Die Bedeutungen der Begriffe „Ehre“ und „Schande“ basieren kaum auf den Überlieferungen der islamischen Religion, sondern entspringen eher der nahöstlichen Tradition und dem Volksislam. Im Koran wird die „Ehre“ vor allem im Kontext mit der Belohnung des Gläubigen durch Allah, dem Eintritt in das Paradies, verwendet (Stellen 3,26-27; 49,13; 70,23-35). Eine Auffassung von „Ehre“ und „Schande“, wie sie in traditionellen islamischen Gesellschaften noch heute gelebt wird, ist im Koran und in den islamischen Überlieferungen nicht zu finden.
„Weder der Koran noch die islamische Überlieferung sprechen in dem Sinne von Ehre, wie er vor allem im ländlichen Bereich, dem von Stammesdenken und Stammesstrukturen geprägten islamischen Umfeld gelebt wird.“[12]
„Ehre“ und „Schande“ können unter Umständen aus einem religiösen Kontext abgeleitet werden, sie können aber auch ganz profanen Motiven, Strategien und Zusammenhängen zu Grunde liegen, die in der Tradition und in den Werten der islamischen Länder weitergelebt werden.[13]
Einige Reformerinnen und Reformer wenden sich heutzutage strikt gegen eine religiös begründbare Auffassung von „Ehre“ und „Scham“. Die Religion dürfe nicht missbraucht werden, um patriarchalische Ehrvorstellungen aufrechtzuerhalten.
„Eine begriffliche Differenzierung, oft sogar scharfe Entgegensetzung von Islam und Tradition gehört mittlerweile zum Standardrepertoire muslimischer Reformerinnen und Reformer. Sie dient dazu, die historische Verquickung von Religion und patriarchalischen Traditionen aufzubrechen und gegenüber herkömmlichen Praktiken – insbesondere traditionellen, islamisch konnotierten Vorstellungen von Geschlechterehre und innerfamiliärer Rollenteilung – intellektuelle Distanz zu gewinnen. Auf diese Weise sollen Veränderungen in Richtung Gleichberechtigung religiös unterstützt werden.“[14]
In der islamischen und somit auch in der türkischen Gesellschaft erfährt der Begriff der Ehre ausschließlich durch seine öffentliche Anerkennung eine Bedeutung. Er ist somit kein intimer oder persönlicher Wert, sondern ein Wert, der nur durch die Öffentlichkeit an Gewicht erhält.[15] Durch die Ehre, welche die Öffentlichkeit einer Person zugesteht, kann eine Person erst Annerkennung und Würde erlangen.[16] Doch um in der Öffentlichkeit als ehrenhafte Person angesehen zu werden, müssen bestimmte Normen, welche in der Gesellschaft gelten, streng befolgt werden.[17] „Ehrenhaftigkeit (namus) und Ehrbarkeit (seref) sind so etwas wie das Antlitz, dass das Individuum der Gesellschaft zeigt, zugleich ein Abbild dessen, wie es von der Gesellschaft angesehen wird.“[18]
Der Begriff der „Ehre“ (im Türkischen: „namus“) ist geschlechtsbezogen. Die Ehre des Mannes unterscheidet sich streng von der Ehre der Frau. Die Ehre der Frau wird daher von einigen Autorinnen und Autoren als „Scham“ bezeichnet, was den Wert der weiblichen Ehre treffender widerspiegelt. - Die Bedeutung der weiblichen Scham wird in einem späteren Kapitel („Die traditionell türkische weibliche Scham“) näher erläutert -.
Ein Mann wird mit seiner Ehre geboren, auch wenn er ein ehrenhaftes Benehmen erst noch erlernen muss. Die Ehre des Mannes entfaltet sich vollständig im Jugendalter. Der Jugendliche, der sich seiner Ehre noch nicht recht bewusst ist und sein Verhalten noch nicht nach ihr ausgerichtet hat, bekommt in diesem Alter in der Türkei sein Fehlverhalten mit den Worten „delikanli“ („sich der Ehre noch nicht bewusst sein“) entschuldigt. Da sich der Jugendliche der Gemeinschaft der erwachsenen Männer zugehörig fühlen und von dieser akzeptiert sowie respektiert werden möchte, versucht er durch ein ehrbewusstes Handeln in die Gemeinschaft der Männer aufgenommen zu werden.
„Von einer anderen Perspektive aus betrachtet ist die Ehre (namus) ein Wertekomplex, der maßgeblich über Hierarchie- und Machtbeziehungen in der Männergesellschaft entscheidet, über Kontrolle und Kontrolliert-Werden, über Akzeptiert-Werden und Ausgeschlossen-Sein.“[19]
Die Ehre des Mannes kann durch andere Personen angegriffen und verletzt werden. Ein Mann tritt bei einer Ehrverletzung für seine eigene Ehre, aber auch für die seiner Frau und seiner weiblichen Familienmitglieder ein. Den Frauen wird die Fähigkeit abgesprochen, selbst für ihre Ehre eintreten zu können. Da die Ehre des Mannes von der sexuellen Keuschheit der weiblichen Familienmitglieder vor der Ehe und der Treue in der Ehe abhängt, führt dies zu besonders strikten Verhaltensvorschriften gegenüber den Mädchen und Frauen.[20] „Durch die soziale und sexuelle Kontrolle der Frauen versuchen die Männer, deren schamhaftes Verhalten zu garantieren und damit die Schande von sich selbst abzuwenden.“[21] Weigert sich ein Mann für seine Ehre einzutreten oder versagt er, so verliert er seine Ehre. Es bleibt ihm dann lediglich ein Leben in Unehre, im Exil oder der Selbstmord, wobei nach einem türkischen Sprichwort der Selbstmord zu bevorzugen sei („Bevor man mit gebeugtem Kopf geht, stirbt man besser).[22] Eine Ehrverletzung, die nicht an die Öffentlichkeit gerät, bedarf auch keiner Vergeltung. Nicht die Verletzung der Ehre an sich, sondern der öffentliche Druck erfordert einen Vergeltungsakt.[23]
„Menschen fühlen sich und gelten erst dann als entehrt oder als schamlos, wenn die Ehrverletzung öffentlich geworden ist. Ebenso wird der Unehrenhafte seine Ehrbarkeit erst dann wiedergewinnen, wenn er öffentlich demonstriert, dass er seine Reputation nach einer Beleidigung verteidigen kann. Dabei ist es relativ unwichtig, ob es sich tatsächlich um Fakten oder um das Produkt eines nicht fundierten Gerüchtes handelt.“[24]
Es ist, im Gegensatz zu dem Begriff der „Ehre“ umstritten, ob der Begriff der „Würde“ (im Türkischen: „seref“) geschlechtsspezifisch ist. Einige Autoren, wie unter anderem Lale Yalcin-Heckmann[25] oder Ahmet Toprak[26], erkennen keinen geschlechtsspezifischen Unterschied von „Würde“ im Islam.
„Seref ist ein Rang für Dienste an der Gesellschaft, den man benötigt, um in die gesellschaftlich anerkannte Stellung einer wegen bestimmter Vorzüge (wie Reife, Erfolg, Ansehen, vornehme Abstammung) geschätzten Respektperson aufzusteigen.“[27]
Andere Autoren, wie z. B. Andrea Petersen[28] oder Werner Schiffauer[29], verweisen allerdings darauf, dass der Begriff der „Würde“ allein im öffentlichen und politischen Kontext verwendet wird und Frauen zu diesem Bereich keinen Zugang hätten. Frauen könnten daher keine „Würde“ erlangen.[30]
Die Würde einer Person lässt sich im Gegensatz zur Ehre steigern bzw. verringern. Sie lässt sich zudem vererben, wobei es dem eigenen Handeln obliegt, ob sich die Würde steigert oder verringert. Die Autorin Andrea Petersen führt, im Gegensatz zu den anderen genannten Autoren und Autorinnen auf, dass nur ältere Menschen aufgrund ihrer Lebenserfahrung Würde erlangen könnten.[31] Um „Würde“ durch die Öffentlichkeit zu erlangen, muss eine Person „Ehre“ haben. Jedoch nicht jeder, der Ehre besitzt, kann auch Würde erhalten.
„Wir können es uns etwa so vorstellen, dass der Wert namus eher die introvertierte, ich-bezogene und seref eher die extrovertierte, der Gesellschaft zugewandte Seite der Ehre ausmachen.“[32]
Zwar bedeutet der Besitz von „Ehre“ und „Würde“ eine Auszeichnung durch die Öffentlichkeit, dies kann jedoch auch als negativ empfunden werden. Man erwartet von einer Person mit „Ehre“ und „Würde“ ein stets vorbildliches Verhalten; auch wenn dies den eigenen Wünschen und Vorstellungen teilweise zuwiderläuft.[33]
Die Wörter „Ehre“ und „Würde“ bedeuten in ihrem Ursprung, sowohl im Christentum als auch im Islam, die Ehrfurcht gegenüber Gott. Das Christentum betont vor allem die gleiche Würde aller Menschen auch in Bezug auf die Unverfügbarkeit und Unverletzlichkeit der Person, wie sie unter anderem in den deutschen Grundrechten niedergeschrieben ist. Das Christentum betont die Würde mehr als die Ehre. Im Protestantismus findet die Ehre kaum noch eine Bedeutung. Der Islam hingegen erhebt die Ehre eines Menschen über seine Würde.[34]
Die Betonung von Werten, wie „Ehre“ und „Würde“, ist in der...