Von Irland nach Indien
Hochwürden Francis Lister Hawks[1] schien besorgt, als er an einem kalten Wintertag Ende Dezember 1860 Manhattans belebte, morastige Siebzehnte Straße hinunterging. Seine quälenden Gedanken kreisten nicht um die am Horizont aufziehenden dunklen Wolken eines drohenden Bürgerkriegs, sondern um die seltsame Bitte eines Gemeindemitglieds der Calvary Episcopal Church. Diese Frau hatte eine frühe Jugendfreundin, die im Sterben lag, eine Dame, der Hawks zwar nie zuvor begegnet war, deren Ruf jedoch in der zivilisierten Welt praktisch jedem, der eine Zeitung lesen konnte, nur allzu bekannt war: Lola Montez.
Der Pfarrer konnte sich an mehr als nur eine erstaunliche Geschichte über Lola Montez erinnern, die Frau, die nun im Angesicht des Todes seinen geistigen Beistand erbat. Sie sollte unterschiedlichen Meldungen nach eine spanische Adlige, eine irische Schlampe oder gar eine gebürtige New Yorkerin sein, doch alle Berichte stimmten darin überein, daß sie in ihrer Jugend, die noch nicht allzu lange zurücklag, eine überwältigende Schönheit gewesen war, die die Herzen mächtiger und berühmter Männer in ihren Bann schlug, als sie auf den Bühnen der ganzen Welt ihre verführerischen Tänze darbot. Dem Vernehmen nach hatte sie von dem alten König Ludwig, ihrem sie vergötternden Liebhaber, die bayerische Regierung übernommen und wollte das Königreich in einen liberalen Modellstaat verwandeln, als der von Reaktionären gedungene, mörderische Straßenmob sie zur Flucht zwang. Es hieß, hinter ihrer Schönheit stecke ein physischer Mut, der jedem Manne ebenbürtig sei, und die Zigaretten, die sie ständig rauchte, charakterisierten ihre Verachtung konventioneller Weiblichkeit. Sie konnte reiten wie eine Amazone, traf sicher mit der Pistole und hatte mehr als einen Mann, der es gewagt hatte, ihren Charakter anzuzweifeln, ihre Peitsche spüren lassen. Lola habe, so wurde erzählt, den größten Teil der Welt gesehen und fühlte sich in einer Hütte in Indien ebenso zu Hause wie in einem Palast. Je nachdem, welcher Geschichte man Glauben schenken wollte, war Lola Montez eine lebende Furie oder die Verkörperung weiblichen Liebreizes, eine Frau von beeindruckendem Intellekt oder ein gewöhnliches Flittchen, die erstaunlichste Erscheinung ihres Zeitalters oder eine größere Schwindlerin als Barnum. Sorgenfalten durchzogen die Stirn über den buschigen Augenbrauen von Hochwürden Hawks, als er überlegte, ob er bei seiner Mission bei der sterbenden Frau der aufrichtigen Beichte einer wahrhaft reuigen Christin beiwohnen oder nur Zeuge der pathetischen Verzweiflung einer sündigen Hure sein würde, deren einziges Bedauern war, daß der Tod sie an weiteren Fehltritten hinderte.
Der Priester traf sein Gemeindemitglied in der West Seventeenth Street, kurz vor der Fifth Avenue, und gemeinsam gingen sie die wenigen Häuserblöcke hinunter bis zur Hausnummer 194 auf der südlichen Straßenseite der West Seventeeth Street, kurz vor der Eight Avenue. Es war eine bürgerliche Wohngegend mit anständigen Pensionen. Die Frau wies ihm den Weg die Treppe hinauf zu einer kleinen Hinterhauswohnung. Hawks betrat ein einfaches Zimmer und sah im flackernden Lampenschein auf das Gesicht von Lola Montez herab, das einst schön, nun durch Krankheit eingefallen und zerstört, aber immer noch lebhaft war. Die dunkelblauen Augen zeichneten sich unnatürlich groß und ausdrucksvoll in dem blassen, von pechschwarzem Haar umrahmten Gesicht ab.
Der Pfarrer muß sich gefragt haben, wie die zerbrechliche Gestalt, die vor ihm lag, die Bewunderung und das Begehren von Königen und Kaisern erregt haben, den zornigen Mob eingeschüchtert und unbekümmert getanzt haben konnte. Aber Lola hatte sich selbst eingestanden: »Ich habe alles erlebt, was die Welt zu geben hat – alles!«[2] Nun, da sie im Sterben lag, konnte sie auf vierzig Jahre voller Abenteuer zurückblicken, die für vierzig Lebenszeiten ausreichten.
Lola hatte einmal geschrieben, daß »unsere ersten Gefühle immer unsere letzten Erinnerungen bleiben«,[3] und für sie werden sich diese letzten Erinnerungen auf eine exotische Kindheit in Indien bezogen haben. Die sengende Sonne des Subkontinents hatte offensichtlich die ersten drei Lebensjahre, die sie in der grauen, frostigen Atmosphäre Irlands verbracht hatte, in ihrem Gedächtnis verblassen lassen. Sie kam im Sommer 1823 mit ihrem Vater, einem Fähnrich der Britischen Armee, und ihrer Mutter, der illegitimen Tochter einer Stütze der herrschenden protestantischen Klasse Irlands, in Indien an.
Etwas von dem Abenteuerdurst seiner Tochter mußte von dem Fähnrich Edward Gilbert stammen, der seinen sicheren, aber langweiligen Polizeidienst im unzufriedenen irischen Hinterland gegen den Dienst in einem anderen Regiment in Indien eintauschte. Indien war nicht nur viel exotischer als Irland, auch der Sold dort war besser und reichte länger; und die Chancen eines Offiziers auf Beförderung, falls er sich den Krankheiten, dem Klima und den rebellischen Eingeborenen besser als seine Vorgesetzten widersetzen konnte, waren viel größer als zu Hause.
Gilbert war gerade sechsundzwanzig,[4] als er in Kalkutta eintraf, aber er hatte bereits sechs Dienstjahre als Armeeoffizier hinter sich. Lola beschrieb ihn als einen Mann mit einem hübschen, jungenhaften Gesicht, das mit hellblondem Backenbart und einem dünnen Schnurrbart verziert war. Seine genaue Herkunft liegt im dunkeln, aber ganz sicher entstammte er, ob legitim oder illegitim, dem Hochadel oder dem wohlhabenden niederen Adel.
Er war Ende Dezember 1818 mit dem 25. Infanterieregiment in die Grafschaft Cork gekommen,[5] und das Regiment machte sich daran, die Rebellion in der irischen Domäne von König Georg zu unterdrücken. Cork hatte durchaus seine Attraktionen, und eine davon waren die irischen Mädchen. Lola berichtete, ihr Vater habe ein heiteres und gewinnendes Wesen besessen, und möglicherweise war es dieses Wesen ebensosehr wie seine jugendliche Gestalt in der roten Uniformjacke und den engen Hosen, die Eliza Oliver, die vierzehnjährige Gehilfin einer Putzmacherin, anzogen. Der Name Oliver hatte sowohl in der Grafschaft Cork als auch in der angrenzenden Grafschaft Limerick einen guten Klang; die Familie besaß viele Ländereien und kontrollierte die meisten öffentlichen Ämter sowie die parlamentarische Vertretung der Gegend. Eliza war stolz auf ihre Herkunft aus dieser einflußreichen protestantischen Familie, auch wenn sie ein uneheliches Kind war. Ihr Vater, Charles Silver Oliver, ehemaliger hoher Verwaltungsbeamter von Cork und Parlamentsmitglied, hatte mit der Heirat gewartet, bis er über Vierzig war, doch während dieser Bedenkzeit hatte er mit Mary Green, seiner Geliebten, vier Kinder in die Welt gesetzt.
Eliza oder Elizabeth,[6] wie ihr Vater sie nannte, war das jüngste Kind Olivers von Mary Green. Sie wurde 1805 geboren, in demselben Jahr, in dem ihr Vater schließlich eine einheimische Erbin aus guter Familie zur legitimen Ehefrau nahm und sieben eheliche Erben für den Namen Oliver zu zeugen begann. Doch Eliza und ihre Schwester Mary sowie die Brüder John und Thomas trugen alle ebenfalls den Namen ihres Vaters, und er sorgte für ihr Wohlergehen, selbst nach dem Tod ihrer Mutter. Die Jungen gingen bei einem Lebensmittelhändler und die Mädchen bei Mrs. Hall, einer Putzmacherin in Cork, in die Lehre, so daß sie sich selbst anständig durchs Leben bringen konnten. Und als Oliver 1817 schließlich starb, hinterließ er jedem seiner vier »mutmaßlichen« Kinder 500 Pfund, eine beträchtliche Summe in jenen Tagen, die ihnen an ihrem einundzwanzigsten Geburtstag ausgezahlt werden sollte.
Leutnant Gilbert war wohl eher von Eliza Olivers hübschem Gesicht, ihren dunklen Augen und dem rabenschwarzen Haar angetan als von dem, was er möglicherweise über ihren Vater und ihre Erbschaft erfahren hatte.[7] Zwischen dem britischen Offizier und dem irischen Mädchen entwickelte sich eine Romanze, und im Frühjahr 1820 dachten sie an Heirat. Genau um diese Zeit wurde Gilberts Regiment aus Cork abgezogen. Soldaten im Polizeidienst wurden regelmäßig an andere Orte versetzt, um sie davon abzuhalten, mit dem Volk, das sie unterdrücken sollten, zu fraternisieren, und das 25. Infanterieregiment wurde in das Hinterland geschickt, um eine Rebellion weiter nördlich zu unterbinden.[8] Um eine Fraternisierung zwischen Edward und Eliza zu verhindern, war es jedoch schon zu spät, und am 29. April 1820 wurden sie in Cork in der Christ Church getraut, wo der Bürgermeister von Cork und die protestantische Elite der Stadt ihre Kirchenbänke innehatten. Und falls irgend jemand das Aufgebot übersehen haben sollte, wurden in den Zeitungen Inserate aufgegeben, so daß alle von der Heirat von »Edward Gilbert, wohlgeb., 25. Regiment, mit Eliza, der Tochter von Charles Silver Oliver, wohlgeb., aus Castle Oliver, Mitglied des Parlaments« erfahren würden.
Das junge Paar begann ein unstetes, von vielen Umzügen geprägtes Eheleben, da Gilberts Kompanie in den Grafschaften Roscommon und Sligo von einer Stadt zur anderen beordert wurde.[9] Dieses Zigeunerleben muß noch schwieriger geworden sein, nachdem die fünfzehnjährige Braut schnell in andere Umstände kam. Im Hochwinter befanden sich der Fähnrich Gilbert und seine Frau in Grange, einem in Meeresnähe und im Schatten des Ben Bulben Mountains gelegenen Dorf nördlich von Sligo; und dort wurde am 17. Februar 1821 das Kind, das der Welt später als Lola Montez bekannt werden würde, geboren. Seine Eltern gaben ihm den Namen Elizabeth Rosanna Gilbert, wenngleich seine Mutter es stets Eliza nannte. Später würde Lola Limerick als ihren Geburtsort angeben, doch das war nur eine ihrer vielen Lügen.
Vielleicht war es sein...