Vorwort
»Er besaß alle Eigenschaften zu einem großen Staatsmann – einen lebhaften Geist, ein erstaunendes Gedächtnis, eine unermüdete Arbeitsamkeit; er wusste die Menschen vollkommen zu beurteilen und nach ihren Talenten zu gebrauchen.«
Louis-Sébastien Mercier, Philipp der Zweite.
König von Spanien (1785),
übersetzt von Friedrich Schiller
Das Portrait Mao Zedongs hängt bis heute an zentraler Stelle über dem Eingang zur verbotenen Stadt in Peking, dem Symbol der Staatlichkeit der Volksrepublik China. Wie das Bild dieses Mannes dorthin gelangte und dort blieb, ist das Thema dieses Buches. Manche fragen, warum dieses Bild dort hängt, werden diesem Manne doch Abermillionen Hungertote zu Zeiten des »Großen Sprungs nach vorn« und die Opfer und das Leid der Kulturrevolution angelastet. Die Kolumnistin Long Yingtai sprach dies aus, als sie von einem Freund berichtete, der sich ein riesiges Mao-Bild von Andy Warhol, Mao mit knallrosa Lippen, in die Wohnung gehängt hatte: »Das Mao-Bild ist ein Mosaikstein seiner Jugendzeit, eine leise Erinnerung an seinen jugendlichen Idealismus oder sogar ein leichter Anflug von Selbstironie im reifen Alter. Wie auch immer, für ihn ist das Mao-Bild ein Bild von Mao. Für mich ist es das nicht. Ich sehe den Mann darin, konkret und gegenwärtig, und von seinen Händen trieft Blut. Guter Gott, dachte ich, wie sollte ich ihm nur meine Gefühle verständlich machen? Ich sagte zu ihm: ›Würdest du auch ein Bild von einem Hitler mit knallrosa Lippen in dein Wohnzimmer hängen, lieber Freund?‹«1
In diesem Buch soll das Leben jenes Mannes dargestellt werden, der Lehrer werden wollte und dann doch merkte, dass er seinen Einsichten nur gerecht werden könne, wenn China sich von Grund auf verändert. Dieser Sohn Chinas hatte viele Seiten: Er war und blieb ein Träumer, ein Visionär, er war eifrig und eigensinnig, zurückhaltend und impulsiv, charmant und verschlossen, gelegentlich auch zynisch und manchmal verzweifelt. Als junger Mann wurde er zum Revolutionär. Zunächst eher ein Außenseiter, ließen ihn nach einigen Jahren seine Umsicht, sein Geschick und seine Menschenkenntnis zum unbestrittenen Kopf der Revolution Chinas werden, und er wurde zum wichtigsten Akteur von dessen Erneuerung. Die zentrale Orientierungsfigur hierfür ist er bis heute geblieben, und das von ihm und seinen Mitstreitern begonnene Projekt, China eine angemessene Stellung in der Welt zu verschaffen, steht weiterhin im Zentrum des Handelns der chinesischen Staats- und Parteiführung.
Früh nahm er wahr, wie China von einer neuen Zeit der Industrialisierung und Technik ergriffen wurde, wie der damit verbundene Rohstoffhunger das Land erfasste und es Teil einer Weltgesellschaft zu werden begann. Diese stand im Zeichen der Grenzüberschreitungen: So strebte Japan in Ost- und Südostasien danach, Großmacht zu werden, indem es unter anderem Maos Heimatland versklavte, in Europa führten die Staaten Krieg, demütigten sich, und neueste europäische Ideen versprachen in Russland zur Grundlage einer besseren Welt zu werden. Ähnlich wie die meisten wachen jungen Menschen Chinas erkannte Mao in Bildung und Erziehung einen Weg, um Kraft für die aktive Beteiligung an Umwälzungen und Veränderungen zu schöpfen.
Seine Heimat zu befrieden und ihre Menschen zu befreien, nicht aber ein großes Reich zu schaffen, war zunächst sein Ziel. Dass es am Ende er selbst sein würde, der das zerteilte China im Wesentlichen in den Grenzen des untergegangenen Mandschu-Reiches zusammenführte, war lange nicht zu ahnen. Er wollte vielmehr in überschaubaren Republiken eine neue Gesellschaft aufbauen. Es gab für die Modernisierung und die Neuformierung Chinas keine Blaupause, und es spross eine Vielfalt an Ideen und Konzepten. Lange blieben solche Vorstellungen und Visionen unerfüllt. Erst die Gründung der Volksrepublik am 1. Oktober 1949 und der Beginn einer gesellschaftlich-politischen und wirtschaftlichen Modernisierung sollten dann ein neues Blatt in der Geschichte Chinas aufschlagen. Der in einer neuen Ordnung erstrebte Fortschritt, insbesondere die Neuverteilung von Landnutzungsrechten und die Durchsetzung des Führungsanspruchs der Kommunistischen Partei, entfesselte in vielfältiger Weise Gewalt und führte zu neuem Unrecht. Die das ganze Land in Bewegung bringenden und in Unruhe stürzenden Kampagnen während der ersten zwei Jahrzehnte der Volksrepublik, als »Großer Sprung nach vorn« und »Kulturrevolution« bekannt, sollten den Fortschritt beschleunigen und den Machterhalt sichern – sie brachten Elend, Willkür und Brutalität. Angesichts der Erfahrung dieser Katastrophen gehört es zu den erstaunlichsten Erscheinungen in der Geschichte des 20. Jahrhunderts, dass Mao weiterhin die verehrte Zentralfigur Chinas geblieben ist. Der Grund hierfür liegt darin, dass die von ihm und seinen Mitstreitern für China angestrebte Entwicklungsrichtung sich im Prinzip bis heute als Erfolgsweg erweist.
Orientierung am Wandel
In den sich rasch wandelnden innerchinesischen wie globalen Konstellationen des 20. Jahrhunderts verschoben sich die Rahmenbedingungen für China immer wieder aufs Neue. Und immer wieder fand sich Mao Zedong vor neuen Herausforderungen, war häufig isoliert – und stellte sich dann mit frischer Kraft und manchmal mit Ranküne erneut an die Spitze der Politik und der Umgestaltung Chinas. Auch am Ende der vorliegenden Darstellung werden viele Fragen zur Charakterisierung dieses Mannes offen bleiben. Sein Bild bleibt schillernd, sein politischer Standpunkt lässt sich schwer festnageln, denn bei der Suche nach einer Fortentwicklung Chinas richtete er sich nicht nach Partei, Büchern oder Ideologien, sondern machte die Tatsachen zum Ausgangspunkt seines Handelns, um so die von ihm vorgefundene Wirklichkeit zu verändern. So liest sich sein Leben wie die Einübung des Gedankens, dass China jenseits aller Autoritäten und aller vorgefertigten Vorstellungen eine Freiheit zustehe, wie es sie noch niemals zuvor gegeben hatte. In diesem Sinne war Mao Zedong ein Visionär, der von der großen Befreiung träumte – wie viele Menschen im 20. Jahrhundert.
Es mag andere Optionen für China gegeben haben; gerade deswegen hadern auch viele mit dem von Mao beschrittenen Weg. Manche stellen ihn »in die Reihe der großen politischen Massenmörder des 20. Jahrhunderts«2, doch übersehen sie, dass er selbst die Unauflösbarkeit der Paradoxien erkannte und um die Unabschließbarkeit geschichtlicher Prozesse wusste. Es spricht manches für die Vermutung, dass nicht Mao dem sich erneuernden China seinen Willen aufzwang, sondern dass lediglich er es war, der die größte Umsicht und die entscheidende Bestimmtheit hatte, den Pfad der Erneuerung herauszufinden und zu beschreiten – und damit weniger als Diktator denn vielmehr als Vollstrecker von Handlungsoptionen begriffen werden muss, die den weiteren Aufstieg Chinas überhaupt erst ermöglichten. Ob er dabei die Entwicklungen, die nach seinem Tode folgten, voraussah, oder ob er sich im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts nicht vielleicht doch in einem ihm fremden China wiedergefunden hätte, bleibt offen. In China selbst gibt es nicht wenige, die überzeugt sind, das heutige China entferne sich von den Vorstellungen seiner Gründergestalt. Nach wie vor wird die Gestalt Maos immer wieder verstellt durch die Propagandabilder und einen Mao-Kult, dem zeitweise Abermillionen von Chinesen huldigten und dem viele bis heute anhängen. Dabei avancierte er dennoch nicht zur moralischen Autorität, nach der China bis heute sucht und die inzwischen wieder im Typus des unbestechlichen Beamten aufscheint. Vielmehr dient er mit seinem Leben als Projektionsfläche einer »Heroisierung der revolutionären Unruhe«, und seine Gestalt fördert eine »Verklärung der Ruhelosigkeit«.3 Ob und unter welchen Voraussetzungen und Bedingungen Mao Zedong ein guter Herrscher genannt werden könnte, ist kaum zu beantworten.
Eines aber war ihm seit den ersten Einblicken in die Welt der Politik deutlich: dass es Kampf (douzheng) geben werde und dass dieser unausweichlich sei. Diese Einsicht, die Betonung eines vitalistischen Zuges und der eigenen Willenskraft, wurde zu seinem Lebensmotto. Damit stand Mao in seiner Zeit im frühen 20. Jahrhundert nicht allein. Seine Diagnose war jener in der Zeit des Ersten Weltkrieges formulierten Überlegung Max Webers zur Stellung des Einzelnen in der Welt verwandt, dass er nichts anderes erfahren kann als »den Kampf zwischen einer Mehrheit von Wertreihen, von denen eine jede, für sich betrachtet, verpflichtend erscheint«. Demnach hat der Einzelne »zu wählen, welchem dieser Götter, oder wann er dem einen und wann dem anderen dienen will und soll. Immer aber wird er sich dann im Kampf gegen einen oder einige der anderen Götter dieser Welt … finden.«4 Um die Wahl zu treffen und den Kampf zu bestehen, standen Selbsterziehung, Selbstertüchtigung und Selbststärkung für Mao und seine Gefährten im Vordergrund.
Mao war eine der...