Von der Faszination des inszenierten Lebens – Herausforderungen und Chancen der aktuellen Biographik1
Christian Klein
Biographien sind wie Pop-Songs: Ausgesprochen anpassungsfähig und vielgestaltig, unter den Hütern der reinen Lehre ihres Wirkungsbereichs schlecht beleumundet und nur unter großen Schwierigkeiten in Schubladen zu stecken. Den Protagonisten wird zudem Naivität oder mangelndes Reflexionsvermögen vorgeworfen und nicht zuletzt verspricht man sich relativ gute Verdienstchancen: Mit Lebensbeschreibungen lässt sich Geld machen, denn die Biographie ist eines der beliebtesten Genres auf dem Buchmarkt. An diesen Fels in der Brandung ökonomischer Unsicherheiten klammern sich heutzutage, da in den Verlags- und Zeitungshäusern kaum ein Stein auf dem anderen bleibt, viele Erwartungen. Ob die Verlage nun drucken, was die Menschen lesen wollen, oder ob es sich umgekehrt verhält, ist dabei zunächst einerlei – fest steht, dass die Popularität von Biographien ungebrochen ist. Und der Gipfelpunkt der Erfolgskurve ist noch längst nicht in Sicht.
So einfach es allerdings ist, die Beliebtheit von Biographien allgemein zu konstatieren, so schwer ist es, diese Popularität überzeugend zu erklären. Zwei Ansätze machen sich hier besonders Konkurrenz: Einerseits wird angesichts zunehmender Anonymität und Virtualisierung persönlicher Beziehungen der Wunsch nach Vorbildern, Verbindlichkeit und gültigen Orientierungsmustern herausgestrichen. Die Frage nach der Persönlichkeit ist auch zu einer Frage des Erfolgs geworden: Sage mir, wer du bist und ich sage dir, was du wirst. „Wer keinen Biographen findet, muss sein Leben selbst erfinden“, lautet ein Bonmot und diejenigen, die heute zu Lebzeiten keinen auftreiben, scheinen sich mit der Lektüre Erfolgreicherer zu trösten, sich dort eine Identität zu borgen. In dieser Perspektive ist die Biographie als Ausdruck zunehmender Identitätsverwischungen ein Krisenphänomen – was Siegfried Kracauer dem Genre schon 1930 attestierte.2 Der andere Versuch, die Beliebtheit der Biographie zu verstehen, setzt auf anthropologische Konstanten. Gemäß dem Apercu Pascal s „Was den Menschen am meisten interessiert, ist der Mensch“, wird es dann als Grundbedürfnis angesehen, dass man sich in Texten, die man liest, auf die Person, die sich – ob direkt oder indirekt – äußert, zurück beziehen kann. Das scheint bei der Biographie ohne weiteres möglich. Schließlich hat jede Lebensbeschreibung auch immer irgendwie mit der eigenen Person zu tun, denn der Unterschied zwischen der gelesenen und der gelebten Biographie ist eben allein der, dass das fremde Leben bereits aufgeschrieben wurde und das eigene (noch?) nicht. Aber auch das ist – zumindest potenziell – nur eine Frage der Zeit: „Every life has a story“, stellt das trivial eingängige Motto der US-amerikanischen Zeitschrift Biography klar.
So populär die Biographien in der Öffentlichkeit seit jeher sind, so skeptisch werden sie von den deutschsprachigen Intellektuellen beargwöhnt (wiewohl diese Skepsis allmählich abzunehmen scheint). Das zugrunde liegende Unbehagen scheint vor allem eine ‚germanische‘ Befindlichkeit zu sein; undenkbar wäre eine entsprechende Skepsis im anglo-amerikanischen Kontext. Als Erklärung könnte man sich hier mit klischeehaften Ausführungen zum unterschiedlichen ‚Nationalcharakter‘, zum deutschen Rubrizierungswahn oder zur deutschen Anhänglichkeit an klare Klassifizierbarkeit (der die Biographie als Genre zwischen den Disziplinen, zwischen E- und U-Literatur, sich entzieht) begnügen. Doch differenzierte Antworten auf die Frage, wieso die Biographie unter anglo-amerikanischen Intellektuellen so viel besser dasteht, findet man wohl eher, wenn man gesellschaftlichen Entwicklungen nachginge, denn auch auf diesem Gebiet wirken noch immer die Ausläufer der kollektiven wie individuellen Identitätskrise nach 1945. Der Zusammenbruch des nationalsozialistischen Regimes war auch für diesen Kontext das prägende Erlebnis. Die übergroße Mehrzahl der Menschen hatte die Gestaltung des eigenen Lebensweges ohne größere Widerstände jenen Agenturen und Instanzen des nationalsozialistischen Staates überlassen, die für die Determination der individuellen Entfaltungsmöglichkeiten und Strukturierung der persönlichen Zukunft zuständig waren. Der Staat bot ein Set möglicher Lebensverläufe an, aus denen man qua Zugehörigkeit zu verschiedenen Organisation wählen konnte, sodass die Entwicklung des eigenen Lebensweges für die nächsten tausend Jahre ebenso berechenbar schien wie jener des Nachbarn oder kommender Generationen. Das Ende der Nazi-Diktatur zwang fast jeden zu einer grundsätzlichen Änderung der eigenen Planungen und nötigte zu Arrangements mit neuen Perspektiven – unabhängig davon, ob man dies als Chance oder Schwierigkeit wahrnahm. Nach 1945 bot die deutsche Biographik daher ein desolates Bild, es herrschte eine Tendenz zum glättenden, Brüche kittenden, konventionellen Erzählen vor, die modernen Positionen (die sich in Deutschland in den späten 1920er Jahren zu entwickeln begonnen hatten) waren weitgehend verschüttet. Es nimmt nach den Erfahrungen der potenziellen Leserschaft, die den eigenen, gebrochenen Lebenslauf noch zu verarbeiten hatte, kaum Wunder, dass entweder der Wunsch bestand, im Rahmen der Lektüre geordneter Lebensläufen Orientierung und Vergessen zu finden, oder dass der anspruchsvollen Leserschaft das Genre unangemessen zur Darstellung moderner Realitäten und mithin obsolet erschien.
Die bislang vorherrschende Ausblendung der Biographie aus dem Blickfeld intellektueller Bedeutsamkeit hat die Chancen und Potenziale, die im biographischen Arbeiten stecken, verkannt und hat die Biographik einer Art Wildwuchs überlassen, was wiederum kritische Leser abstößt. Dabei müsste nur einiges an Gerümpel weggeräumt werden, um die Biographie als ein Genre zu etablieren, das in Kernbereiche aktueller geisteswissenschaftlicher Diskussionen vorstößt.
Biographien standen stets im Theoriediskurs ihrer Zeit und haben diesen auf verschiedenste Weise rezipiert und widergespiegelt, aber auch antizipiert. Biographen standen (bewusst oder unbewusst) stets in Verbindung mit den theoretischen Konzepten, die zu ihrer Zeit en vogue waren – ob es nun um Fragen der Beziehung des Einzelnen zur Gesellschaft ging, um Aspekte der vorbildlichen Lebensführung etc.
Es besteht weitgehend Einigkeit in der Auffassung, dass die theoretischen Strömungen, die zeitlich in den 1970er Jahren ihren Ausgang nehmen, einen fundamentalen Einfluss auf das biographische Arbeiten besaßen. Nach 1945 standen sich in den Literaturwissenschaften zunächst zwei unversöhnliche Konzepte gegenüber: Auf der einen Seite eine (noch im 19. Jahrhundert wurzelnde) stark autorzentrierte Position, in der die überkommene Form des (aus dem Positivismus hervorgegangenen) Biographismus gepflegt wurde, man also glaubte, das Werk unmittelbar aus dem Leben des Autors erklären zu können. Auf der anderen Seite stand die werkimmanente Interpretation bzw. der New Criticism, die den Autor allein als philologische Voraussetzung akzeptierten und für die Autonomie des Textes plädierten.
In den späten 1960er Jahren kamen neue theoretische Ansätze auf, die besondere Bedeutung für die Biographik-Diskussion hatten und sich unter das Schlagwort linguistic turn und der damit in Zusammenhang stehenden Debatte um die Funktion der Narrativik in der historiographischen Arbeit subsumieren lassen. Die Erkenntnis, dass philosophische Wahrheiten nicht analytisch ge-, sondern sprachlich erfunden werden, führte notwendigerweise zu einer Revision geisteswissenschaftlicher Positionen. Hayden White s These von der ‚Fiktion des Faktischen‘ hob schließlich die seit Aristoteles gezogene Grenze zwischen dem Geschichtsschreiber, der berichtet wie es tatsächlich war, und dem Literaten, der erzählt, wie es hätte sein können, endgültig auf und definierte den historischen Text als literarisches Artefakt. Diese Positionen wurden in den späten 1980ern vom New Historicism aufgenommen, weiterentwickelt und führten unter Einbeziehung von Theoremen Foucault s zu einer erneuten Betonung historischer Implikationen. Die werk immanente Interpretation bzw. der New Criticism, die den Text allein aus sich heraus verstanden wissen wollten und, da sie jede Einbindung in historische, gesellschaftliche oder auch biographische Kontexte ablehnten, quasi ahistorisch waren, verloren zunehmend ihren Status als maßgebliche Ansätze und wichen einer neuerlichen (allerdings nicht subjektzentrierten) Kontextualisierung.
Die skizzierten Theoreme wirkten sich deshalb auf die Biographik in besonderem Maße aus, da Lebensbeschreibungen gerade an der Schnittstelle von Historiographie, Literaturwissenschaft und Literatur stehen. Die Problematisierung ging dabei weit über Fragen der Konzeption und Darstellung hinaus und machte auch vor dem Selbstverständnis des Biographen nicht Halt. Es erschien nämlich fortan kaum mehr möglich, mit jenem althergebrachten Objektivitätsgestus aufzutreten und die Ergebnisse der Arbeit als letztgültige Wahrheit zu verkaufen.
Neben den Studien...