2. Werk, Schrifttum und Verbreitung
Maria Montessori ist international ausschließlich auf dem Gebiet der Pädagogik bekannt geworden. Für den hier gegebenen Zusammenhang sollen daher nur ihre der Pädagogik gewidmeten Schriften behandelt werden.
Maria Montessori erwies sich auf ihren zahlreichen internationalen Vortragsreisen und Ausbildungskursen als eine glänzende Rhetorikerin. Ihre Sprache war metaphernreich, ihr Vortrag durch viele Beispiele außerordentlich lebendig. Ihren Reden lagen meist keinerlei schriftliche Aufzeichnungen zugrunde. Einerseits schilderte sie ihre Erkenntnisse und die darauf gegründeten Folgerungen für die Praxis, andererseits waren ihre Vorträge leidenschaftliche Appelle zur Entdeckung des Kindes (Buchtitel).
Die öffentlichen Vorträge (u.a. auch Radiosendungen, z.B. 1935 in Barcelona) wurden von Teilnehmern mitgeschrieben, in andere Sprachen übersetzt, vereinzelt von Montessori redigiert und teilweise Jahre oder Jahrzehnte später veröffentlicht. So ist das Buch Frieden und Erziehung aus Vorträgen, die sie zu unterschiedlichen Zeiten und an verschiedenen Orten gehalten hat, zusammengestellt (Genf 1932, Brüssel und Amsterdam 1936, Kopenhagen 1937 und London 1939). Die Mitschriften des theoretischen Kursabschnittes von 1944/45 in Ahmedabad (Indien) bilden die Grundlage des Buches Das kreative Kind – der absorbierende Geist. Einige Passagen in verschiedenen Büchern und das gesamte Buch Das kreative Kind wurden erst nach mehrfachen Rückübersetzungen und der Autorisierung Montessoris veröffentlicht und erst Jahre später ins Deutsche übersetzt. Die große Zahl der in vielen Ländern verstreuten Texte bildet noch heute die Grundlage für neue Editionen, wobei eine Systematik nicht durchgängig zu erkennen ist. So finden sich vereinzelt Beiträge in Sammelschriften, die an anderer, früher veröffentlichter Stelle und in einem anderen Zusammenhang bereits vorliegen, um die Systematik eines Problemfeldes zu bündeln und zu vervoll ständigen.Die Editionsarbeit weiterer Schriften wird mit der Übersetzung ins Deutsche – und mit Erlaubnis der AMI – weitergeführt, denn noch längst sind nicht alle Skripten veröffentlicht. So konnte Schulz-Benesch sagen, daß die Bücher bzw. die gedruckten Äußerungen Montessoris mit ziemlicher Sicherheit nur ein kleiner Teil dessen sind, was an schriftlich festgehaltenen Aussagen Montessoris vorliegt.
Maria Montessoris Persönlichkeit, ihre italienische Sprachgewalt und ihre Überzeugungskraft weisen eine Diskrepanz zu ihren Schriften auf. Die Schriftsprache kann eben nur unbefriedigend die persönliche Wirkung wiedergeben. Montessori war keine besonders prägnante pädagogische Schriftstellerin; dennoch sind viele ihrer niedergeschriebenen Aussagen nach wie vor hochaktuell.
Ihre ersten drei Bücher Il metodo … (1909; deutsch: Selbsttätige Erziehung im frühen Kindesalter, 1913), L’autoeducazione … (1916; deutsch: Montessori-Erziehung für Schulkinder, 1926 – später Schule des Kindes, 1976) und Mein Handbuch (deutsch 1922) schildern theoretisch und praktisch die Erlebnisse und Beobachtungen im Kinderhaus und in der Grundschule mit den Voraussetzungen, den Bedingungen, dem Material und den pädagogischen Konsequenzen. Die Schwerpunkte liegen auf den Anleitungen für die Praxis. Die theoretische Fundierung folgt gleichsam nur beiläufig.
Bis etwa 1920 entstanden auch Montessoris religionspädagogische Schriften. Auch bei ihnen hat die Einbeziehung der Praxis Vorrang. Diese Werke schrieb sie – unter Mitarbeit von Anhängern – in italienischer Sprache nieder. Die Schriften verstehen sich als Anweisungen für die Praxis, von den Rezipienten wurden sie hingegen ausschließlich als Theoriebeiträge mißdeutet. Das geschieht teilweise auch heute noch. Besonders in Deutschland entzündete sich die Kritik an Montessoris Pädagogik fast nur anhand ihres ersten Buches Selbsttätige Erziehung … Die der Praxis zugehörigen Schlußfolgerungen unterblieben, da die eigentliche Montessori-Praxis erst relativ spät und regional begrenzt einsetzte (Berlin und Jena vor dem Zweiten Weltkrieg). Die eingeschränkte Quellenlage führte in Deutschland zu zahlreichen Mißverständnissen und daraus resultierenden Kritikpunkten. Die praktische Arbeit in Montessori-Einrichtungen und auch die Weiterentwicklung bestimmter Themenbereiche (z.B. Kosmische Erziehung) kennt kaum ein Kritiker aus eigener Beobachtung und Erfahrung. Dieser verengte Blickwinkel ist aber nicht neu. Montessoris Schriften provozieren geradezu diese Vorurteile, und das war bereits seit dem Erscheinen ihres ersten Buches in Deutschland so.
Worin liegen nun die Mißverständnisse und Kritikpunkte?
Während Montessoris Pädagogik international bereits vor dem Zweiten Weltkrieg weite Verbreitung fand, hielt die Montessori-Praxis in Deutschland erst nach 1946 langsam Einzug in die Erziehungsstätten. Zwar sind bereits in den 20er und zu Beginn der 30er Jahre Versuche unternommen worden, in vorschulischen Einrichtungen und in den Schulen nach dieser Pädagogik zu arbeiten. Eine weite Verbreitung gab es jedoch nicht. Dieser Mangel an praktizierter Montessori-Pädagogik kommt den Kritikermeinungen zugute, zumal die Montessori-Pädagogik von der Praxis lebt.
Die allgemein akademisch anerkannte Lehrmeinung geht davon aus, daß zunächst das theoretische Fundament geschaffen werden muß, erst dann kann die Praxis folgen. Montessori ging jedoch in der Regel den entgegengesetzten Weg. Aus den Beobachtungen von Kindern, ihren Reaktionen und Verhaltensweisen zog sie Konsequenzen für die Praxis. Die Theorie entwickelte sie erst nach diesen Erlebnissen und Erfahrungen. Ihre Vorgehensweise entsprach nicht der akademischen Norm, und eben dies hat die Kritik provoziert.
Hinzu kam die Flut von Artikeln, die zum Teil einen unfruchtbaren Dogmenstreit auslöste und seit dem Erscheinen von Montessoris erstem Buch mit nationalistischen – ja sogar rassistischen – Äußerungen versehen war. Der Titel eines Artikels lautet beispielsweise „Gegen die Ausländerei in der Pädagogik“, gemeint ist die Montessori-Pädagogik. Er erfaßt sehr genau die fatale Tendenz der Kritikermeinungen. Vehement wird die Rückkehr zu Fröbels Lehrmeinung und zu der anderer deutscher Pädagogen gefordert.[1] Bis zum Machtantritt der Nationalsozialisten mangelte es an offizieller Primärliteratur. Die KursteilnehmerInnen brachten zwar Skripten mit nach Hause in ihre Heimat(länder), diese waren aber der Öffentlichkeit nicht zugänglich.
Das erklärte Erziehungsziel der Nationalsozialisten widersprach dem von Montessori angestrebten vollständig. Von 1936–45 wurden alle deutschen Montessori-Einrichtungen geschlossen. Auch der Druck von Primär- und Sekundärliteratur kam nicht zustande. Die gesamte Montessori-Pädagogik wurde gleichsam ausgemerzt.
Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es zuerst zaghafte Anfänge, die Montessori-Pädagogik in das deutsche – von den Alliierten kontrollierte – Schulsystem zu integrieren, dafür setzten sich vor allem Helene Helming in Nordrhein-Westfalen und Irene Dietrich in Berlin ein. Ein weiterer Schwerpunkt lag in Frankfurt/Main. An diesen Orten hatten „alte“ Montessorianerlnnen die Erziehungsvorstellungen über die Nazizeit hinaus bewahrt. Ihren Initiativen ist der relativ rasche Neubeginn zu verdanken. Nachdem auch der Mangel an Primärliteratur in den 60er Jahren beseitigt wurde, fand diese Pädagogik zunehmend Eingang auch in deutsche Erziehungsstätten, doch nur in den alten Bundesländern. Die Montessori-Pädagogik entsprach in keiner Weise den staatlichen Erziehungszielen der DDR und wurde deshalb totgeschwiegen bzw. extrem verzerrt erwähnt (Eliteschulung).
Neben den erwähnten theoretischen Angriffspunkten auf Montessoris Erziehungstheorie machen es ihre Schriften dem unvoreingenommenen Leser nicht leicht, Zugang zu ihrem Erziehungsansatz zu finden. Es liegt kein Buch vor, das den Aufbau ihrer Theorie systematisch darlegt. Häufig fehlen die Kapitelüberschriften oder aber sie wirken in der Formulierung und Reihenfolge relativ beliebig. Selten verfügen die Bücher über ein Register. Auch die Auseinandersetzung mit der Montessori eigenen Begrifflichkeit macht Mühe.
Mit Rückgriff auf die kritischen Einwände gegen ihren pädagogischen Ansatz wird die Diskrepanz zwischen Montessoris theoretischen Forderungen und der Praxis deutlich (z.B. Gehorsam, Lob und Tadel, Arbeit und Spiel).[2]
Trotz dieser schwerwiegenden Vorwürfe erfreut sich die Montessori-Pädagogik nicht erst in den letzten Jahren zunehmender Verbreitung. Der Grund hierfür ist mehr in der überzeugenden und sich weiter entwickelnden Praxis als in der Theorie zu suchen.
So gibt es heute – fast fünfzig Jahre nach Maria Montessoris Tod – in mindestens 38 Ländern auf allen Kontinenten Erziehungseinrichtungen, die nach Montessoris Pädagogik arbeiten.[3] Führend in der Montessori-Arbeit sind die USA, die Niederlande und Ceylon. Wachsendes Interesse kann auch in Osteuropa verzeichnet werden. Totalitäre Staatsformen...