5. Die Geschichte der Traumdeutung
Wir haben bisher drei Ansätze zur Traumdeutung vorgestellt: erstens Freuds Auffassung, dass alle Träume Ausdruck der irrationalen und asozialen Natur des Menschen seien; zweitens Jungs Interpretation, dass die Träume Offenbarungen einer den Einzelnen transzendierenden unbewussten Weisheit seien; drittens die Ansicht, dass die Träume jede Art von Seelentätigkeit ausdrücken, dass in ihnen sowohl unsere irrationalen Strebungen wie auch unsere Vernunft und Moralität – das Schlechteste wie auch das Beste in uns – zum Ausdruck kommen. Diese drei Theorien sind keineswegs neueren Datums. Ein kurzer Überblick über die Geschichte der Traumdeutung zeigt, dass die gegenwärtige Kontroverse über die Bedeutung von Träumen eine Auseinandersetzung enthält, die schon dreitausend Jahre alt ist.
a) Die frühe, nicht-psychologische Traumdeutung
Die Geschichte der Traumdeutung beginnt mit Versuchen, die Bedeutung der Träume nicht als psychologisches Phänomen, sondern als reale Erlebnisse der vom Körper losgelösten Seele oder als die Stimme von Geistern oder Gespenstern zu verstehen. So ist nach Auffassung der Aschantis ein Mann, der träumt, er habe mit der Frau eines anderen Geschlechtsverkehr gehabt, mit der üblichen Buße für Ehebruch zu bestrafen, weil seine und ihre Seele sexuellen Verkehr miteinander hatten. (Vgl. R. S. Rattray, 1947.) Die Kiwai Papuans von (Britisch) Neuguinea glauben, wenn es einem Zauberer gelinge, jemandes Seele im Traumzustand zu fangen, werde der Schläfer nie wieder aufwachen. (Vgl. G. Landtman, 1947.) Eine andere Form des Glaubens, dass die Vorkommnisse im Traum realer Natur seien, ist die Vorstellung, dass die Geister Verstorbener im Traum erscheinen, um uns zu ermahnen, zu warnen oder uns Botschaften anderer Art zu überbringen. Bei den Mohave- und bei den Yuma-Indianern zum Beispiel ist die Erscheinung von kürzlich verstorbenen Verwandten im Traum besonders gefürchtet. (Vgl. E. W. Gifford, 1947.)
Andere primitive Völker haben eine Vorstellung von der Bedeutung der Träume, die der Auffassung nähersteht, welche in den großen Kulturen des Ostens zu finden ist. [IX-229] Hier wird der Traum entsprechend einem festgelegten religiösen und ethischen Bezugssystem gedeutet. Jedes Symbol hat seine bestimmte Bedeutung, und die Interpretation besteht in der Auslegung dieser festgelegten Bedeutung der Symbole. Ein Beispiel für diese Art der Deutung gibt J. S. Lincoln (1947) in seiner Arbeit über die Navaho-Indianer.
Der Traum:
Ich träumte von einem sehr großen Ei aus einer steinharten Substanz. Ich schlug es auf, und heraus flog ein junger, aber bereits voll ausgewachsener Adler. Es geschah im Hausinneren, und der Adler flog hin und her und versuchte hinauszufliegen, doch konnte er nicht hinausgelangen, weil das Fenster geschlossen war.
Die Deutung:
Der Adler gehört zur Vogelgruppe der höheren Geister, die eine der drei verbündeten Geistergruppen ist, der Geister des Windes, des Blitzes und der Vögel, die alle auf dem Gipfel des San Francisco-Berges wohnen. Wenn diese Geister beleidigt werden, können sie große Verwüstung und Zerstörung anrichten. Sie können auch freundlich sein. Der Adler kann nicht hinausfliegen, weil du den Vogelgeist beleidigt haben musst, vielleicht weil du auf sein Nest getreten bist, oder vielleicht war es auch dein Vater, der ihn gekränkt hat.
Die frühe orientalische Traumdeutung gründete sich ebenfalls nicht auf eine psychologische Traumtheorie, sondern auf die Annahme, dass der Traum eine Botschaft darstellt, die den Menschen von göttlichen Mächten gesandt wird. Die bekanntesten Beispiele für diese Art der nicht-psychologischen Traumdeutung sind die Träume des Pharao, wie sie die Bibel berichtet. Als der Pharao einen Traum hatte, der ihn beunruhigte, schickte er hin „und ließ alle Wahrsager und Weisen Ägyptens rufen. Der Pharao erzählte ihnen seine Träume, doch keiner war da, der sie ihm hätte deuten können“ (Gen 41,8). Als er dann Josef auffordert, den Traum zu deuten, antwortet dieser: „Nicht ich, sondern Gott wird zum Wohl des Pharao eine Antwort geben“ (Gen 41,16). Der Traum war folgender (Gen 41,17-24):
In meinem Traum stand ich am Nilufer. Aus dem Nil stiegen sieben wohlgenährte stattliche Kühe und weideten im Riedgras. Nach ihnen stiegen sieben andere Kühe herauf, elend, sehr hässlich und mager. Nie habe ich in ganz Ägypten so hässliche Kühe gesehen. Die mageren und hässlichen Kühe fraßen die sieben ersten, fetten auf (...) Dann wachte ich auf. Weiter sah ich in meinem Traum: Auf einem einzigen Halm gingen sieben volle, schöne Ähren auf. Nach ihnen wuchsen sieben taube, kümmerliche, vom Ostwind ausgedörrte Ähren. Die kümmerlichen Ähren verschlangen die sieben schönen Ähren. Ich habe das den Wahrsagern erzählt, aber keiner konnte mir die Deutung sagen.
Josefs Deutung lautet (Gen 41,26-36):
(...) Die sieben schönen Kühe sind sieben Jahre, und die sieben schönen Ähren sind sieben Jahre. Es ist ein und derselbe Traum. Die sieben mageren und hässlichen Kühe, die nachher heraufkamen, sind sieben Jahre, und die sieben leeren, vom Ostwind ausgedörrten Ähren sind sieben Jahre Hungersnot. Das ist es, was ich meinte, als ich zum Pharao sagte: Gott ließ den Pharao sehen, was er vorhat. Sieben Jahre kommen, da wird großer Überfluss in ganz Ägypten sein. Nach ihnen aber werden sieben Jahre Hungersnot heraufziehen: Da wird der ganze Überfluss in Ägypten vergessen sein, und Hunger wird das Land auszehren. Dann wird man nichts mehr vom Überfluss im [IX-230] Land merken wegen des Hungers, der danach kommt; denn er wird sehr drückend sein. Dass aber der Pharao gleich zweimal träumte, bedeutet: Die Sache steht bei Gott fest, und Gott wird sie bald ausführen. Nun sehe sich der Pharao nach einem klugen, weisen Mann um und setze ihn über Ägypten. Der Pharao möge handeln: Er bestelle Bevollmächtigte über das Land und besteuere Ägypten mit einem Fünftel in den sieben Jahren des Überflusses. Die Bevollmächtigten sollen alles Brotgetreide der kommenden guten Jahre sammeln und auf Weisung des Pharao Korn aufspeichern; das Brotgetreide sollen sie in den Städten sicherstellen. Es soll dem Land als Rücklage dienen für die sieben Jahre der Hungersnot, die über Ägypten kommen werden. Dann wird das Land nicht an Hunger zugrunde gehen.
Der biblische Bericht besagt, dass der Traum als eine den Menschen von Gott offenbarte Vision angesehen wurde. Man kann den Traum des Pharao jedoch auch vom psychologischen Standpunkt aus betrachten. Es konnten ihm gewisse Faktoren bekannt sein, die möglicherweise die Fruchtbarkeit des Bodens in den nächsten vierzehn Jahren beeinflussen würden, doch war ihm dieses intuitive Wissen vielleicht nur im Schlaf zugänglich. Es ist Ansichtssache, ob der Traum so oder so zu verstehen ist. Jedenfalls zeigt der biblische Bericht – genau wie viele andere Berichte aus alten orientalischen Quellen –, dass man im Traum nicht etwas sah, was menschlichen Ursprungs war, sondern dass man darin eine göttliche Botschaft erblickte.
Besonders in Indien und Griechenland glaubte man, dass Träume noch eine andere Funktion besäßen, nämlich Krankheiten vorauszusagen. Man glaubte, dass bestimmte Symbole auf gewisse somatische Symptome hinweisen. Aber auch hier ist – ebenso wie im prophetischen Traum des Pharao – eine psychologische Deutung möglich. Wir dürfen annehmen, dass wir im Schlaf ein viel feineres Wahrnehmungsvermögen für bestimmte körperliche Veränderungen besitzen als in unserem wachen Dasein und dass wir solche Wahrnehmungen in das Traumbild übertragen, sodass sie uns dazu dienen können, Krankheiten zu diagnostizieren und bestimmte somatische Vorgänge vorauszusagen. (In welchem Ausmaß das zutrifft, müsste man durch eine umfangreiche Untersuchung von Träumen feststellen, die von bestimmten Personen geträumt wurden, bevor bei ihnen eine Krankheit zum Ausbruch kam.)
b) Die psychologische Traumdeutung
Im Gegensatz zur nicht-psychologischen Traumdeutung, die den Traum als Ausdruck „realer“ Vorkommnisse oder als Botschaft von Mächten außerhalb des Menschen auffasst, versucht die psychologische Deutung, den Traum als Ausdruck der eigenen Seele des Träumers zu verstehen. Diese beiden Methoden sind keineswegs immer voneinander getrennt. Ganz im Gegenteil finden wir bis zum Mittelalter viele Autoren, die beide Standpunkte miteinander verbinden und zwischen Träumen unterscheiden, die als religiöse Phänomene zu interpretieren sind, und solchen, die man psychologisch verstehen muss. Ein Beispiel dieser Methode gibt uns ein indischer Autor, der etwa zu Beginn der christlichen Zeitrechnung lebte:
Sechs Arten von Menschen gibt es, die Träume sehen – der Mensch von stürmischem [IX-231] oder von cholerischem oder von phlegmatischem Temperament, der Mensch, der unter eines Gottes Einfluss träumt, der dies unter dem Einfluss seiner eigenen Gewohnheiten tut, und derjenige, der es in der Art einer Prophezeiung tut. Und von diesen, o König, ist nur die letzte Art von Träumen wahr; alle übrigen sind falsch. (Aus The Questions of King Milinda; unbekannter Verfasser, niedergeschrieben im Norden von Indien zu Beginn der christlichen Zeitrechnung; zitiert nach R. Wood, 1947.)
Im Gegensatz zur nicht-psychologischen Deutung, wo der Traum so interpretiert wird, dass man bestimmte Symbole aus ihrem religiösen Kontext heraus versteht, befolgt unsere indische Quelle die Methode aller psychologischen Traumdeutung: Sie bringt den Traum mit der Persönlichkeit des...