WO LIEGT MANEGG?
Der Stadtplan von Zürich verzeichnet unleugbar die Burgruine Manegg. Ich mußte das linke Seeufer entlangfahren und dann hoch über den Rand der Häuser hinaus zu diesem Punkt, der 623 Meter über dem Meer liegt. Allerdings sind die Wege dorthin nur gestrichelt eingezeichnet.
Die Anregung dazu kam vom Verleger. Ich hätte auch absagen können zugunsten einer Geschichte mit dem Titel »Die ferne Liebe«. Die sollte nun endgültig begraben sein. Es wäre eine gegenwärtige Geschichte geworden. Aber hatte die längst vergessene Manessewelt nicht auch vor allem mit Liebe zu tun? Ich wußte kaum etwas vom Ritter Rüdiger Manesse und seinem Sohn Johannes. Eingeprägt aus jener Zeit hatte sich mir allein das Jahr 1291.
Es gibt in Zürich einen Manesseplatz, eine Manessestraße, dann eine Manegg-Promenade und eine Maneggbrücke, weiter eine Hadlaubstraße und einen Hadlaubsteig. Ich mußte über die Maneggbrücke fahren, um ins Planfeld zu gelangen, in dem sich die Burgruine Manegg befand.
Schön sieht Zürich aus, wenn man auf der Rudolf-Brun-Brücke steht (Brun, Diktator zur Manessezeit).
Es gibt einen Friedhof Manegg, eine Manesse-Apotheke, ein Blumenhaus Manesse, sogar eine Automobilwerkstätte mit diesem ritterlichen Namen.
Nimmt man einmal an, aus all jenen Ländern, denen die im Codex versammelten Sänger oder Liedermacher oder Schlagertexter entstammen, führen die Autos vor – dann wäre halb Europa vertreten, trügen diese doch, falls die Nationen im einzelnen noch bestehen, die NationalitätskennzeichenA, B, CH, CS, D, DDR, FL, H, I, NL, PL, YU.
Die Schweiz ist das Herz Europas. Hat schon mein alter Primarlehrer gesagt. Ob er noch am Leben ist?
Zürich war damals, als der Codex so zwischen 1300 und 1340 entstand, eigentlich Ausland. Ich bin für die Schweiz nur sehr bedingt zuständig, da ich im Ausland lebe. Werde ich gefragt, wie es mit diesem oder jenem in der Schweiz bestellt sei, muß ich oft passen und sagen, ich wüßte nur, wie es vor Jahrzehnten in der Schweiz gewesen wäre. Sonst habe ich zu meiner alten Heimat ein etwas gebrochenes Verhältnis, stellte einst gar als nestbeschmutzender Jungautor ein veritables KZ auf den Weißenstein, den Hausberg meiner Geburtsstadt. Gerüchten zufolge war dies geplant gewesen für den Fall, daß die Deutschen gekommen wären. Im Sommer 1968, als ich mich zum allerersten Mal mit meinem Verleger traf im Café »Brésil« in Bern, hatte ich die Geschichte mit diesem KZ bei mir, die braune Vergangenheit der Schweiz war damals noch nicht salonfähig.
Jede Vergangenheit taugt nur als Vorwand für die Gegenwart. Die Erinnerung an das Jahr 1291 beging ich als Kind am I. August mit einem Lampion und mit Schweizerkrachern. Und ich freute mich darauf ähnlich wie auf den Sirup bei einem Sonntagsspaziergang. Aber wieso eigentlich wurde die Gründung der Schweizerischen Eidgenossenschaft, der sagenhafte Rütlischwur eingeschlossen, niemals zusammengebracht mit der gleichzeitig entstandenen Manessischen Handschrift? Oder liegt das so fern? Oder ist es wie Feuer und Wasser? Aber ist die Manessewelt das Wasser und der Rütlischwur das Feuer – oder umgekehrt? Nostalgische Erotik steht da gegen rebellische Politik. Aber es könnte ja sein, daß das Feuer der Liebe mehr wärmt als das längst erloschene des Rütlischwurs.
Wenn es einem in der Schweiz nicht passe, hieß es zur Zeit des Kalten Krieges und nicht nur in dessen heißester Phase, könne man ja auswandern oder direkt nach Moskau gehen. Ich bin ausgewandert und mit guten Gründen im Ausland geblieben auch dann noch, als sich mir die Gelegenheit zur Heimkehr geboten hätte. (Die wurde mir übrigens auch angeraten.) Die junge Universität nämlich, deretwegen ich ursprünglich ausgewandert bin, hat mich nach zehn Jahren treuen Dienstes an den Studenten auf die Straße gestellt. Die Studenten sprachen und schrieben von »standrechtlicher Hinrichtung«. Aber genau das war es ja: die Studenten hatten zu diesem Zeitpunkt nicht mehr viel zu sagen, und 1968 bot Stoff für allerhand lustige Anekdoten bei vorgerückter Stunde.
Ich war nun über vierzig und frei – vogelfrei. Im Vorwort oder prooemium darf der mittelalterliche Autor sagen, was er denkt. Ich sage es mit »Manesse«, das Mittelalter gewähre mir das Alibi dafür. Ich stand also schon etliche Jahre in aller Ruhe auf der ausländischen Straße, da meldete eben jene Universität der örtlichen Polizei, es bestünde der Verdacht, ich hätte der Universität gegenüber Bombendrohungen gemacht. Natürlich schmeichelt es jedem Autor, zumal dem Spruchdichter im Mittelalter, wenn er als gefährlich eingestuft wird. Und es gibt ja schließlich auch die völlig unmittelalterlichen Methoden, jemanden fertigzumachen – ohne Folter, ohne Scharfrichter, ganz ritterlich. Aber erstens sind Bomben nicht mein Stil, und zweitens stellte sich der Verdacht beim geschickt geführten Verhör recht schnell als haltlos heraus. Zum Glück leben wir nicht im Mittelalter.
Als ich im Ausland noch nicht auf der Straße stand, konnte ich mir ausländische Sujets durchaus leisten. Seither aber bin ich heilfroh, daß mich der Kanton Solothurn sponsert, trotz KZ, und die »Pro Helvetia«.
Auch ein Autor im Mittelalter konnte sich seine Sujets nicht einfach so frei aussuchen.
Gut.
Laut Stadtplan mußte ich mich im Planfeld D II befinden und damit auf Boden, der sicher teuer war bei der Seesicht mit Blocks für das gehobene Bürgertum. Vielleicht waren es Eigentumswohnungen. Es ist schön zu leben, wo man in Ruhe ewig wohnen kann, weil dies im Grundbuch eingetragen ist, und sieht man den See nicht vom Balkon aus, so muß man sich nur einen Steinwurf weit entfernen – wenn auch hier kaum je Steine geworfen werden –, und er liegt einem zu Füßen, selbst in der Nacht wegen der Lichter am dies- und am jenseitigen Ufer. Eine Schule war auch hier, mit Glaswänden, vollgestellten Fahrradständern und leerem Pausenplatz. Schule wozu. Für Wilhelm Tell oder für Minne wie Manesse? Es gibt »Wilhelm Tell für die Schule« von Max Frisch, den Mythos souverän und lässig zerpflückend. Als ich Schüler war und von ihm das erste Buch las, hat mich verblüfft, daß er die Schweiz überhaupt für literaturwürdig hielt, diese doch so hoffnungslos langweilige Schweiz, in der die Zeit zäh in der Luft zu kleben schien, wenn wir Jünglinge nach Schulschluß rauchend auf den Gehsteigrändern standen und klagten, es sei nichts los. Es war auch nichts los. Der die Vorlage geliefert hat für Schillers »Wilhelm Tell«, der Schweizer Geschichtsschreiber Johannes von Müller, hat im Jahr 1777 geäußert: »Das meiste erwarte ich von jener Zeit, in welcher nur noch die Alpen von diesem Land unverändert stehen werden. «
Ich fragte einen alten Mann mit. Hund, wo es hier zur Ruine Manegg gehe. Er wußte, daß es dort oben einen Brunnen gab, aber mit dem Auto gelangte man kaum dahin, und zu Fuß wären es »Stunden«. Ich zeigte ihm auf dem Stadtplan die gestrichelten Linien. Ja, sagte er, das seien nur Holzwege. Ich passierte die erste Tafel mit allgemeinem Fahrverbot und begegnete einer jungen Frau mit Hund, einem Pudel. Sie wußte überhaupt nichts von einer Ruine.
Ich hätte ja auch schon früher Gelegenheit gehabt, den Codex Manesse, auch genannt die »Große Heidelberger Liederhandschrift«, im Original zu sehen, damals anläßlich der Ausstellung, die von der Universitätsbibliothek Heidelberg veranstaltet wurde. Aber in mir sperrt sich einfach etwas gegen alles Museale, und ich ließ es sein. Jeden Tag sollen sie zwei andere Seiten aufgeschlagen haben. Doch bestellte ich mir den 688seitigen illustrierten Katalog zu jener Ausstellung.
Jedes Buch hat sein Schicksal. Den Codex Manesse verschlug es von Zürich auf verschlungenen Wegen nach Heidelberg, später nach Paris in die Bibliothèque royale und von dort dann wieder zurück nach Heidelberg. Zwischendurch, im Jahr 1746, gelangte er mit der Erlaubnis des französischen Königs und per Eilkurier von Paris nach Zürich in die Hände des Professors und Literaten Johann Jacob Bodmer (»Critische Abhandlung von dem Wunderbaren in der Poesie«). Auf ihn geht der Name der Manessischen Handschrift zurück. Allem Anschein nach entstand sie in Zürich im Kreis der Manesse. Vom Minnesänger Johannes Hadlaub nämlich enthält sie ein Gedicht, das besagt, die Manesse hätten viele schöne Lieder gesammelt: des hânt si gar vil edels sanges, /die herren guot, ze semne brâht. Ursprünglich muß der Codex in Holzdeckeln, an die Schließen angebracht waren, eingebunden gewesen sein, das hatte sich, entnehme ich dem Katalog, gerade bei solch umfangreichen Pergamenthandschriften über Jahrhunderte hindurch bewährt, in Paris jedoch band man ihn nach orientalischem Vorbild zwischen Deckel aus Klebepappe, die mit rotem Ziegenleder überzogen waren – eine farbige Fotografie...