II. Christlicher Glaube: Grundlagen, Inhalte, Formen
1. Das Neue Testament
Die Glaubensurkunde der Christen ist das Neue Testament. In der christlichen Bibel ist es mit dem Alten Testament zu einem Buch zusammengeschlossen. Über die Art des theologischen Zusammenhangs zwischen Altem und Neuem Testament gehen die Meinungen auseinander. Bieten die religiösen Urkunden Israels lediglich die religionsgeschichtliche Folie für das Christentum? Sind sie Schatzkammern einer Frömmigkeit, aus der auch die Christen leben, auf die sie notfalls jedoch verzichten könnten? Oder sind Altes und Neues Testament in einer „biblischen Theologie“ untrennbar aufeinander bezogen?
Die christliche Auslegung des Alten Testaments – heute mitunter auch „Erstes Testament“ genannt – unterscheidet sich von der jüdischen Bibelauslegung durch ihre messianischen Deutungsinteressen. So benutzt die christliche Auslegungstradition zum Beispiel Jesaja 7, 14 (Geburt des Sohnes Immanuel durch eine junge Frau) als Vorausblick auf die Geburt Jesu. Das Opfer Isaaks (1. Mose 22) wurde häufig als Präfiguration von Jesu Kreuzigung verstanden. Über lange Zeiträume der Christentumsgeschichte hinweg war der Kontakt zur jüdischen Schriftauslegung abgebrochen oder empfindlich gestört. Andererseits kennt die Tradition ermutigende Beispiele gemeinsamer Bemühungen um das Verständnis des Alten Testaments, an welche Theologie und Exegese der Gegenwart anzuknüpfen vermögen. Im jüdisch-christlichen Dialog ist die Bestimmung des Verhältnisses der christlichen Tochterreligion zum Judentum ein herausragendes Thema.
Das Neue Testament, die Glaubensurkunde der Christen im engeren Sinn, besteht aus einer Sammlung von siebenundzwanzig Schriften: den vier Evangelien, der Apostelgeschichte, einundzwanzig Briefen und der Offenbarung des Johannes. Die Verfasserangaben suggerieren die Herkunft von Jüngern Jesu, Aposteln und Apostelschülern. Eine Ausnahme bildet der Brief an die Hebräer, der indes in der Alten Kirche (wenn auch nicht unangefochten) als Brief des Apostels Paulus galt. Tatsächlich ist die Verfasserschaft einiger Schriften, und dies von alters her, umstritten. Auch gestattet ihre Anordnung nach literarischen Gattungen keinen Rückschluß auf ihre Entstehungszeit, ebensowenig wie der Eindruck der ereignisgeschichtlichen Ordnung, der sich bei ihrer Lektüre herstellt. Die ereignisgeschichtliche Regie setzte die Evangelien als Beschreibung von Jesu Wirken an den Anfang und ließ die Apostelgeschichte als Darstellung der frühen Geschichte der Ekklesia folgen. An sie schlossen sich die Briefe von Paulus, Jakobus, Petrus, Johannes und Judas an. Die Offenbarung des Johannes, letzte Schrift des Neuen Testaments, stand für die Zukunft.
So sinnvoll die (Heils-)Chronologie gedacht und durchgeführt ist, sie überdeckt die unterschiedlichen Entstehungszeiten der Schriften. Auch die Spannungen zwischen ihren Aussagen und die diffizilen Verfasserprobleme treten in den Hintergrund. Ordnete man die siebenundzwanzig Schriften nach ihrer realen Entstehungszeit, würde am Anfang des Neuen Testaments der 1. Thessalonicherbrief stehen, geschrieben um 50, gefolgt von weiteren Briefen des Apostels Paulus, sodann vom Markusevangelium, das kurz vor dem Jahr 70 entstand. Alle weiteren Schriften sind in die Jahre von 80/90 bis in die Zeit um 130/140 (2. Petrusbrief) zu datieren.
Was veranlaßte die Christen der antiken Welt zur Sammlung jener Schriften, und welche Auswahlkriterien legten sie zugrunde? Die Schriften sind Dokumente der Verkündigungsgeschichte. Sie dienten der religiösen Vergewisserung des neuen Glaubens und dem Aufbau von Autorität im konkurrierenden Feld der Religionen. In den allerersten Anfängen genügten den Christen die „hagiai graphai“, die heiligen Schriften Israels, die sie im Licht der Jesusbotschaft deuteten. Jedoch besaß die mündlich weitergegebene, ab 50/60 dann auch schriftlich niedergelegte Jesustradition von Anbeginn ihr eigenes Gewicht. Beim Übergang vom aramäischen Sprachbereich Palästinas in die hellenistische Welt wurden Umformulierungen des „Euangelion“, der frohen Botschaft, in andere Sprach- und Denkstrukturen notwendig. Umformulierung bedeutete Weiterbildung.
Die generative Kraft beim Aufbau immer weiterer religiöser Sätze mit der Rückendeckung der göttlichen Offenbarung brachte wesentlich mehr Texte hervor, als wir sie heute im Neuen Testament finden. Den ersten Versuch, einen Kanon der heiligen Schriften der Christen zu bilden, unternahm um 140 der nachmals als Ketzer verfluchte Markion aus Sinope (Kleinasien). Er ließ lediglich zehn Briefe des Paulus und das Lukasevangelium gelten. Alles andere, eingeschlossen den jüdischen Schriftenkanon, stieß er von sich. Überdies hatte er auch Paulus von angeblichen „jüdischen Verfälschungen“ gereinigt. Mit seinem Kanon hatte Markion einen Stein ins Wasser geworfen, der breite und irritierende Wellen schlug. Außerdem legten der religiöse Sog der christlichen Gnosis und eine apokalyptische Kirche der Endzeit, die um 170 großen Zulauf hatte, kanonische Klärungen nahe. Für das Ende des 2. Jahrhunderts ist erstmals ein (noch privates) Verzeichnis bezeugt, das weitgehend mit dem uns heute vertrauten Schriftenkanon des Neuen Testaments übereinstimmt, der berühmte „Canon Muratori“. Auswahlkriterien waren urchristliche Herkunft und apostolischer Lehrgehalt der Schriften. Sachlich und chronologisch standen die Kriterien auf wackligen Füßen. Jedoch darf das historisch-kritische Bewußtsein der Neuzeit nicht als Argument der Falsifikation verwendet werden. Religiöse Autoritäts- und kirchliche Traditionsbildung unterlagen in antiker Zeit ihrer eigenen Dynamik.
Der Umfang des neutestamentlichen Schriftenkanons blieb noch lange fließend. Zuerst verzeichnete Bischof Athanasius von Alexandria im Jahr 367 die heute gültigen siebenundzwanzig Schriften in einem Osterfestbrief. Bei ihm findet sich auch die erste Erwähnung des Begriffs Kanon (wörtlich: Richtschnur, Regel). Eine weitere Liste legte eine Synode in Rom 382 vor. Sie enthielt auch die Schriften Israels. Weitere Synoden im lateinischen Westen schlossen sich an. Der alexandrinische Bischof und die lateinischen Synoden trafen ihre Entscheidungen nicht im luftleeren Raum. Sie qualifizierten einen gegebenen Zustand: den weithin längst eingebürgerten Gebrauch dieser Schriften.
Ein gewisser Zirkelschluß bei der Kanonisierung der Schriften des Neuen Testaments scheint unverkennbar. Einerseits gilt diese Sammlung als normgebend für die Kirche, andererseits ist der Kanon ein Produkt der Kirche. Insofern ist die Rede von der Schrift als Norm der Kirche mißverständlich. Die Norm entstand nicht ohne die Tradition. Beide, Norm und Tradition, waren nicht denkbar ohne eine Norm in der Norm und eine Tradition in der Tradition. Diese Umstände verweisen auf die Sache selber, die in und hinter der Norm (Text) und der Tradition (Leben der Kirche) erscheint.
Der Sammelbegriff „Neues Testament“ kam im 3. Jahrhundert auf. Testamentum ist das lateinische Äquivalent für das griechische Wort Diathekè. In der griechischen Version des Alten Testaments, der Septuaginta, steht Diathekè für das hebräische Wort B’rit (Bund). B’rit war im Verständnis Israels keine zweiseitige Abmachung, sondern die Willensbekundung des allein maßgebenden Gottes. Nach christlichem Verständnis folgt dem alten Bund, der Willensbekundung Gottes auf dem Sinai, der neue Bund, und auch er war mit Blut besiegelt (Hebräerbrief 10, 29).
Anders als beim Koran, der nur im arabischen Original gültig ist, ist Gottes Wort nach christlicher Überzeugung nicht an das Koinè-Griechisch der Schriften des Neuen Testaments gebunden. Gottes Botschaft schlägt durch alle Sprachen und Idiome durch. Der Rückgang auf das Original bleibt gleichwohl unverzichtbar. Die Zahl der Handschriften und Fragmente, die zur Herstellung der frühesten Gestalt der einzelnen Schriften zur Verfügung stehen, liegt derzeit bei etwa 5.500. Mit seinen vielen Tausenden Übertragungen in andere Sprachen ist das Neue Testament bzw. die christliche Bibel das am häufigsten übersetzte Buch der Weltgeschichte.
Theologie, Liturgie, Predigt und christliches Leben finden ihren Ausgangs-, Mittel- und Endpunkt in der Botschaft des Neuen Testaments. In diesem Sinne ist die Geschichte des Christentums die Geschichte des „Neuen Bundes“. Die Methoden der Deutung der religiösen Urkunden des Christentums haben sich im Verlaufe der Jahrhunderte erheblich gewandelt. Erhoben die Exegeten der Alten Kirche einen mehrfachen „Schriftsinn“ – allegorisch, geistlich, buchstäblich u.a. –, so bildet in der neueren Geschichte die historisch-kritische Methode das Fundament. Die Heilige Schrift braucht keine Illuminierung durch Sonderdeutungen, um ihre Botschaft zu Gehör zu bringen. Die historisch-kritische Methode bietet ein verläßliches Instrument zu ihrer Erschließung.
2. Glaubensbekenntnisse, Dogmen
In den Schriften des Neuen Testaments finden sich keine Dogmen, kirchlich autorisierte Aussagen über den christlichen Glauben. Es bereitet erhebliche Mühe, selbst unterhalb der Stufe des Dogmas feste Glaubensregeln oder gar Glaubensbekenntnisse zu finden. Ein gemeinsamer...