Mein Leben müßte ein Unvoreingenommener trostlos nennen, wären vor und hinter den Schlagschatten nicht so unzählige, brennende Glücksmomente gewesen. Und so war es reich, trotz allem, und über alle Maßen schön.
Ich bin die Tochter eines großen Monumentes, gewissermaßen. Mein Vater, Emil J. Schindler, das Vorbild meiner Kindheit, kam aus einem alten Patrizierhaus. Er war der bedeutendste Landschaftsmaler der österreichischen Monarchie.
Meines Vaters Vater war lungenkrank und starb in jungen Jahren. Als er erkannte, daß er verloren war, mietete er einen vierspännigen Wagen und fuhr mit seiner jungen schönen Frau durch Italien und die Schweiz. Als es ans Sterben ging, bat er sie, ihr festlichstes Ballkleid anzuziehen, und darin mußte sie bis zu seinem Tode neben seinem Bette sitzen. – Ihr Porträt, von Amerling gemalt, hing in der Schönheitsgalerie der Hofburg in Wien.
Meines Vaters Onkel, Alexander Schindler, schrieb unter dem Pseudonym ›Julius von der Traun‹ theoretisch-juristische Abhandlungen sowie Romane. Zum Beispiel die Novelle ›Der Schelm von Bergen‹, das spätere Vorbild zu Carl Zuckmayers gleichnamigem Theaterstück. Er spielte im alten Österreich eine große Rolle, war Parlamentarier, und, um nur weniges über seine Neuerungen zu sagen (was für manchen viel bedeutete): er schaffte in der österreichischen Monarchie die Prügelstrafe ab.
Alexander Schindler war eine Verschwendernatur. Er mußte eines Nachts aus seinem Schlosse Leopoldskron fliehen, das über und über verschuldet war. Aber er gestaltete diesen unrühmlichen Auszug zu einer großen Theaterszene. Seine Diener, beträchtlich an Zahl, mußten ihm in Eskarpins mit Fackeln den Weg voranleuchten.
(Viele Jahre später sollte Max Reinhardt dort ähnlich hofhalten und das gleiche Schicksal erleben. Aber unsere Zeit ist weniger romantisch, und dieser Abschluß fiel in den Beginn des Zweiten Weltkrieges, der alles zerstörte.)
Mein Vater hatte vor seiner Ehe in gemeinsamem Atelier mit Hans Makart gearbeitet, dem pompösen Meister der Franzisko-Josephinischen Gründerjahre. Makart war ein Renaissancetalent, doch ohne die Größe jener Cinquecento-Menschen. Er gab die üppigsten Feste, lud die schönsten Frauen ein, die dann seine echten Renaissancegewänder trugen, und von der Decke hingen Rosengirlanden herunter in den Saal. Liszt spielte dort ganze Nächte lang, es gab die erlesensten Weine, jeder hatte hinter seinem Sessel einen Pagen in Samtgewändern … und so fort ins Uferlose des Glanzes und der Phantasie.
Die Sohlen an dem einzigen Schuhpaar meines Vaters zeigten zum Beispiel Sprünge, da er die Schuhe aber noch nicht bezahlt hatte, war eine Neubestellung nicht gut möglich. Er mietete also einen Monatsfiaker, um die Schuhe für ein paar Wochen – bis zur Vollendung eines Bildes – zu ›strecken‹. So taumelte er durchs praktische Leben, und er kam leidlich durch, denn es gab doch auch ab und zu Aufträge. Aber die Schulden wuchsen …
Zu den Ornamenten der sonderbaren Umstände, in denen mein Vater damals lebte, gehörte ein junger Page, der ihm jeden Abend die Taschen ausleerte und das bißchen Geld, das er fand, stahl. Mein Vater wußte das, und es machte ihm nichts aus … »weil der Bursch so schön war«. – Später allerdings flog der Junge in hohem Bogen hinaus, als meine Mutter die Haushaltung übernahm und hinter seine Schliche kam.
Mein Vater war ein geniales Wesen und verschuldet, wie es eben einem solchen zukommt. Nach seiner Eheschließung kam Enge in sein Leben. Wenngleich er ein Schloß bewohnte, einen Park mit Barockfiguren sein eigen nannte, lag auf dem Grunde seiner Seele unerfüllt die Schönheitssucht nach einer anderen Welt, die er in diesen herben Alltag herabholen wollte. Meine Mutter kam aus dem Kleinbürgertum Hamburgs und suchte nachzuholen, was meinem Vater im Blute lag. Nach seinem Tode erst erkannte sie seine Bedeutung.
Dieses Kämpfen um das tägliche Brot mag für sie schwer gewesen sein, denn mein Vater kannte nichts als seine Kunst. Wurde es ihm zu bunt, legte er sich hin – schlief – oder schrieb.
All das fühlte ich, und in mir wuchs in frühen Tagen schon die Lebenssehnsucht nach dem blauen Himmel auf Erden.
Ich fand sie in der Musik.
Der ewige Schüler meines Vaters, Carl Moll, ging von einer Lehre in die andere, suchte oft die heterogensten Lehren, bis zu seinem Tode, und zum Unglück seines kleinen Talentes. Er beschreibt hier den ersten Eindruck von unserem Heim:
»Ein mäßig großes Zimmer, durch die Fenster flutete reiches Licht aus weiter Ferne, ein Dielenschrank aus dem 18. Jahrhundert, und in einem Riesenlehnstuhl eine wunderschöne alte Dame mit silberweißen Schläfenlocken, zwei Kindern, braun und blond, Märchen vorlesend: Schindlers Mutter mit ihren Enkelkindern.
Der Winter 1884 bringt die Erfüllung von Schindlers geheimsten, nie ausgesprochenen, kaum gedachten Wünschen: Jenseits des Wiener Waldes, zwischen Neulengbach und Tulln, steht in einem alten Park (fast der Garten seiner Träume) ein altes Schloß, zum Fürst Karl Liechtensteinschen Besitz Neulengbach als Ernteschloß gehörig. Ein zwei Stock hoher, von steilem Dach gekrönter rechteckiger Bau aus dem 15. Jahrhundert. Ein Zwiebelturm mit Uhr in barocker Form bildet den einzigen Schmuck der Front. Der zwei Joch große Park zeigt nur noch Spuren einer stilvollen Anlage, vor allem ein prächtiges barockes Kellerportal, von mehreren hundertjährigen Linden flankiert. Noch mehr mächtige Linden und Platanen, dazu eine Allee von alten Nußbäumen. Hinter dem Schlosse klettern Weinberge hügelan, vor demselben, tiefer, umschließt den Park ein Dörfchen von wenigen Häusern. Schloß Plankenbergs umgebende Natur ist anregend, abwechslungsreich, hügeliges Terrain, weite Fernsichten, Wald und Feld, die von Pappeln gesäumten Landstraßen und ein ruhig fließender Bach. Die Schloßbewohner sind Herren der ganzen Umgebung.
Schindler, der geborene Aristokrat, der als Jüngling bei seinem Onkel im Schlosse Leopoldskron gelebt hat, ist vom Zufall in ein Schloß zurückgeführt worden und kann mit den bescheidensten Geldmitteln ein grandseigneurales Leben führen.«
Aus diesen Aussprüchen kann man ersehen, daß ich wie eine Prinzessin in schönster Natur dahinlebte. Mein Vater wurde der Künder gerade dieser Natur. Um Österreichs Natur zu kennen, braucht man nur die Bilder meines Vaters zu sehen … dann versteht man sie.
Meine Kindheit verbrachte ich meist in diesem alten Schlosse. Es war für mich voll Grauen, Legenden und Schönheit. Man sagte, ein Gespenst ginge um, und wir Kinder fürchteten uns ganze Nächte davor.
In der Mitte des großen Stiegenhauses prangte ein Altar in einer kleinen Kapelle, und mein Vater fand eine holzgeschnitzte Madonna und vergoldete Barockleuchter. Der Altar wurde mit Blumen umstellt, und Kerzen leuchteten die ganze Nacht. Er wurde natürlich niemals benutzt; er war nur der Schönheit halber da. Mußten wir Kinder am Abend daran vorbei, so rannten wir schaudernd.
Mein Vater war tiefmusikalisch. Er hatte eine wunderbare Singstimme, einen hellen Tenor, und sang mit großem Können Schumannlieder und ähnliches. Seine Konversation war fesselnd und nie alltäglich. Ich war stundenlang bei ihm und stand und starrte auf die offenbarende Hand, die den Pinsel führte. Ich träumte von Reichtum nur darum, um schöpferischen Menschen die Wege zu ebnen. Ich wollte in Italien einen großen Garten haben mit vielen weißen Ateliers darin, und ich wollte die bedeutendsten Menschen einladen, dort ohne Alltagssorgen nur ihrer Kunst zu leben – und ich wollte mich niemals zeigen. Ich liebte Schleppen, Samtgewänder, und wollte in Gondeln gerudert werden, denen rote Samtdecken im Wasser nachschleiften … das war der Bodensatz der Makartzeit in mir.
Mein Vater nahm mich immer ernst. Einst holte er mich und meine Schwester in sein Atelier und erzählte uns den Inhalt des ›Faust‹. Wir Kinder weinten, ohne zu wissen warum. Als wir nun ganz hingerissen waren, gab er uns das Buch und sagte: »Das ist das schönste Buch auf der Welt. Lest es, behaltet es.«
Wir gingen und lasen. Aber da kam meine Mutter zornwütig an. Es entspannen sich nun zwischen unseren Eltern und zufälligen Gästen Kämpfe, denen wir Kinder mit verhaltenem Atem hinter der Türe zuhörten … bis die Partei der sogenannten Vernünftigen, wie immer, siegte. Mir blieb’s wie eine fixe Idee: Ich mußden Faust wiedererlangen.
Und so war die ganze Jugend. Voll von Versuchen und ohne jedes System. Wir lernten immer zu Hause, bei bösen Hauslehrern, die entfernt wurden, wenn mein Vater darauf kam, daß sie uns quälten. Dann wieder bei guten Herren, von denen man aber nichts lernte; später unterrichtete uns meine Mutter einen Winter lang auf Korfu. Sie war aber so ahnungslos, daß sie uns zum Beispiel aufgab, an einem einzigen Tag das große Einmaleins auswendig zu lernen.
Nervös und gescheit war ich bis zu einem gewissen Grade –: nämlich jene gewisse Kindergescheitheit mit dem Lückenhirn. Wie habe ich gelitten, wenn ich mir in der Schule oder unter anderen bewußt wurde, daß ich nichts ganzausdenken konnte. Gelernt wurde eigentlich nie und nichts systematisch. Keine Jahreszahl blieb in meinem Kopf, nichts interessierte mich außer Musik.
Eine Reise wurde für mich zum großen Erlebnis. Mein Vater bekam den Auftrag, für das Kronprinz-Rudolf-Werk ›Die Monarchie in Wort und Bild‹ alle adriatischen Küstenstädte von Dalmatien bis Spizza in Tusche zu zeichnen. So fuhren wir mit einem...