Kindheit und Jugend in Russland
Am 12. Februar 1861 wird Louise von Salomé in St. Petersburg geboren. In einer Zeit voller Gegensätze wächst sie in einer Familie auf, die von dieser Zeitlage nicht beunruhigt zu sein scheint. Inmitten der heftigen Kontroversen zwischen slawophilen Nationalisten und Bewunderern des Westens, zwischen Konservativen und Liberalen, Gemäßigten und Fanatikern sowie zwischen Jung und Alt gelingt es dieser Familie offenbar, eine vor Unruhe geschützte Feudalwelt zu erhalten. Gustav von Salomé (1804–79) steht als General im Dienst des Zaren. Mit 25 Jahren war er bereits wegen besonderer Auszeichnung im polnischen Aufstand zum Oberst ernannt worden und hatte vom Zaren Nikolaus I. einen goldenen Ehrensäbel erhalten. Seit Generationen lebte die deutschstämmige Familie im Baltikum, ursprünglich von Hugenotten in Avignon abstammend, die im 16. Jahrhundert aus Frankreich vertrieben wurden. 1810 zog die Familie nach St. Petersburg, der Hauptstadt des Zarenreichs.
Zar Peters Orientierung an Wissenschaften und Technologien des Westens hatte dazu geführt, dass Holländer, Engländer, Franzosen, Schweden und Deutsche bei Hofe besonderes Ansehen genossen. In Adelskreisen sprach man Französisch, und in den Straßen der Stadt war jede Sprache des Westens zu hören. Schwer zu ermitteln, welches unsere allererste Sprache gewesen: das Russische, damals überwiegend nur im Volk gebräuchlich, wäre ohnehin gleich dem Deutschen und Französischen gewichen. Vorherrschend ward in unserem Falle die deutsche Sprache; sie blieb das Bindeglied zwischen uns und meiner Mutter Heimat. Vom Russentum unterschieden sich die Einwanderer besonders durch ihre gemeinsame Religion, die als Ausdruck ihrer Identität bedeutsam war; die evangelischen Kirchen, zu denen die Mehrzahl gehörte, und die ihnen angegliederten Schulen bezeichnen so – trotz der ungeheuren Zerstreuung der Gemeinden über die riesig ausgedehnte Stadt – gewissermaßen Mittelpunkte einer Stadt für sich. Gustav von Salomé hatte vom Zaren die Erlaubnis für die Gründung einer deutsch-reformierten Kirche in St. Petersburg eingeholt. Gesellschaftlich bewegten sich die Salomés zwar weitgehend in Einwandererkreisen, fühlten sich aber nicht nur in russischem ‹Dienst›, sondern als Russen. Sie haben ein Landhaus in Peterhof, nicht weit entfernt von der Sommerresidenz des Zaren.
1844 hatte der General die neunzehn Jahre jüngere Waise Louise Wilm (1823–1913), Tochter eines wohlhabenden Zuckerfabrikanten norddeutscher und dänischer Abstammung, geheiratet. Sie leben in der großzügig ausgestatteten Dienstwohnung in der Morskája in der Abteilung des Generalitätsgebäudes an der Moika gegenüber dem Winterpalais. Fünf Söhne, zwei früh verstorben, waren bereits aus der Ehe hervorgegangen. Mit der Geburt eines Mädchens, zu der der Zar selbst ein Glückwunschschreiben schickte, ergibt sich für die Familie von Salomé eine überraschende Ergänzung. Vom 57 Jahre alten Vater wird es mit Begeisterung, von den Brüdern – Alexandre (zwölf Jahre alt), Robert (neun Jahre alt) und Eugene (drei Jahre alt) – mit überlegenem Staunen oder auch mit Eifersucht, von der Mutter mit gemischten Gefühlen angenommen. Die Kinderschar kann nun nicht mehr als gleichförmige Einheit behandelt werden. Ein Töchterchen muss anders erzogen werden, zumal in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Das bereichert das Leben der Mutter zwar, aber kompliziert es auch.
Zur Ernährung wird das Kind zunächst einer russischen Amme übergeben. Nur ich hatte eine Amme. Meine Amme, eine sanfte, schöne Person (die später, nachdem sie eine Fußpilgerung nach Jerusalem getan, sogar zur kirchlichen Kleinen Heiligsprechung gelangte – worüber meine Brüder wieherten, was mich aber doch stolz auf meine Amme machte), hing sehr an mir. Russische Njankis stehen ohnehin im Ruf grenzenloser Mütterlichkeit (weniger freilich ebensolcher Erziehungskunst), worin sie keine leibliche Mutter übertreffen könnte. Bei ihr erfährt Louise körperliche Nähe und Geborgenheit, nicht so sehr bei der leiblichen Mutter – auch später nicht. Da ist es der Vater, an den sich Louise schmiegen kann. In der zärtlichen Bindung an den Vater eröffnen sich Erlebensqualitäten, die den kindlichen Versuch, ein Bruder unter Brüdern zu werden, übersteigen. Im Verhältnis zum Vater kann sich Louise als kleines Mädchen geben, das Schutz, Zuwendung und Großzügigkeit genießt. Der recht gestrenge General wird durch den Charme des kleinen Mädchens zu einer Haltung des Gewährenlassens verführt. Ihm erlaubt und verzeiht er mehr als seinen Söhnen. Die erwachsene Lou erinnert sich gern jener Zärtlichkeit, die Mund und Augen meines Vaters für mich gehabt, zugleich geeint unbezweifelbar er Machtfülle. In der Erzählung Die Stunde ohne Gott erfahren wir etwas von den heimlichen Zärtlichkeiten, die vor der Mutter verborgen wurden. Vor der strengeren Mutter nimmt der Vater das Kind in Schutz. Im Umgang mit der Mutter erprobt Louise Zuneigung und Abgrenzung zugleich. Im Ganzen gesehen wird Ljola, so lautet ihr russischer Kosename, zum Seelchen ihrer Familie.
In diesen vielfältigen Beziehungen erfährt sich das Kind selbst als vielfältig und wandelbar. Je nachdem, mit wem es gerade zu tun hat, entfaltet es andere Seiten. Solange es keine feste Realität mit Grenzen, Regeln und Verbindlichkeiten gibt, existiert auch noch keine umgrenzte Einheit mit festen Zügen und dem Namen Louise, die ein Mädchen ist. Ein Grundgefühl, alles sein und werden zu können, bildet sich in ihren frühesten Lebensjahren heraus. Als sich Louises Spielraum erweitert, unterstützt die Vielgestaltigkeit des Hauswesens dieses Gefühl. Neben den russischen Dienstboten gab es Tataren als Kutscher und Diener bevorzugt wegen ihrer Alkoholabstinenz, und Esten; es mischte sich Evangelisch, Griechisch-Katholisch und Mohammedanisch, Gebet nach Osten und Gebet nach Westen, alter und neuer (Kalender-)«Styl» hinsichtlich Fasten und Gehaltsausgabe. Noch bunter ward dies dadurch, daß unser Landhaus in Peterhof von schwäbischen Kolonisten verwaltet wurde, die in Tracht wie Sprache sich noch genau an ihr Vorbild in der langverlassenen Schwabenheimat hielten.
Die notwendige Erfahrung, eine einzelne bestimmte Person zu sein, die sich in bestimmte Grenzen zu fügen hat, versucht das Kind gewissermaßen mit einem Trick zu vermeiden: Es ist immer mit Gott zusammen. Unter dem Namen Gott schafft es sich eine unbefragt zur Verfügung stehende Ergänzung. Auf diese Weise erlebt sich das Kind als Teil einer Totalität, die gewährleistet ist durch die enge Verbindung zu einem, der um alles weiß und alles kann. Der Gott dieses Kindes hat Züge eines idealisierten Vaters. Er erwies sich als mein ganz alleiniger Spezialgott dadurch, daß er ein Gott der Opposition war – eine Partei bildend mit dem Kinde, gegenüber allen Erwachsenen mit ihren fremdartigen Begriffen und Interessen und ihrer Leidenschaft für Pädagogik. Die kindischen Korrekturen unter göttlicher Legitimation hinderten, Bruch oder Zwiespalt in mir selber kennenzulernen. Nicht nur wurde das später von Bedeutung für mich, insofern ich mit meinem ganzen Denken und Wollen in starken Gegensatz zu meiner Umwelt geriet und dieses seine Wesensselbstverständlichkeit leicht dabei hätte einbüßen können, sondern überhaupt wurde von vornherein damit der gefährlichsten Gewalt des «Verbotenen» und «Gebotenen» die Spitze abgebrochen und damit die Tendenz zum Verdrängen auf gewissen Gebieten abgestumpft.
Um so bestürzter erlebt das Kind eines Tages, dass dieser Macht und Sicherheit gewährende Vertraute, Gott, nicht verfügbar ist. Bedrängt durch die scherzhafte Erzählung eines Dienstboten über die Auflösung zweier Menschen (aus Schnee), wendet es sich erstmals um eine Antwort an Gott, die es ihm nicht, wie bisher, selbst in den Mund legen kann. Zum Entsetzen des Kindes bleibt Gottes Antwort aus. Wer nicht antwortet, das hat das Kind längst herausgefunden, der kann ja wohl nicht anwesend sein. Und wenn Gott im wirklich wichtigen Augenblick nicht anwesend ist, dann existiert er womöglich gar nicht. Das Kind Louise muss zum ersten Mal einen unbegreiflichen Sachverhalt selbst klären. Da ist etwas, das nicht einfach umerzählt werden kann, etwas, das standhält, eine offenbleibende Frage. Lou hat dieses Erlebnis später als Ur-Schock bezeichnet, den jeder Mensch beim bewussten Erwachen zum Leben erfahre. Diese Erfahrung belebte sich wieder, wenn sie vor einem Spiegel stand, wo sie ebenfalls spürte, dass sie ein einzelnes, bestimmtes, von allem anderen unterschiedenes Wesen war. Wenn ich da hineinzuschauen hatte, dann verdutzte mich gewissermaßen, so deutlich zu erschauen, daß ich nur das war, was ich da sah: so abgegrenzt, eingeklaftert: so gezwungen, beim Übrigen, sogar Nächstliegenden einfach aufzuhören.
Im Umgang mit ihrer Mutter, mit der französischen Gouvernante und mit ihren Brüdern kommt es in dieser Zeit, die noch vor dem Schuleintritt liegt, zu Spannungen. Sie beanspruchen, Louises vielfältige Möglichkeiten einzuschränken. Die Forderung nach mädchenhafterem Verhalten erlebt Louise als unangemessene Reduktion auf eine bestimmte Rolle. Natürlich war sie bisher stolz, wenn Vater sie als kleine Frau würdigte, sodass sie sich sehr anstrengte, auf Zehenspitzen eingehängt mit ihm spazieren zu können. Aber im Spiel mit den Brüdern übernahm sie genauso...