipfel des weissleinenen Tischtuchs, derweil die bunte Schnabelkanne mit Kaffee, die Tassen, Tellerchen und Krüglein in irrem Tanz ihr Gleichgewicht verloren und klirrend auf den Boden purzelten. «Mas tu da», gurgelte ich triumphierend und plumpste rücklings in den Scherbenhaufen.

«Was machst du da, Herrjehminee», schalt mich die Stimme, und Verzweiflung klang daraus, derweil die Weibsperson, die solches von sich gab, mit schwerem Leib sich dunkel vor die Sonne schob und zeterte, der Kaffee schwarze Flecken auf den Teppich zeichnete und Scherben knirschten, wo sie Schatten warf. Ich suchte erschrocken Zuflucht unter dem Tisch, hier in dämmriger Höhle zwischen den vier Beinen fühlte ich mich sicher und geborgen. Jetzt, hier, später auch und immer wieder, ein ganzes Leben lang.

Ich stand vor einem grossen Fenster, auf der breiten Fensterbank glänzte eine Glaskugel, darin schwamm ein Goldfisch, draussen schien die Sonne. Ich streckte meine Hand aus, konnte aber den Fisch nicht erreichen, die Fensterbank war zu hoch oben. So schob ich einen Stuhl heran, kletterte hinauf und sass nun auf der Fensterbank neben der Kugel mit dem goldenen Fisch, noch immer schien draussen die Sonne, aus dem Gartenrestaurant von der Strasse her hörte ich Stimmen, Lachen, allerlei Geräusche, und ich roch die Düfte von Essen und Menschen.

Wie ich das Gleichgewicht verlor und hinunterfiel, weiss ich nicht mehr. Ich landete im Laub des wilden Weins, mit dem die Gartenlaube überwuchert war, und irgendwo auf etwas Hartem, einem Gestänge oder Ast. Auf einmal stand die Welt kopfüber, alles drehte sich um mich, mir war schlecht, mein Schädel schmerzte, die Brust auch, ich konnte nicht mehr atmen, Leute standen herum, riesig gross, rannten hin und her und lamentierten. Später dann lag ich in einem weissen Bettchen, ich musste mich übergeben, mir war schlecht, weissgekleidete Gestalten bemühten sich um mich. Ein Mann, auch er in Weiss, sass an meinem Bett und hielt meine Hand, strich mir über das Haar und murmelte etwas, was ich nicht verstand.

Sonst kann ich mich an nichts erinnern. Ganz undeutlich noch an einen Tag, viel später schon, es kann im selben Jahr gewesen sein oder im nächsten. Ich befand mich auf einem Rummelplatz, um mich lauter Volk und viel Lärm. Ein junger Mann im dunklen Ledermantel hielt mich an der Hand, führte mich zwischen den Buden entlang, ich bekam etwas Süsses, Klebriges zum Schlecken. Im Gedränge roch es intensiv nach Gewürzen, nach Schweiss und müden Menschen.

Der Mann, eher ein Jüngling noch, hatte schmale, weisse Hände, er trug das Haar gescheitelt, mit viel Brillantine an den Kopf geklebt, es sah aus, als trüge er eine schwarze Kappe. Ein dünnes Oberlippenbärtchen klebte wie ein schwarzer Strich unter seiner Nase. Er war freundlich und sanft zu mir, wies hier- und dorthin, er zeigte mir all die bunten Bilder auf den Wagen und Marktständen, einen Papagei und einen Affen, die in einem Käfig hockten und mir leidtaten, weil sie eingeschlossen waren. Beide sahen sie traurig aus, ich begann zu weinen, weil niemand sie befreien wollte. Ich wurde wütend, stampfte mit den Füssen, riss mich los und rannte weg, kam aber nicht weit, wurde aufgehalten, eingefangen.

Der Mann kaufte mir eine kleine Mundharmonika, er hängte sie mir an einer bunten Schnur um den Hals. Das gefiel mir sehr, sie war silberfarben und klang ganz wundervoll. Dann stiegen wir in ein kleines Auto, solche gab es eine Menge, sie fuhren willkürlich auf dem Platz herum, krachten aufeinander, umkreisten sich. Es sassen meistens junge Leute darin, die lachten, die Mädchen kreischten hysterisch. Eines fuhr direkt auf uns zu, am Steuer ein dicker Mann mit Zigarre, neben sich eine stark geschminkte Weibsperson, die ihn umschlungen hielt. Ihr Wagen krachte frontal und mit voller Wucht auf unser Fahrzeug. Der plötzliche Aufprall erwischte mich unversehens, mein Kopf schnellte nach vorn, ich kollidierte heftig auf Augenhöhe mit dem Rand des Gefährts. Ich fühlte kaum Schmerz, blutete aber heftig aus der Nase, auch der Mund war voll Blut, es schmeckte süsslich, fühlte sich klebrig an, troff auf mein dunkelblaues Mäntelchen, auf die graue Sonntagshose. Mein Begleiter versuchte das Rinnsal zu stillen, er gab mir dazu sein Taschentuch, doch es wollte nicht aufhören. Er führte mich zu einem Brunnen, hiess mich den Kopf in den Nacken halten, still stehen. Ich weiss noch, dass ich nicht weinte, das kam erst nachher, zu Hause, als uns Mama Früh wegen der verschmutzten Kleider schalt.

Wir lebten in einer kleinen Gemeinschaft, ein halbes Dutzend Kinder in einer Gruppe, betreut von einer Pflegmutter.

Eines Abends sass ein Soldat in unserer Küche, ein langer Lulatsch in feldgrüner Uniform. Die Fenster waren bereits verdunkelt, es sollten Flieger über die Stadt ziehen, es hatte Alarm gegeben. Der Soldat streckte seine langen Beine unter den...

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