1 EINLEITUNG
Sony A300, 18 mm, (1/640, 1/400, 1/250, 1/160, 1/100, 1/60, 1/40 s), f/5,6, ISO 100
Warum ich Lost Places fotografiere
Sehr oft werde ich gefragt, warum ich eigentlich Lost Places fotografiere und wie ich dazu gekommen bin. Hierzu hat sicher jeder Fotograf, der sich verlassenen Orten widmet, seine ganz eigene Geschichte. Es lässt sich jedoch nicht leugnen, dass jeder, der einmal damit begonnen hat, von der Schönheit verlassener Orte in den Bann gezogen wird und ständig auf der Suche nach neuen spannenden, atemberaubenden Orten ist.
Bei mir hat die Faszination für alte, morbide Gebäude bereits in der Kindheit begonnen. Meine Eltern haben mich als kleinen Jungen oft auf Burgen im Voralpenland und in den Alpen mitgenommen, und meine Begeisterung für Burgen und alte Gemäuer hat da wohl ihren Ursprung. Als Jugendlicher erkundete ich das »Weingut I«, einen Rüstungsbunker des Nazi-Regimes in der Nähe meines Heimatortes. Die Anlage war als unterirdische Fabrik zum Bau von Messer-schmidt-Flugzeugen geplant, konnte aber vor Kriegsende nicht mehr fertiggestellt werden.
Den Alliierten gelang die Sprengung der Anlage bis auf einen Stahlbetonbogen, der heute noch mitten im Wald steht. Das ganze Gelände lädt geradezu zum Erforschen ein. Überall liegen Bogenreste, unter denen sich Hohlräume bilden, in die man hineinkriechen kann.
Sony A300, 18 mm, (1/1000, 1/640, 1/400, 1/250, 1/160, 1/100, 1/60 s), f/5, ISO 100
Hier machte ich meine ersten Lost Places-Fotos mit meiner ersten Kamera, einer Sony A300, und im »klassischen« HDR-Stil: mit Halos, Unschärfen, Verwacklungen, Überschärfung, überdrehten Farben und voll aufgezogenem Kontrastregler. Aber so hat fast jeder Lost Places-Fotograf mal angefangen. Heute, Anfang 2016 – sieben Jahre später und nach unzähligen Fotoexkursionen zu Lost Places in halb Europa, zwei Buchveröffentlichungen, einigen Ausstellungen und meinem ersten Galerie-Engagement – kann ich sagen, dass ich meinen Stil deutlich weiterentwickelt habe (und auch noch weiterentwickle).
Was macht für mich ein gutes Lost Places-Foto aus?
Was ist ein gutes Lost Places-Foto? Diese Frage lässt sich wohl wie alles, was dem persönlichen Geschmack untergeordnet ist, nicht pauschal beantworten. Für mich ist es sehr wichtig, dass das Bild eine Stimmung erzeugt. Ich versuche, bei meinen Bildern dem Betrachter dasselbe Gefühl zu vermitteln, das ich bei der Aufnahme des Motivs vor Ort hatte. Dazu gehört es, die Lichtstimmung so exakt wie möglich wieder ins Bild zu bringen. Der Betrachter soll zum Nachdenken angeregt werden. Ich biete ihm hierfür das Szenario und den Schauplatz – er macht sich darin seine eigenen Gedanken und spielt sein eigenes Kopfkino ab.
Nikon D800, 18 mm, (1/15, 1/5, 0,6, 2, 6 s), f/7.1, ISO 100
Nikon D800, 24 mm, (1/40, 1/13, 1/4, 0,8, 2,5, 8, 25 s), f/3.5, ISO 200
Es gibt eine Vielzahl von Punkten, die für mich ein gutes Lost Places-Bild ausmachen, ohne dass ich damit gleich einen pauschal anwendbaren Kriterienkatalog aufstellen möchte:
1 Ich vermeide stürzende Linien (außer bei bewusstem kreativen Einsatz, um z.B. extreme Größe zu übermitteln).
Nikon D800, 14 mm, (1/60, 1/50, 1/13, 0,3, 1,3 s), f/8, ISO 100
2 Ich belichte und entwickle meine Bilder so, dass in den hellsten und dunkelsten Stellen des Bildes immer noch ein wenig Zeichnung zu sehen ist. Ich vermeide also das »Ausbrennen« bzw. »Absaufen« von Details (es sei denn, ich setze dies bewusst als Stilmittel ein). Oft kommt dazu eine HDR genannte Technik zum Einsatz, die ich später noch erläutere.
Nikon D800, 14 mm, (1/25, 1/6, 0,6, 2,5, 10 s), f/4, ISO 500
3 Die Lichtstimmung allgemein ist mir sehr wichtig, also achte ich bereits beim Fotografieren darauf. Ich versuche, die Stimmung vor Ort in mich aufzusaugen, damit ich mich später daran erinnern kann. Ich muss diese Stimmung bei der Nachbearbeitung aus dem Gedächtnis heraus zurück ins Bild bringen.
Nikon D800, 18 mm, 30 s, f/3.2, ISO 500
Nikon D800, 18 mm, 13 s, f/3.2, ISO 500
4 Ich fotografiere ein Motiv – siehe die beiden folgenden Bilder – aus der Perspektive, die es am besten zur Geltung bringt.
Nikon D800, 24 mm, (1/80, 1/25, 1/8, 0,4, 1,3, 4 s), f/8, ISO 100
Nikon D800, 19 mm, (1/25, 1/8, 0,4, 1,3, 4 s), f/8, ISO 100
5 Ich vermeide bereits beim Fotografieren einen schiefen Horizont. Er lässt sich in Photoshop zwar zu 100 % ausgleichen, jedoch verliere ich durch den nötigen Beschnitt Teile der Bildränder sowie etwas Qualität.
Nikon D700, 24 mm, 0,6 s, f/8, ISO 1000
Nikon D700, 24 mm, 0,6 s, f/8, ISO 1000
6 Gibt es in der Architektur vor Ort besondere Formen, setze ich sie abstrakt in Szene. Zum Beispiel ergibt der Blick nach oben oft völlig neue Blickwinkel und Eindrücke.
Nikon D800, 14 mm, (1/1250, 1/400, 1/125, 1/40, 1/13 s), f/8, ISO 100
Nikon D800, 14 mm, (1/6, 0,6, 2,5, 10, 40 s), f/8, ISO 100
7 Ich vermeide ungewollte Flares. Flares – auch Lensflares oder Blendenflecken genannt – entstehen, wenn starkes Licht durch gering vergütete oder oft auch nur dreckige Linsen fällt. Sie sollten sie nach Möglichkeit schon bei der Aufnahme vermeiden. Wollen Sie Lensflares bewusst als Stilmittel einsetzen, ist dagegen natürlich nichts einzuwenden.
Nikon D700, 24 mm, 1/320 s, f/13, ISO 200
NIKON D800, 14 mm, 1/4 s, f/8, ISO 100
8 Ich nutze in der Nachbearbeitung nicht zu viel und nicht zu wenig HDR. Was dies genau heißt, erkläre ich Ihnen im nächsten Abschnitt.
Sony A300, 20 mm, 1/320 s, f/8, ISO 100
Nikon D800, 17 mm, 8 s, f/8, ISO 250
Fotografisch anspruchsvolle Bilder statt effektgetränkter Mainstream
HDR ist die Abkürzung für High Dynamic Range. »Dynamik« bedeutet in diesem Zusammenhang die Spanne zwischen dem dunkelsten und dem hellsten Punkt eines Bildes. Unser Auge ist in der Lage, einen hohen Dynamikumfang zu erfassen – viel höher, als dies aktuelle Kamerasensoren können.
HDR bezeichnet also ein Verfahren (bei Aufnahme und Bearbeitung des Fotos), mit dessen Hilfe Fotos erstellt werden können, die einen sehr breiten Dynamikumfang haben, der dem menschlichen Auge nachempfunden ist.
Das folgende Bild zeigt ein Beispiel: Die Lichtsituation vor Ort hatte eine hohe Dynamik – für ein Nicht-HDR-Foto hätte ich mich bei der Belichtung zwischen den Details im Halbdunkel des Esssaals oder den Details der weißen Fenstergardinen entscheiden müssen. Das HDR-Verfahren erlaubt mir, beides zu zeigen, und kommt damit meiner Wahrnehmung der Szenerie vor Ort viel näher. (Künstliches Licht war hier übrigens keine Option – Sie erinnern sich, wie wichtig mir die natürliche Wiedergabe der Lichtstimmung vor Ort ist?)
Nikon D800, 15 mm, (1/125, 1/40, 1/13, 1/4, 0,8 s), f/8, ISO 100 (siehe auch Seite 23)
Mit »HDR« wird aber auch ein bestimmter, meist über Filter oder Vorgaben in Bildbearbeitungsprogrammen zugewiesener Look bezeichnet, der sich so oft in der Lost Places-Fotografie findet, dass er das Genre tief geprägt hat. Dabei ist die Bedeutung von HDR immer noch dieselbe wie oben beschrieben, der Unterschied ist aber: HDR wird hier nur simuliert und verkommt so zum bloßen Effekt.
Das führt sehr oft zu sehr merkwürdigen Ergebnissen, sodass HDR inzwischen ein Synonym für schlecht bearbeitete, bunte Fotos mit unrealistischen Kontrasten geworden ist. Auch wenn dieser falsch verstandene und effekthascherische Einsatz von HDR inzwischen etwas aus der Mode gekommen ist, so ist er doch nach wie vor sehr verbreitet. Sie haben diese Bilder sicher schon oft gesehen, und sie mögen bei Ihnen im ersten Moment sogar einen Wow-Effekt ausgelöst haben.
Sony A300, 10 mm, 1/30 s, f/11, ISO 100
Meine Fotos von Lost Places definieren sich nicht über den HDR-Look, aber ich wende HDR als Technik an – wie oben gesagt, nicht zu viel und nicht zu wenig. Ich fotografiere ja auch, was ebenfalls typisch für das Genre ist, sehr gern weitwinklig, um den Raum als Ganzes einzufangen. Trotzdem haben für mich auch Detailaufnahmen ihren ganz besonderen Reiz. Und aufgrund der geringeren Dynamik im Bild brauche ich hierfür nicht mal HDR.
In diesem Buch geht es also darum, wie Sie besonders gute, stimmungsvolle Bilder von Lost Places machen. Dazu sind teilweise Techniken wie HDR notwendig, aber nicht zwingend. Ihr Ziel sollte nicht sein, HDR als Effekt einzusetzen (also einen Look zu kopieren), sondern Ihr Motiv bestmöglich wiederzugeben. Um dieses Ergebnis zu erreichen, werden Sie immer wieder das HDR-Verfahren nutzen.
Doch bevor ich hierzu weiter ins Detail gehe, erkläre ich Ihnen, was es mit dieser High-Dynamic-Range-Technologie auf sich hat, da Sie vielleicht noch nie damit in Berührung gekommen sind.
Nikon D800, 70 mm, 0,6 s, f/2.8, ISO 100
Warum sich HDR für Lost Places-Fotos so gut eignet
Die heutigen Bildsensoren digitaler Kameras können nicht mit dem Dynamikumfang des menschlichen Auges mithalten. Das macht es unmöglich, ein Motiv mit sehr großem Helligkeitsumfang als natürlich wirkendes Foto wiederzugeben. (Der Einfachheit halber klammere ich den Dynamikumfang...