1 Gesellschaftliche und gesundheitspolitische Relevanz von Mangelernährung – Die Bedeutung von Essen und Trinken in gesellschaftlicher Hinsicht
Magdalena M. Schreier
Nahrung ist die Grundlage menschlicher Lebensprozesse und hat auf sämtliche körperliche, psychische, soziale, wirtschaftliche und politische Dimensionen des menschlichen Lebens eine unmittelbare Wirkung. Soziale Systeme, gesellschaftliche Entwicklung und gesellschaftliches Zusammenleben funktionieren in enger Abhängigkeit vom Vorhandensein ausreichender Nahrungsmittel. So wird auch das Recht auf Nahrung als einer der selbstverständlichsten Bestandteile sozialer Beziehungen angesehen (Barlösius 1999).
Der scheinbar universale und selbstverständliche Anspruch auf ausreichend Nahrung ist als ein das Überleben sicherndes, fundamentales Recht, und im Artikel 25 der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der United Nation heißt es:
„... Jeder hat das Recht auf einen Lebensstandard, der seine und seiner Familie Gesundheit und Wohlergehen gewährleistet, einschließlich Nahrung, Kleidung, Wohnung, ärztliche Versorgung und notwendige Leistungen sowie das Recht auf Sicherheit im Falle von Arbeitslosigkeit, Krankheit, Invalidität oder Verwitwung, im Alter sowie bei anderweitigem Verlust seiner Unterhaltsmittel durch unverschuldete Umstände. ...“ (Office of High Commission for Human Rights 1948).
1.1 Prävalenz von Mangelernährung
Trotz der UN-Deklaration der Menschenrechte vor über 60 Jahren leiden nach Angaben des UN Millenium-Projects weltweit 800 Millionen Menschen an Hunger. Alle 3,6 Sekunden stirbt ein Mensch an Mangelernährung, die große Mehrzahl davon sind Kinder unter fünf Jahren (vgl. United Nations 2006).
Besonders ältere Menschen sind betroffen
Vor vollen Tellern am reich gedeckten Tisch zu hungern, das klingt unglaublich. Umso erschreckender ist die Anzahl derjenigen, die in unserer Wohlstandsgesellschaft trotz der ausreichenden Verfügbarkeit hochwertiger Lebensmittel und Nahrungsergänzungsstoffe mangelernährt sind. Davon betroffen sind vor allem kranke, pflegebedürftige und alte Menschen, die sich nicht mehr selbstständig versorgen, ihre Wünsche nicht mehr hinreichend äußern können und bei der Alltagsbewältigung, wie z. B. beim Zubereiten von Mahlzeiten oder beim Essen und Trinken, auf fremde Hilfe angewiesen sind (s. Kapitel 14).
Prävalenz in Krankenhäusern
Angesichts der hohen Ansprüche unserer Gesundheitsversorgung und der therapeutischen Möglichkeiten, selbst bei hochbetagten Menschen komplizierte Eingriffe und Behandlungen mit hoher Erfolgsquote durchführen zu können, verblüfft das Ergebnis einer Studie an Krankenhäusern in Deutschland und Österreich, wonach von 1.886 Teilnehmern nahezu 28 % Patienten mangelernährt waren, davon mit 43 % vor allem die über 70-jährigen (Pirlich et al. 2005, 2006). In einer weiteren Studie in zwei deutschen Universitätskrankenhäusern hatten 23 % von insgesamt 1.308 Patienten mit internistisch gastroenterologischen Erkrankungen eine Mangelernährung (Rosenbaum et al. 2007).
Es muss allerdings auch davon ausgegangen werden, dass Patienten eine Mangelernährung erst während ihres Aufenthalts im Krankenhaus entwickeln, was auch auf Krankheiten und Behandlungen zurückzuführen ist, die sich ungünstig auf den Ernährungszustand auswirken (z. B. intensivmedizinische Behandlungen, große Operationen, Chemotherapie). Unter Umständen kann die Gefahr einer Mangelernährung im Rahmen der Krankenhausbehandlung nicht ganz abgewendet werden, wenn ernährungsmedizinische Maßnahmen nicht in vollem Umfang genutzt oder wirksam werden können (z. B. Gefahr der Hyperalimentation bei kritisch kranken Intensivpatienten, vgl. Lochs et al. 2003).
Häufig zeigt sich bei betagten und hochbetagten Menschen, die z. B. aufgrund einer Fraktur oder Prellung nach einem Sturz eingewiesen werden, nach genauerer Untersuchung, dass es sich um ein Geschehen aufgrund einer bis dahin noch unbekannten Mangelernährung handelt.
Daten, die genaue Auskunft über die Inzidenz, d. h. das Neuauftreten von Mangelernährung bei Patienten während des Aufenthalts in deutschen Krankenhäusern geben, stehen noch nicht in ausreichendem Maße zur Verfügung. Eine Studie von Whirter und Pennington zeigt allerdings sehr eindrücklich, dass die Inzidenz von Mangelernährung im Rahmen einer Krankenhausbehandlung ein ernst zu nehmendes Problem ist. Es wurden 112 Patienten des Gesamtkollektivs nachuntersucht, wobei 69 % der übergewichtigen Patienten von ungewolltem Gewichtsverlust betroffen waren. Von den normalgewichtigen Patienten verloren 39 % an Gewicht, und von den bereits als mangelernährt identifizierten Patienten hatten sogar 75 % erheblich an Gewicht verloren (McWhirter & Pennington 1994).
Prävalenz in der Langzeitversorgung
Angesichts der kürzeren Verweildauer von Krankenhauspatienten dürfte es allerdings schwierig sein, die tatsächliche Inzidenz von Mangelernährung im Zusammenhang mit einem Krankenhausaufenthalt festzustellen. Mit der zunehmenden Anzahl pflegebedürftiger älterer Menschen in der stationären Langzeitpflege ist auch dort das Problem der Mangelernährung zunehmend von Bedeutung. Eine Untersuchung in einem deutschen Altenheim ergab bei 57 % der 114 teilnehmenden Bewohner eine Mangelernährung (Norman et al. 2006). In einer Studie, die in 29 deutschen Pflegeheimen mit insgesamt 2.393 Probanden durchgeführt wurde, schwankt die Anzahl der von einer Mangelernährung betroffenen Bewohner je nach Indikatoren bzw. verwendeten Erfassungsinstrumenten zwischen 8 % und 20 % (Tannen et al. 2008). Die Pilottestung des NutritionDay in deutschen und österreichischen Altenpflegeheimen mit insgesamt 2.137 Studienteilnehmern ergab eine Prävalenz der Mangelernährung von 16 % (Valentini et al. 2009). Nach der ErnSTES-Studie, die in zehn deutschen Altenpflegeheimen mit 773 Bewohnern durchgeführt wurde, waren je nach Indikator zwischen 6 % und 11 % von einer Mangelernährung betroffen (Heseker et al. 2008). Eine umfassende Darstellung der Mangelernährung in deutschen Pflegeheimen ist mangels ausreichender repräsentativer Daten auf der Basis standardisierter und bei alten Menschen validen Erfassungsparametern noch nicht möglich.
Die meisten alten Menschen kommen erst in die Pflegeeinrichtungen, wenn eine Versorgung zuhause nicht mehr möglich ist, weil bereits viele Beeinträchtigungen eine umfassende pflegerische Versorgung erforderlich machen. Deshalb wird nicht selten bereits beim Einzug in die Einrichtung eine Mangelernährung festgestellt.
Prävalenz im ambulanten Bereich
Zur Ernährungssituation und Häufigkeit von Mangelernährung bei betagten und hochbetagten Menschen in Deutschland, die weitgehend selbstständig in ihrem häuslichen Umfeld leben, liegen ebenfalls keine ausreichend aktuellen Daten vor. Allerdings muss davon ausgegangen werden, dass auch in diesem Setting Mangelernährung ein Problem ist, das häufig erst viel zu spät erkannt wird. Dafür sprechen auch die Untersuchungsergebnisse einer Langzeitstudie zur Prävalenz und Inzidenz von Mangelernährung bei älteren zuhause lebenden Menschen in Schweden. Die Basiserhebung zu Beginn dieser Langzeituntersuchung bei 576 Teilnehmern ergab eine Prävalenz von 14 %, wobei 19 % der Frauen und 11 % der Männer betroffen waren. Fünf Jahre nach der ersten Erhebung hatten 7–16 % der inzwischen 80-jährigen Menschen eine Mangelernährung entwickelt, wobei Frauen häufiger betroffen waren als Männer. Die Ergebnisse der Follow-up-Untersuchungen zeigen mit zunehmendem Alter eine deutlich höhere Gefahr für eine Mangelernährung. Dabei war ein von den alten Menschen subjektiv empfundener schlechter Gesundheitszustand, gefolgt von Depressionen, mit einem deutlich höheren Risiko für Mangelernährung verbunden (Johansson et al. 2008).
1.2 Folgen von Mangelernährung: Leiden und Kosten
Die Folgen einer Mangelernährung wirken sich auf sämtliche Stoffwechsel- und Organfunktionen aus, es kommt häufiger zu Komplikationen und es ist mit einer erhöhten Multimorbidität und Mortalität zu rechnen (Volkert 1997; Incalzi et al. 1994, 1997; Sullivan & Walls 1994). Da sich Ernährungszustand und Gesundheitszustand gegenseitig beeinflussen, entsteht ein Teufelskreis, von dem sich insbesondere schwerkranke und alte Menschen nur sehr schwer erholen können (Volkert 1997; Müller et al. 2007). Die Betroffenen leiden jedoch nicht nur an den gesundheitlichen Folgen der Mangelernährung. Bereits wenige Tage, die ein Patient unzureichend ernährt ist, wirken sich erheblich auf seine Lebensqualität aus (Norman et al. 2006a, 2006b).
Die Folgen einer Mangelernährung zu behandeln ist sehr mühsam, und vor allem bei alten Menschen ist ein Gewichtsverlust kaum auszugleichen (Roberts et al. 1994, Roberts 2000). Angesichts der gesundheitlichen Auswirkungen einer Mangelernährung ist auch mit erheblichen Kosten für die aufwendigen Behandlungen zu rechnen.
Gesundheitsökonomische Auswirkungen
In einer Untersuchung zur Abschätzung der Kosten für die Folgen von Mangelernährung in Deutschland ergab sich eine Gesamtsumme von knapp 9 Mrd. –C, eine Größenordnung wie für die Folgen von Adipositas. Für Behandlung und Versorgung fallen allein im Krankenhaus 56 %, in der Pflege 26 % und in der häuslichen Pflege 15 % zusätzliche Kosten durch Mangelernährung an. Die Berechnungsmodelle der Studie zeigen bis 2020 einen weiteren Anstieg des gesundheitsökonomischen Problems der Mangelernährung um 22 % auf 11 Mrd. –C (Müller et al. 2007).
1.3...