Strafanzeige I: Insgesamt habe ich vielen geholfen
Unter dem Aktenzeichen 2200Js1/83 ermittelte die Staatsanwaltschaft beim Landgericht Hamburg 1983 wegen Mordverdachts gegen den emeritierten, 75 Jahre alten Professor für Innere Medizin Heinrich Berning: Er hatte 1941 den Auftrag zur »wissenschaftlichen Erforschung der Ödemkrankheit« erhalten. Nach einem Besuch des Militärarchivs in Freiburg und einem Gespräch mit Berning hatte ich die Anzeige erstattet. Das Ermittlungsverfahren wurde später eingestellt. Allerdings stellte der Gerichtsärztliche Dienst der Gesundheitsbehörde Hamburg in einem Gutachten, das Prof. Dr. W.Naeve am 25. März 1983 unterzeichnete, eindeutig, wenn auch in etwas kompliziertem Deutsch fest: »Es erfolgten nach Aktenlage somit Experimente an Menschen, welche für die den Experimenten Unterzogenen todesursächlich gewesen sind. Nach dem Stande der medizinischen Wissenschaft in den Jahren 1941/42 war es dem Beschuldigten Prof. Dr. H.Berning bekannt, daß es sich bei den Experimenten um das Leben der Versuchspersonen akut gefährdende handelte.«
Zur Aktenlage gehörte ein vergilbtes Schreiben der Heeressanitätsinspektion »Betr.: Erkrankung im Stalag XD Wietzendorf« (bei Soltau). Es war militärisch knapp gefaßt, juristisch faßbare Schuld ließ sich daraus kaum ableiten. Immerhin wurde Berning wegen der auf »Greuelmärchen gerichteten feindlichen Propaganda« zu strikter Geheimhaltung verpflichtet. Er forschte, soviel stand fest, über Hungerkrankheiten, ein Gebiet, auf dem er zeitlebens als international anerkannte Kapazität galt; insbesondere beschäftigte er sich mit der Herausbildung und dem Verlauf – der Katamnese – des Hungerödems, jenes extremen, zugleich täuschenden Aufquellens hungernder Menschen infolge krankhafter Wassereinlagerungen im Gewebe. Berning sprach in seinem späteren Geheimbericht vom »universellen Hydrops« und erklärte: »Für diesen Zustand war die Bezeichnung ›Wassermensch‹ äußerst zutreffend.« Seine Fragestellung hatte gelautet: Ist es, ausreichende Kalorienzahlen vorausgesetzt, in erster Linie Eiweiß- oder Vitamin-B-Mangel, der zur Odemkrankheit führt? Als »Krankenmaterial« benutzte er sowjetische Kriegsgefangene aus eben jenem Kriegsgefangenenlager Wietzendorf. Der Ort der Forschungen war eine »für diese Zwecke eingerichtete geschlossene Abteilung« im heutigen Bundeswehrkrankenhaus, dem damaligen Reserve-Lazarett V in Hamburg-Wandsbek.
Im »Woyzeck« skizzierte Georg Büchner die Vorlesung »im Hof des Doktors«, hier stellte sich ein ähnliches Problem:
»Doktor: … Sehen Sie: der Mensch, seit einem Vierteljahr ißt er nichts als Erbsen; bemerken Sie die Wirkung, fühlen Sie einmal: was ein ungleicher Puls, der und die Augen!
Woyzeck: Herr Doktor, es wird mir dunkel! (Er setzt sich.)
Doktor: Courage, Woyzeck! Noch ein paar Tage, und dann ist’s fertig. Fühlen Sie, meine Herren, fühlen Sie! (Die Studenten betasten ihm Schläfe, Puls und Busen.)«
Die Erbsen, die Woyzeck gegen »drei Groschen täglich« über ein Vierteljahr ausschließlich zu essen hat, enthalten hauptsächlich Kohlenhydrate, kein Fett und wenig Eiweiß. Woyzeck leidet an einer künstlich erzeugten Mangelerkrankung. Sein Puls ist »klein, hart, hüpfend, unregelmäßig«. Ihn quälen Hungergefühle, ihm wird leicht schwindlig, er halluziniert.
Als Dramatiker interessierte sich der angehende Arzt Büchner für die individuellen Folgen des Menschenexperiments, für die Verwandlung des Subjekts zum Objekt – nicht für die wissenschaftlichen Ergebnisse. Wahrscheinlich waren sie falsch. Schließlich dachte man noch in den berüchtigten Rübenwintern am Ende des Ersten Weltkriegs, es sei der Mangel an Fett, der zu den krankhaften Veränderungen des Körpers infolge von Unterernährung führe. Heute weiß die Fachwelt – nicht zuletzt dank der Forschungen Bernings –, daß die Unterversorgung des Körpers mit verwertbarem, insbesondere tierischem Eiweiß als Ursache gesehen werden muß. Fett kann der Körper aus Kohlenhydraten umbauen, Eiweiß nicht. Auch der Vitaminmangel ist ohne wesentliche Bedeutung. Allerdings war auch schon jener Doktor, der sich den Versuchsmenschen Woyzeck hielt, auf einem methodisch erfolgversprechenden Weg, der ihn zu den erst hundert Jahre später gesicherten Erkenntnissen hätte führen können. Denn nach der Erbsentortur sollte Woyzeck – so steht es in einem der Entwürfe Büchners – auf eine andere Monokost, bestehend aus Hammelfleisch, »umgesetzt« werden.
Im Mai 1983 wurde Heinrich Berning 75 Jahre alt, emphatisch die Würdigung seiner Lebensleistung im »Hamburger Ärzteblatt«. Ein Mann voller Pflichtgefühl, Strenge und Humor. Warum er sich 1945 zunächst nach Bayern absetzte und von 1951 bis 1954 einen Zwischenaufenthalt in Caracas einlegte, bleibt dunkel. Seiner Karriere in den späten fünfziger Jahren stand jedoch nichts mehr im Weg. In Anerkennung seiner Forschungen über den Hunger wurde Berning mit dem Martinipreis der Hansestadt ausgezeichnet. Von 1960 bis 1975 leitete er als ärztlicher Direktor das Allgemeine Krankenhaus Hamburg-Barmbek. Er war Chef von zwei Dutzend Chefärzten, von 1800 Angestellten – freundlich, verbindlich und wissend. Ihm konnte man es verdanken, daß 1971 der Boykott Hamburger Klinikdirektoren gegen den stellungsuchenden Assistenzarzt Karl Heinz Roth gebrochen wurde: »Warum sollte ich die Einstellung des APO-Führers ablehnen?!«
Die Ergebnisse seiner Forschungen über den Hunger faßte Berning nach Kriegsende in einer Monographie zusammen (Thieme Verlag, Stuttgart 1949). Dieser Arbeit ist bis heute wenig hinzuzufügen. Niemand wird daran vorbeikommen, wenn er sich mit den medizinischen Fragen des akuten Hungerzustandes von Menschen beschäftigt –»ein Problem, das, wie Sie auch wissen, weltweit leider ständig zugenommen hat«. Und weiter sagte mir Berning, der mich nach einem durchaus deutlichen Brief mit großer Angespanntheit und zugleich liebenswürdig in seinem Hamburger Haus empfing: »Insgesamt, das glaube ich wohl in aller Bescheidenheit sagen zu dürfen, habe ich sehr vielen Menschen geholfen.« Sein Standardwerk trägt den Titel »Die Dystrophie«. Die konkurrierenden deutschen Bezeichnungen »Eiweißmangelschaden«, »Hungerkrankheit«, »Ödemkrankheit« verwarf Berning. Aus wissenschaftlichen Gründen zog er den Begriff »Dystrophie« vor, da er das Wesen und nicht die Erscheinung des Problems beschreibe, und verwies darauf, daß diese zutreffende Namensgebung bis dahin nur im Russischen üblich gewesen sei. Vielleicht setzte Berning hier den sowjetischen Opfern seiner Forschungen unbewußt einen wissenschaftlichen Grabstein. Immerhin starben zwölf der 56 »klinisch untersuchten« Kriegsgefangenen in der von Berning geleiteten geschlossenen Forschungsabteilung – also jeder fünfte. Im veröffentlichten Ergebnisbericht von 1944 (abgedruckt in »Therapie der Gegenwart«), der selbstverständlich keinerlei Hinweis auf die Quellen der neuen Erkennnisse enthielt, schrieb Berning demgegenüber: »Prognostisch ist in den meisten Fällen bei richtiger Behandlung im Laufe von Wochen bis Monaten je nach Schwere der Erkrankung mit völliger Rückbildung zu rechnen.«
»Ist dieses Ergebnis erreicht«, fragte ich ihn, »wenn jeder fünfte stirbt?« und erhielt die Antwort: »Sie müssen berücksichtigen, ich hatte mit Schwerkranken zu tun, es war Krieg.« Aber nicht nur: »Sie waren doch Mitglied der NSDAP?« Ja schon, aber das habe keine Rolle gespielt, »das waren wir damals, Sie können sich das schlecht vorstellen, das waren wir alle«.
Die Unterlagen seines Entnazifizierungsverfahrens lagen auf seinem Tisch bereit, die Persilscheine erschienen blütenweiß. Im Vorwort seines Buchs hatte er 1949 bemerkt: »Aus dem Bestreben, an der Behebung der Not nach besten Kräften mitzuwirken, entstand die vorliegende Abhandlung.« Aber wann, wo und mit welchen Mitteln? Berning hatte, was er mir nicht erzählte, die SS-Mitgliedsnummer 126520. Er war Stellvertreter seines vielbeschäftigten Eppendorfer Chefs Berg, Beratender Internist der Wehrmacht und zuständig auch für alle Lager im »Gau Nordmark« –»es war grauenvoll, was ich dort gesehen habe«. Aus dem »Rasse- und Sippen-Fragebogen« der SS geht hervor, daß er bis 1937 katholisch blieb, dann »gottgläubig« wurde, das SA-Sportabzeichen in Bronze und einen SS-Jul-Leuchter besaß. Sein »rassisches Gesamtbild« wurde als »nordisch-friesisch« eingestuft, auch galt er als »willensstark«. Fehler und Schwächen seien bei ihm »nicht vorhanden«, vielmehr zeichne ihn »beste niedersächsische Gründlichkeit« aus. Solche Personaldaten klingen belastender, als sie es in Wahrheit sind, sie existieren in ähnlicher Form für Zehntausende deutscher Männer jener Jahrgänge. Ein Mordverdacht läßt sich darauf nicht stützen.
Soweit dies unter den damaligen Verhältnissen möglich gewesen sei, schrieb Berning 1949, habe er auf die mit der Unterernährung verbundenen Gefahren hingewiesen: »Rückblickend kann festgestellt werden, daß unsere warnende Stimme von verschiedenen Stellen gehört wurde,...