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E-Book

Kemal Atatürk

AutorBernd Rill
VerlagRowohlt Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl170 Seiten
ISBN9783644403635
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Mustafa Kemal (1881-1938), der 1934 den Beinamen «Atatürk» (Vater der Türken) erhielt, war der Gründer des modernen türkischen Staates. Er zwang den Sultan zur Abdankung und vollzog als erster Präsident der von ihm ausgerufenen Republik die Trennung von Kirche und Staat. Sein Erbe prägt das Leben der Türkei noch heute, bis zum umstrittenen Präsidenten Recep Erdogan, der manche von Atatürks umfassenden Reformen wieder rückgängig machte. Das Bildmaterial der Printausgabe ist in diesem E-Book nicht enthalten.

Bernd Rill, Jahrgang 1948, Jurist und Historiker, hat viele Buchveröffentlichungen vorgelegt, darunter: 'Deutsche und Polen, die schwierige Nachbarschaft', 'Die Inquisition und ihre Ketzer', beide im Idea-Verlag, Puchheim; 'Tilly - Feldherr für Kaiser und Reich', Universitas-Verlag, München, 'Chomeini und die Islamische Republik Iran', Köster-Verlag, Berlin; 'Geschichte des Osmanischen Reiches' (zusammen mit Ferenc Majoros), Pustet-Verlag, Regensburg; Biographien der Kaiser Friedrich III. (von Habsburg), Matthias, Karl VI., alle Styria-Verlag, Wien; 'Böhmen und Mähren - Geschichte im Herzen Europas', 'Der Bodensee - Geschichte einer trinationalen Region', beide im Casimir-Katz-Verlag, Gernsbach; 'Von Vergil bis Berlusconi - 15 ausgewählte Kapitel zur Geschichte und Kultur Italiens', Verlag Ars Una, München; zuletzt 'Was Luther angerichtet hat - Die Reformation und ihre Folgen', Verlag Butzon & Bercker, Kevelaer. Zwei Bände mit Aphorismen: 'Neues aus der Tonne des Diogenes', Idea-Verlag, Puchheim, und 'Aktuelles aus der Tonne des Diogenes', Forum-Verlag Dr. Wolfgang Otto, Regensburg. Zahlreiche Artikel in der Zeitschrift 'G - Geschichte' (ehemals 'G - Geschichte mit Pfiff'),, Bayard Media GmbH & Co. KG, Augsburg. Umfangreiche Herausgeberschaft von Sammelbänden mit rechtspolitischer, aktuell außenpolitischer und historisch grundierter Thematik für die Hanns-Seidel-Stiftung, München. Er ist der Autor vieler Kurzgeschichten.

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Leseprobe

Mustafa Kemals Jugend


Im Laufe des 13. Jahrhunderts waren Turk-Stämme vom Osten her in Kleinasien eingewandert und hatten zusammen mit anderen Turk-Stämmen dieser Halbinsel, die dort schon seit Ende des 11. Jahrhunderts eingedrungen waren, das Volk der nachmaligen «Türken» zu bilden begonnen. Rund um das Marmara-Meer konsolidierte sich ab etwa 1300 der Herrschaftsbereich der «Osmanen», so benannt nach ihrer herrschenden Dynastie, dem Haus Osman. Ihrer kriegerischen Tüchtigkeit gelang, was Arabern, Awaren, Slawen, Persern, Warägern, Normannen und Kreuzfahrern vor ihnen nicht gelungen war: Sie beerbten das byzantinische Reich, und das auf Dauer. 1453 eroberte ihr Sultan Mehmed II. Konstantinopel und pflanzte den Halbmond des Islam auf die Kirche der «Heiligen Weisheit», dieses Wunderwerk byzantinischer Baukunst.

Die osmanische Gesellschaft war auf beständigen Krieg und auf dauernde Eroberung hin organisiert; das gesamte Mittelmeer in der Ausdehnung, wie es den Ost-Römern gehorcht hatte, fiel bis ins 16. Jahrhundert unter die Herrschaft der Sultane. Erst vor Wien 1529 kam die Angriffswelle, die bei den Europäern Panik auslöste, zum Stehen: Der Balkan bis in die oberungarische Tiefebene war osmanisch geworden. Ferner konnte Mesopotamien den Persern entrissen werden, die nordafrikanische Küste leistete bis zum marokkanischen Grenzfluss Muluja Tribut, Sultan Selim «der Gestrenge» (1512–20) ließ sich vom letzten der Kalifen in Kairo dessen Amt übertragen: das des «Stellvertreters» (arab. al chalifa = der Stellvertreter) des Propheten Mohammed.

Der Kalif war in geistlichen Angelegenheiten das Oberhaupt aller Moslems und trug den Titel «Herr aller Gläubigen» (arab. amir al muminin). Der Herr des mächtigsten Reiches der islamischen Welt erhob damit den Anspruch auch auf die religiöse Führerschaft, nachdem er mit Annahme des Titels «Sultan» (arab. sultan = Herrschaft) seit etwa 1400 schon den im Islam höchsten verfügbaren weltlichen Rang erklommen hatte.

Die Feinde, die den Machtverfall des osmanischen Reiches einleiteten, kamen nicht aus der islamischen Welt, sondern von außen: nach dem zweiten Zurückweichen vor Wien (1683) Österreicher und Venezianer, bald darauf auch das zaristische Russland. Kaufleute der wichtigsten christlichen Staaten fanden die Möglichkeit, sich im Reich einzunisten, sich Handelsprivilegien zuerkennen zu lassen und mit ihrer billigeren und von Zollschranken kaum behinderten Produktion das einheimische Gewerbe schwer zu schädigen. Das Steueraufkommen des Reiches sank, die Armee wurde von den Europäern fast regelmäßig geschlagen.

Die Lenker des Osmanischen Reiches und vor allem die meist degenerierten Sultane standen der Entwicklung hilflos gegenüber. Süleyman der Prächtige (1520–66), die Türken nannten ihn den «Gesetzgeber», hatte den Verfall eingeleitet, als er seinem Großwesir alle Regierungsaufgaben übertragen hatte, um selber die Freuden eines luxuriösen Sultanslebens unbefangener genießen zu können. Damit verloren die Untertanen die gewisse heilige Ehrfurcht vor ihrer Regierungsspitze, denn nicht mehr der Herr aller Gläubigen, der «Schatten Allahs auf Erden» selbst trat ihnen entgegen, sondern irgendein Beamter. Die Günstlingsherrschaft begann in Abwesenheit eines starken Herrschers dementsprechend zu wuchern, mit allen Konsequenzen für Korruption und nachlässige Führung der Verwaltungsgeschäfte. Der ganze riesige Staat von der marokkanischen Grenze bis zum Persischen Golf, vom Nil bis zum Kaukasus wurde zum Selbstbedienungsladen für eine habgierige Oberschicht und die Palastkamarilla. Die bekam sogar die Auswahl der Sultane – Kalifen aus dem Hause Osman – in die Hand: Sie wurden nicht nach Fähigkeit, sondern nach ihrer Willfährigkeit auf den Thron gesetzt und dementsprechend nicht in der Verwaltungspraxis und auf dem Schlachtfeld erprobt und erzogen, sondern im Dämmer des Serails möglichst unwissend gehalten. Das Reich hatte keinen Kopf mehr, und die Glieder taten, was sie wollten.

Manchmal griffen die Sultane durch und versuchten sich mit Hinrichtungen und Machtworten die alte Geltung zurückzuholen, oder noch besser und der Gemeinheit entsprechend, die in der Serail-Atmosphäre so gut gedieh, sie spielten die einzelnen Machtträger, Provinzgouverneure und Armeekommandanten gegeneinander aus. Denn auch die Armee, allen voran das Elitekorps der Janitscharen, war auf den persönlichen Vorteil bei der Vergabe der Pfründen des Reiches mehr aus als auf kriegerische Tüchtigkeit, Organisation, Nachschub und Bewaffnung verkamen, die Elitetruppe entwickelte sich zum militärischen Krebsübel.

Schon im 18. Jahrhundert erwogen die europäischen Kabinette die Möglichkeit, den Körper des riesigen Reiches unter sich aufzuteilen. Nur die gegenseitige Eifersucht, zum Beispiel zwischen Österreich und Russland, verhinderte einen Zusammenbruch der Osmanenherrschaft, der schon damals möglich gewesen wäre. Man lernte in Istanbul – dies der türkische Name des alten Konstantinopel –, die Europäer gegeneinander auszuspielen, um die eigene Haut zu retten: Eigentlich war das eine Regierungsmaxime, die Schwäche verriet, sofern man nämlich keine andere Maxime hatte, um das Reich zusammenzuhalten.

Erst zögernd entwickelte sich ein Gesandtschaftswesen; von vielen wichtigen Entwicklungen Europas in Technologie und Militär hatte der Sultanshof schlicht keine Ahnung. Das war die verderbliche Folge der Verachtung der Christenheit durch die islamischen Staatsmänner, des hartnäckigen Glaubens an die moralische und soziale Überlegenheit der islamischen öffentlichen Ordnung.

Die osmanischen Sultane hatten das östliche Mittelmeer erobert, nicht weil sie von dem Feuer beseelt waren, den islamischen Glauben zu verbreiten, sondern weil ihre politisch-militärische Organisation die beste war unter allen muslimischen und christlichen Staaten, die sie überrannt hatten. Nun waren die Nachfolger der großen Eroberer-Sultane gefesselt in den Regeln des Koran und der aus ihm abgeleiteten Rechtsordnung, des «scheriat» (von arab. al scheri = der Gesetzgeber, d.h. Allah), die keine größere Änderung zuließ. Denn das islamische Recht hat auch in den Vorschriften für den Alltag religiösen und damit grundsätzlich unabänderlichen Charakter. Schon im Laufe des 18. Jahrhunderts erkannten einige unter den Osmanen, dass man aus der «heiligen Erstarrung» (Jacob Burckhardt) dieses Systems heraustreten müsste. Die grüne Fahne des Propheten hatte sozusagen ausgedient. Das Reich hatte seine umfangreichen Eroberungen in Europa als erster aller nichtchristlichen Staaten der Welt damit bezahlen müssen, dass es der erwachenden europäischen Dynamik des beginnenden Industriezeitalters schonungslos ausgesetzt war, angesichts dieser tödlichen Bedrohung sein Selbstvertrauen in den Grundfesten wanken und seine Raison d’Être, seine Reichsideologie verblassen sah.

Doch diese exponierte Lage Europa gegenüber bot auch die Möglichkeiten der Rettung: Übernahme europäischer Technologie, militärischen Wissens und administrativer Effizienz. Wir müssen ergänzen: auch den Anschluss an die europäische geistige Entwicklung, sofern sie die politische Ideologie betraf. Es lag in der Natur der Dinge, dass man zunächst glaubte, man könne die Technologie Europas kopieren, und das würde genügen, das Reich zu retten. Auf den Import der Ideen der Demokratie, des Nationalismus und Liberalismus glaubten die Sultane verzichten zu können, denn diese Ideen wären ja auch Sprengsätze gewesen gegen die absolute Machtvollkommenheit des Sultan-Kalifen und gegen den Zusammenhalt des Reiches, das aus osmanischer Verwaltungspraxis ebenso wie aus der übernationalen Idee des Kalifats heraus seine einzelnen Nationen unter einem Dach zusammenband. Doch diese Sprengsätze zündeten erst um die Wende zum 20. Jahrhundert, und man konnte den Reformern, die im Reich auftraten, allen voran dem Sultan Selim III. (1789–1807), einen derartigen schon geschichtsdenkerisch zu nennenden Weitblick noch nicht zumuten.

Zuerst sollte, ganz handfest, die Armee und ihr Personal auf westlichen Standard gebracht werden. Militärschulen wurden gegründet, europäische Instruktoren ins Land geholt, deren bekanntester der junge Helmuth von Moltke war – während etwas früher ein junger korsischer Leutnant namens Napoleone Buonaparte in noch unbefriedigter Abenteuerlust darauf gebrannt hatte, die osmanische Artillerie zu reorganisieren. Selbstverständlich argwöhnten die Janitscharen im Heraufkommen eines westlich ausgebildeten Offizierskorps eine Konkurrenz für ihre privilegierte Stellung; Sultan Mahmud II. (1808–39) befreite sich auf brutalste Art von diesen egoistischen Prätorianern, indem er sie zu Zehntausenden in Istanbul abschlachten ließ.

Mahmuds II. Reformwillen dokumentierte sich ferner in der Heranziehung eines modernen Beamtenstandes, der an europäisch orientierten Schulen ausgebildet wurde, die nicht der Geistlichkeit unterstanden. Die Laizisierung des Staates bahnte sich an. Die Nachfolger Mahmuds II. gingen weiter auf dem Weg der Reformen. Sie zentralisierten die Verwaltung in Istanbul und bauten zu diesem Zweck einen riesigen Behördenapparat auf. Damit war das alte osmanische System der Selbstverwaltung der lokalen Gruppen aufgehoben, die nach ihrer Religionszugehörigkeit jeweils in einem «millet» (von türk, millet = Nation, Volk – bis ins 19. Jahrhundert als religiöse Einheit gemeint, nicht als nationale Einheit im modernen Sinne) organisiert gewesen waren. Das Recht des «scheriat» wurde durch Gesetzbücher nach europäischem Vorbild modifiziert – ein...

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