Einleitung
Rom und die Reformation
Die Kontrahenten haben sich nie gesehen. Als Martin Luther im Auftrag seines Ordens, der Augustiner-Eremiten, Anfang 1511 in Rom eintraf, war der Papst nicht in seiner Hauptstadt. Julius II. kommandierte eigene Truppen im Kampf gegen aufständische Stadtherren des Kirchenstaats und verfolgte zugleich seine Pläne zur Vertreibung der Franzosen aus Italien weiter. Jahrzehnte später sollte ihm der Reformator Luther dieses blutige Metier in seinen Tischreden vorhalten: Dieser Papst feierte Ostern mit einem Schlachtengemetzel bei Ravenna, das Tausende von Christen das Leben kostete. So beging der römische Antichrist die Auferstehung des Herrn!
Zugleich kommt hinter dieser Polemik eine tiefe persönliche Enttäuschung zum Vorschein: Luther war zwar in Rom und konnte aus eigener Erfahrung berichten, wie gräulich es in diesem neuen Babylon am Tiber zuging, aber von Angesicht zu Angesicht hatte er den Papst, den perfiden Nachäffer Christi, leider nicht in Augenschein nehmen können. Noch Jahrzehnte nach seiner Romreise war Luthers Auseinandersetzung mit Rom von dieser Abwesenheit gezeichnet. Die hasserfüllten Monologe, die er in der häuslichen Tafelrunde zu Wittenberg über den Papst hielt, verlangten nach einer Gegenrede, um sich weiter entfalten und steigern zu können. Doch die römische Seite war nicht vertreten und fand im Hause des Reformators natürlich auch keinen Verteidiger. So wurden Luthers Unterhaltungen mit den Seinen über weite Strecken zu verhinderten Zwiegesprächen mit dem altbösen Feind: dem «Bapst» zu Rom, ob er nun Leo X., Clemens VII. oder Paul III. hieß.
Namen und Personen – so Luther in diesen immergleichen Tiraden – tun ohnehin nichts zur Sache. Während sich Johann Hus, dieser heilige Mann aus Prag, mit dem die Morgenröte des Evangeliums vor mehr als hundert Jahren anhob, in seiner Kritik auf das Leben der Päpste eingeschossen hatte, konzentrierten sich die Wittenberger auf die Lehre und meinten, damit den göttlichen Auftrag zu vollenden, dem Antichristen die Maske von der Fratze zu reißen und seinem Wüten hienieden entgegenzutreten. Diese Unterscheidung zwischen Leben und Lehre der Päpste hielt Luther jedoch nicht ein – im Gegenteil: Als Tischredner wie als Pamphletschreiber wurde er nicht müde, die schauerlichsten Geschichten vom Leben der zeitgenössischen Päpste zu erzählen: von Alexander VI., der Inzest mit seiner Tochter Lucrezia getrieben hatte, von Leo X., der auf dem V. Laterankonzil den Kardinälen fünf Lustknaben auf einmal zugestanden hatte – und so weiter. Der Papstlegendenbildung waren in der Wittenberger Tafelrunde keine Grenzen gezogen. Daraus entwickelte sich eine negative Vorstellungswelt, die sich in der protestantischen Kirchengeschichtsschreibung als prägend erwies, auch wenn die meisten Historiker im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts nach und nach von allzu krassen Erfindungen und wüsten Beschimpfungen abrückten.
Die Gegenseite blieb dem Reformator und seinem Anhang in dieser Hinsicht nichts schuldig. Für Rom und das Papsttum war Luther der hässliche Deutsche schlechthin: trunksüchtig, jähzornig, ungebildet, von Hochmut gebläht, ein Liebhaber der Fäkalsprache, der sich durch seine irrsinnigen Angriffe gegen die segensreiche Führung der Kirche durch die Päpste bei den Mächtigen Deutschlands lieb Kind machen und so Ruhm und Reichtum ergattern wollte. Auch diese Feindbilder haben sich, bei aller oberflächlichen Abschwächung im Zeichen von «Ökumene», bis heute als sehr lebenskräftig erwiesen.
Da keine Seite von der Überzeugung abrückte, die Gegenseite sei des Teufels und müsse vernichtet werden, lief der Schlagabtausch zwischen Wittenberg und Rom beziehungsweise Rom und Wittenberg ab dem 31. Oktober 1517 wie ein Film ab, bei dem die Rollen unveränderlich festgelegt waren. Bezeichnenderweise rühmte sich Luthers erster literarischer Gegner, der aus Piemont gebürtige Dominikaner Silvestro Mazzolini, der nach seinem Geburtsort «Prierias» genannt wurde, seine erste Antwort gegen den deutschen Augustiner-Eremiten in nur drei Tagen verfasst zu haben. Dabei fiel seine Lektüre von Luthers 95 Thesen so oberflächlich aus, dass er diese in seinem Widerlegungsversuch fälschlich «Schlussfolgerungen» (conclusiones) nannte, was wiederum darauf schließen lässt, dass er die darin vorgebrachten Argumente wie den Text als ganzen kaum einer ernsthaften Diskussion für würdig hielt. Auch Luther war sehr früh davon überzeugt, dass die Mehrzahl der gegnerischen Schriften keiner Widerlegung mehr wert war.
Luther, der Barbar: Die Karikatur von Hans Weidlitz aus dem späten 16. Jahrhundert vereinigt zahlreiche Klischees der katholischen Polemik: Luther, der Säufer mit dem Bierfass und einem Blähbauch wie ein Weinsack, Luther, der Wüstling mit der von ihm verführten Ex-Nonne und seinen illegitimen Sprösslingen, Luther, der Ketzer mit den Köpfen seiner Mitstreiter und Nachfolger, darunter Zwingli und Calvin
So ist vom Beginn der Auseinandersetzung im Herbst 1517 an auf beiden Seiten nicht der geringste Versuch zu erkennen, eine Verständigung herbeizuführen oder gar Kompromisse einzugehen. Mehr noch: Nicht einmal über die Grundlagen, auf denen diese Debatte zu führen wäre, kann man sich verständigen; was für Rom Beweiskraft hat, ist für Wittenberg null und nichtig – und umgekehrt. So wird die Auseinandersetzung von Anfang nicht zum Gedankenaustausch, sondern zum reinen Schlagabtausch. Warum?
Wer sich in gängigen Luther-Biographien und Standarddarstellungen der Reformation informieren möchte, stößt stets auf dieselben Antworten: Rom verschließt sich, versteht nicht, blockiert, diktiert, taktiert, droht und verliert.
In der protestantisch dominierten Reformationsforschung reduziert sich die römische Gegenseite auf einen hochgradig schematisierten Hintergrund: viel humanistische Gelehrsamkeit, viel große Kunst (Stichwort: Sixtinische Kapelle), viel höfische Lebensart, verbunden mit krasser Verweltlichung, lockerer Umgang mit moralischen Regeln, eine durch und durch politisierte Auffassung vom Papstamt und dazu eine christusferne, zur merkantilen Aufrechnung guter Werke abgesunkene Theologie, die sich in scholastischen Spitzfindigkeiten erschöpft. Das sind die Stereotypen des vorherrschenden Rom-Bildes, in dem die ungleich heftigere Kritik eines Ulrich von Hutten und Luthers selbst am Papsttum als Hort aller Laster in abgemilderter Form bis heute weiterlebt.
In dieser Perspektive schrumpft die theologische Auseinandersetzung römischer Autoren mit Luthers Ideen zu einem reflexartigen Nachschreiben längst ausgehöhlter Leerformeln und Worthülsen. Den elementaren «Durchbruch» zur frohen Botschaft von der Sündenvergebung durch Christus und der Gerechtsprechung des Menschen durch den Glauben allein, wie er Luther mit seiner Lehre gelang, hat die römische Seite – so die mehr oder weniger explizite Schlussfolgerung – im Hochgefühl ihrer umfassenden Herrschaftsansprüche und ihres Kulturglanzes mit ihrer selbstgerechten Blindheit verkannt. Ihr bleibt bei dieser Darstellung der Reformation, die der Selbstinszenierung Luthers sehr nahe kommt, nur die undankbare Rolle des arroganten Möchtegern-Lehrmeisters, der von der Geschichte zum Lernen verdammt wird, doch lange Zeit jede Einsicht verweigert und erst durch die vom Konzil zu Trient ab 1545 organisierte «Gegenreformation» – so der polemische Begriff der protestantischen Reformationsgeschichtsschreibung vom 18. bis 20. (und manchmal auch des 21.) Jahrhunderts – zum Gegenangriff übergeht. Die Untauglichkeit dieses Deutungsmusters ist seit langem erwiesen, trotzdem bleibt es bis heute maßgeblich.
Wie grotesk die theologische und kulturelle Position Roms in dieser Jahrtausend-Debatte unter diesem Blickwinkel schrumpft, zeigt sich allein schon daran, dass in repräsentativen Gesamtdarstellungen neuesten Datums Luthers erster literarischer Gegner Prierias nicht einmal erwähnt wird und sein lebenslanger Hauptkontrahent, der Humanist und spätere Kardinal Girolamo Aleandro, allenfalls als intriganter Fädenzieher der kurialen Politik, nicht aber als selbständiger Beobachter und Kommentator des Geschehens auftritt. In dieser alles beherrschenden Sichtweise stehen Luther und Wittenberg für den Aufbruch zurück zu den wahren Wurzeln des Christentums, Rom und das Papsttum hingegen für verstockte, korrupte und letztlich aussichtslose Beharrung auf einer kirchlichen und politischen Machtposition, die nur als Ergebnis einer aus perfidem Eigeninteresse herbeigeführten Fehlentwicklung zu verstehen ist.
Wer Luther und die Reformation so betrachtet, verfälscht und verzeichnet das komplexe Geschehen fatal. Die Einseitigkeit der Wahrnehmung tritt umso krasser hervor, als die Quellen für die römische Sicht Luthers und der Reformation reichlich fließen. So hat sich die Korrespondenz Aleandros, des selbsternannten Luther-Bekämpfers der ersten Stunde, über weite Strecken erhalten, vor allem für die spektakulären Höhepunkte der immer dramatischeren Ereigniskette wie etwa den Reichstag von Worms im Frühjahr 1521. Diese Berichterstattung aber ist bis heute nicht ausgewertet, obwohl sie die...