Süßester Trost
Es war ein kleiner Kreis von Gleichgesinnten, der sich in Wittenberg zusammenfand. Man tauschte sich aus, man regte sich zum Lesen an, man schrieb einander Briefe – so verbreiteten sich die neuen Erkenntnisse rasch. Am 8. April 1516 schrieb Luther an seinen Ordensbruder Georg Spenlein, der kurz zuvor den Wittenberger Konvent verlassen hatte und nun in Memmingen ansässig war. Die Zeilen lassen etwas von der Sprache erahnen, in der sich die jungen Augustinermönche über ihre neuen Erkenntnisse austauschten: Luther redete Spenlein wie andere Ordensbrüder auch als «süßen Bruder» an[1] und verwies ihn dann, ganz im Ton von Staupitz, auf die Liebe Christi und seinen allersüßesten Trost. Bewegt von der mystischen Literatur, mit der er sich in dieser Zeit befasste, sprach er davon, dass Christus in den Sündern Wohnung nehme, und beschrieb erstmals den «wunderbaren Wechsel» zwischen dem gekreuzigten Christus und dem Glaubenden: Christus werde für den Sünder zur Gerechtigkeit, dieser werde für Christus zur Sünde.[2] Die Nähe zwischen Erlöser und Erlöstem drückte sich in diesem Austausch zwischen beiden aus. Seine Begeisterung über diese Erkenntnisse musste Luther dem Freund unmittelbar mitteilen. Der Brief war zum Medium der humanistischen Bewegung geworden. Mit ihm schuf man gemeinsame Überzeugungen, auch Fronten gegen andere. Durch ihn verständigte man sich untereinander im gemeinsamen Geist. Der Geist, der hier die Einheit bilden sollte, war unverkennbar der Geist der von Staupitz vermittelten Mystik.
Dieser Geist sollte durch ganz Deutschland vom Orden ausstrahlen, und er sollte in Wittenberg die Standesgrenzen überschreiten. Mit seinen geistlichen Anliegen wandte Luther sich auch an eine der mächtigsten Gestalten im Kurfürstentum: Georg Spalatin. Dieser war seit 1508 als Erzieher des Kurprinzen Johann Friedrich tätig. 1516 kam er in das unmittelbare Umfeld Friedrichs des Weisen. Er wirkte als dessen Sekretär und Beichtvater, später auch als Hofprediger. Luther hatte in ihm offenbar früh einen Vertrauten gewonnen – eine Verbindung, die lange halten sollte. Als die Konflikte um den Reformator begannen, war Spalatin sein fester Ansprechpartner am Hof, über den er Anliegen an den Kurfürsten selbst vermittelte. Schon im Jahre 1516 schickte er ihm eine Ausgabe von Taulers Predigten zu.[3] Der Brief lässt erahnen, dass den Mönch und Theologieprofessor mit dem Hof schon jetzt mehr verband als nur der Kontakt mit Spalatin. Der Kurfürst habe ihn, so hatte Luther von Spalatin erfahren, häufiger erwähnt, ja, er hatte ihm sogar einen neuen Mönchshabit bezahlt. In solchen wenigen Andeutungen öffnet sich die ganze Welt des späten Mittelalters. Das Geschenk an den Mönch war nicht nur Ausdruck des Respekts – dies auch, aber die Spende für den guten Zweck diente zugleich dem eigenen Seelenheil.
Friedrich der Weise, so aufgeschlossen er für die Wege der innerlichen Frömmigkeit war, war doch zugleich ein Repräsentant exorbitanter und opulenter Suche nach äußerlichen Haftpunkten der Religiosität: Wo immer es ging, sammelte der sächsische Herrscher Reliquien. So erwähnt Luther gegenüber Spalatin auch, dass Staupitz im Auftrag des Kurfürsten auf der Suche nach weiteren Überresten von Heiligen am Rhein unterwegs sei. Friedrich sammelte diese Schätze im Allerheiligenstift, das mit der Wittenberger Schlosskirche verbunden war. Alljährlich konnte man diese Ausstellung am Montag nach Misericordias Domini, dem zweiten nachösterlichen Sonntag, und zu Allerheiligen betrachten und sich dabei reichlich Ablass verdienen. Was es zu sehen gab und wie viel spirituelles Kapital für das Fegefeuer jeweils zu verdienen war, teilte ein eigens von Lukas Cranach illustriertes Traktätchen mit, das man als eine Art Reiseführer in Sachen Heiligkeit verwenden konnte.
Friedrich der Weise sammelte in großer Menge Reliquien in Wittenberg, und Lucas Cranach d. Ä. schuf 1509 einen eigenen Reiseführer zu diesem «Heiltum»: das «Wittenberger Heiltumsbuch». Titelblatt mit Friedrich dem Weisen und Johann dem Beständigen von Sachsen
Wie auch sonst schloss dies die Zuwendung zur innerlichen Frömmigkeit nicht aus, und eben hierin suchte Luther Spalatin und indirekt wohl auch den Kurfürsten noch zu bestärken: Er erinnerte mit dem Bibelwort Jesaja 30,1 an den «Ratschlag Christi», dass man nichts tun solle, was nicht aus Gottes – und das hieß in seinem Verständnis des Alten Testaments selbstverständlich: aus Christi – Geist hervorging. In betonter monastischer Bescheidenheit fügte er dann noch einen eigenen Ratschlag an: Spalatin möge sich die Predigten Johannes Taulers verschaffen. Und Luther fügte noch eine «Zusammenfassung» von Taulers Theologie bei, die er Spalatin erst recht ans Herz legte. Denn:
Ich habe nämlich weder in der lateinischen noch in unserer Sprache eine heilvollere und mehr mit dem Evangelium übereinstimmende Theologie gefunden. Schmecke also und sieh, wie süß der Herr ist, so du doch zuvor geschmeckt und gesehen hast, wie bitter alles ist, was wir sind.[4]
Nicht als Alternative zum Evangelium, nicht als Ergänzung pries Luther das spätmittelalterliche Buch, sondern als dessen angemessensten Ausdruck! Luther lebte noch voll und ganz in jener mittelalterlichen Welt, in der Schrift und Frömmigkeitstradition in großer Harmonie ineinander lagen und unterschiedliche Quellen ein einziges Konglomerat bildeten, das ganz darauf hinauslief, alles von Christus her zu denken und zu empfangen. Die Anspielung auf den Bibelvers: «Schmecket und sehet, wie süß der Herr ist» (Psalm 33,9 Vg.[5]), eröffnete noch eine weitere Dimension. Er wurde und wird in der eucharistischen Liturgie verwendet, um auszudrücken, dass dem, der das Sakrament empfing, Christus selbst entgegenkam.
Lesen, so kann man Luther wohl verstehen, war selbst ein nahezu sakramentlicher Akt, der reinste Erkenntnis bot. Die angekündigte Wandlung von Bitternis zu Süße lässt – auch wenn das Wort für Letztere hier nicht dulcis ist, sondern, dem Bibeltext folgend, suavis – schon anklingen, was Luther Jahre später Staupitz gegenüber mit dem neuen, von Tauler erlernten Bußverständnis verband (s.o. S. 28 f.). Auch hier lässt sich erahnen, wie tief ihn die Lektüre des Mystikers ergriffen hatte. Sein Leben hatte eine neue Orientierung erhalten – und er wollte nun andere daran teilhaben lassen.
«Theologia deutsch» und «Die sieben Bußpsalmen»
Das Buch, das er so warmherzig empfahl, war eben jenes, das nach seinem späteren Briefzeugnis, wohl auf die Zweitausgabe bezogen, Staupitz bei Christian Goldschmied in Druck gegeben hatte, ein spätmittelalterlicher Traktat, der Luther seinen bis heute gängigen Namen verdankt: die Theologia deutsch. Tatsächlich diente Luthers erste Veröffentlichung – rechnet man dazu nicht die Bibeldrucke, die als Hilfsmittel für seine Vorlesungen erstellt wurden – der mystischen Frömmigkeit. 1516 waren ihm «an titell unnd namen»[6] Fragmente dieser Schrift in die Hände gekommen, die man heute in das 14. Jahrhundert datiert. Luther brachte sie bei dem Wittenberger Drucker Grunenberg, dessen Offizin direkt am Augustinereremitenkloster lag, heraus. Luther ordnete das Werk in den geistlichen Weg ein, auf dem er sich nun befand: Es sei, so schrieb er in der Vorrede, «faßt nach der art des erleuchten doctors Tauleri» gemacht.[7] Und was ihn besonders daran interessierte, drückte dann auch der Titel aus. Noch lautete er in dieser Ausgabe nicht «Theologia deutsch». Vielmehr handelte es sich, so konnte der potentielle Käufer sehen, um «Eyn geystlich edles Buchleynn von rechter vnderscheyd vnd vorstand. was der alt vnd new mensch sey. Was Adams vnd was gottis kind sey. vnd wie Adam ynn vns sterben vnnd Christus ersteen sall.»[8] Alles, was Luther bewegte, kam hier zusammen: Das Sterben des alten Adam und das Erstehen des neuen knüpften an die Ausführungen des Apostels Paulus in Römer 6 an. Diese Gedanken fanden sich...