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E-Book

Mit Maria Montessori im Kinderhaus

Expeditionen in die Kinderseele

AutorGernot Uhl
Verlaghockebooks: e-book first
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl90 Seiten
ISBN9783957512239
FormatePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis2,99 EUR
Montessori mal anders: Die berühmte Pädagogin sitzt im Kreis ihrer Kinder und erklärt, wie man sich die Nase putzt. Wenn Rotznasen laufen, sind die Großen zwar schnell beim Schimpfen, aber weit weniger engagiert dabei, zu erklären, was man dagegen tun kann. Maria Montessori hat dagegen auf vielen Expeditionen in die Kinderseele erkannt, dass man den jungen Menschen am besten gerecht wird, wenn man sie als kleine Persönlichkeiten ernst nimmt. Und ihre jungen Zuhörer danken es ihr mit begeistertem Applaus: Sie hängen gebannt an Montessoris ihren Lippen (oder besser gesagt: an ihrer Nase), als sie vorführt, wie man gescheit mit einem Taschentuch umgeht. Dieses E-Book aus der »Bibliothek der Wagemutigen« nimmt Sie mit in Maria Montessoris Lebensgeschichte von Kinderliebe und Karriereplänen: Träumen Sie mit dem kleinen Mädchen von Berufen, die Frauen im 19 Jahrhundert noch verschlossen sind, erobern Sie mit der anmutigen Medizinstudentin die Männerwelt und folgen Sie dem Fräulein mit Doktorhut auf ihrem Weg von der Wissenschaft über die Arbeit mit geistig zurückgebliebenen Kindern bis zum Weltruhm als gefeierte Reformpädagogin.

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Leseprobe

Ein Fräulein von Welt


Die eigentliche Siegesfeier steigt zuhause. Die erste Ärztin Italiens sucht die Nähe ihrer Familie, die ihr viel bedeutet. Vor allem von ihrer Mutter hat sie Wärme und Geborgenheit erfahren. Maria Montessori ist ein Familienmensch. Sie spürt, dass sie allmählich selbst in die Lebensphase kommt, in der andere Frauen eine Familie gründen, Kinder bekommen und sie frei von Arbeitszwängen aufziehen. Doch mehr als ihren männlichen Kollegen macht Maria Montessori die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu schaffen. Denn sie ist auch ein ehrgeiziger Karrieremensch. Und jetzt, da sie endlich gegen alle Widerstände ihr Medizinstudium abgeschlossen hat, liegt vor ihr die Herausforderung, sich im Berufsleben zu beweisen: Sie muss zeigen, dass sie nicht nur in der Theorie mithalten kann, sondern auch in der Praxis.

Das ist der Fluch der mutigen Tat. Wer einmal etwas Außergewöhnliches erreicht, von dem werden immer neue Glanzleistungen erwartet: Als Studentin hat sie der Männerwelt getrotzt. Nun setzt eine ganze Generation von Frauen ihre Hoffnungen in die junge Ärztin. Die aufstrebenden Frauen suchen nach Vorbildern, die für sie sprechen können. Maria Montessori ist so ein Vorbild und sie ahnt auch, warum: »Meine Berühmtheit kommt so zustande: Ich wirke zart und ziemlich schüchtern, und man weiß, dass ich Leichen ansehe und berühre, dass ich ihren Geruch gleichgültig ertrage, dass ich nackte Körper ansehe (ich – ein Mädchen unter so vielen Männern!), ohne ohnmächtig zu werden.« Dass sie eine exzellente Medizinerin ist, die überdurchschnittlich gut abgeschnitten hat, scheint kaum eine Rolle zu spielen. »Ich bin nicht berühmt wegen meines Könnens oder meiner Klugheit, sondern wegen meines Mutes und meiner Kaltblütigkeit.«[28]

Das sind genau die Fähigkeiten, die in der Frauenbewegung gesucht werden, um den Männern Paroli zu bieten. Maria Montessori wird ausersehen, die Italienerinnen auf einer großen und wichtigen Tagung zu vertreten: dem Internationalen Frauenkongress in Berlin. Die neue Vorzeigefrau sagt nicht nein – und bekommt prompt Besuch. Eine Journalistin, die bislang nur den Namen der jungen Delegierten kennt, aber sonst noch nichts von Maria Montessori gehört hat, möchte gerne eine Homestory machen. Wieder hat Maria Montessori nichts dagegen.

Die Journalistin ist dankbar. Noch freudiger wird die Überraschung, als sie Maria Montessori persönlich kennenlernt. Bislang hat sie die führenden Frauen immer als verhärmte Kämpferinnen gegen die verhasste Männerwelt erlebt, als selbstgerechte Anklägerinnen der Ungerechtigkeiten, die den Frauen widerfahren.

Regelrecht entzückt ist die Reporterin, als ihr eine freundlich lächelnde Maria Montessori die Tür öffnet. Da erwartet sie ja keine grimmig dreinblickende und geharnischte Walküre, kein Mannsweib, das ständig auf Krawall gebürstet ist. Im Gegenteil. Da steht ihr eine fröhliche, herzliche und aufgeweckte Frau im besten Alter gegenüber. Maria macht gerne Mädchensachen und sieht überhaupt nicht ein, warum sie das verstecken sollte. Sie näht und stickt halt gerne. Maria entschuldigt sich, zieht sich kurz zurück und kommt dann mit wundervollen Kostproben ihrer kleinen Kunstwerke wieder. Soll sie denn ein schlechtes Gewissen haben, weil sie gerne handarbeitet? Und sollte sie eine schlechtere Frauenvertreterin sein, weil sie selbst gerne die Fliesen schrubbt und putzt und kocht und abwäscht? Das macht sie alles genauso gerne wie ihre Arbeit als Ärztin und Forscherin. Man muss doch die Hausarbeit nicht verteufeln, wenn man eine Berühmtheit geworden ist. Man muss ihr auch nicht abschwören, wenn man gelernt hat, in dicken Medizinbüchern und Fachzeitschriften die neuesten Neuigkeiten über Asthma- und Rheumabehandlung nachzulesen. Man kann getrost das eine tun, ohne das andere zu lassen.

Noch verblüffender ist, dass sie auch dem vermeintlichen Übel der Welt, den Männer, keinen Hass entgegenbringt: »Ich habe ziemlich lange unter Männern gelebt und habe beobachtet, wie sie mit Frauen umgehen«, diktiert sie ihrer entzückten Besucherin in den Block, »und ich glaube, unser Ziel sollte sein, mit Ihnen Freundschaft zu schließen, aber sie uns nicht zu entfremden.«[29] Eine Ausnahme macht Maria Montessori: »Nur die Oberschicht hat ein Vorurteil dagegen, dass Frauen ein nützliches Leben führen können.«[30] Aber mit diesen eingebildeten Schnöseln, die sich für die Krone der Schöpfung halten, ist sie ja schon im Studium fertig geworden.

Lächeln. Die beiden Damen verstehen sich prächtig. Man lacht, man redet und man trinkt Tee. Als sich die schreibende Besucherin nach einem vergnüglichen Nachmittag verabschiedet, hat Maria Montessori eine neue Verehrerin gewonnen.

»Gut gewählt«, lässt die Journalistin ihre Leserinnen und Leser in einem viel beachteten Artikel wissen. »Die Zartheit einer begabten jungen Frau, kombiniert mit der Kraft eines Mannes – ein Ideal, dem man nicht alle Tage begegnet.«[31]

Dynamisch und unverbraucht, engagiert und unverkrampft: so wirkt Maria auch auf die übrigen Vertreterinnen des Berliner Frauenkongresses. Eine deutsche Beobachterin bemerkt »junge Frauen in mädchenhafter Schönheit, trotzdem sie Jahre anstrengenden Studiums hinter sich hatten« – und meint vor allem Maria Montessori.[32] So anmutig die zarte Italienerin auftritt, so knallhart und kompromisslos ist ihre Forderung: Gleicher Lohn für gleiche Arbeit! »Ich spreche für die sechs Millionen italienischer Frauen, die in Fabriken und auf dem Land bis zu 18 Stunden am Tag arbeiten«, ruft Maria Montessori den versammelten Frauen zu, »für einen Lohn, der oft nur halb so hoch ist wie der von Männern für dieselbe Arbeit und manchmal sogar noch geringer.«[33]

Das kommt an. Maria Montessori genießt das Rampenlicht und die öffentliche Bewunderung. »Die kleine Rede von Fräulein Montessori mit ihrer musikalischen Kadenz und graziösen Gesten ihrer elegant behandschuhten Hände wäre auch ohne ihren medizinischen Doktorgrad und ihrem zeitgemäßen Emanzipationsgeist ein Triumph gewesen«, jubelt ein stolzer Mailänder Reporter, »ein Triumph italienischer weiblicher Grazie.«[34]

Maria Montessori will aber gar nicht durch ihre anmutige Grazie und ihren unwiderstehlichen Charme auffallen. Sie will auch nicht Frontfrau der Emanzipationsbewegung sein, sondern praktische Medizinerin. Sie will nicht durch markige Worte auf Tagungen wirken, sondern durch ihre Forschungen. Wenn die exzellente Wissenschaftlerin und die erfolgreiche Ärztin zurücktreten müssen hinter die mutige und moderne junge Frau, die mit ihren eloquenten Reden ganze Säle rocken kann, dann läuft etwas grundfalsch – zumindest im Selbstverständnis von Maria Montessori. Genau das stört sie an all diesen schmeichelnden Lobhudeleien, die ihr einst so kritischer Vater Alessandro mittlerweile fleißig aus der Presse ausschneidet und in einem hübschen Album sammelt. »Ich sehe, dass viele Zeitungen mich erwähnen – und wer weiß, wie viele, von denen ich es nicht einmal ahne – ich habe gute Gründe, das zu glauben. Gutes oder – nichts Gutes – das ist nicht wichtig – ich werde sie alles vergessen machen!«, schreibt sie an ihre stolzen Eltern. »Mein Gesicht wird nicht mehr in den Zeitungen erscheinen, und niemand wird es mehr wagen, meinen so genannten Zauber noch einmal zu besingen. Ich werde ernsthafte Arbeit tun.«[35]

Leicht wird ihr das nicht gemacht. Daran ändert sich auch wenig, nachdem sie sich in der Schule durchgesetzt und erfolgreich studiert hat.[36] Na gut: Die außerordentlich hübsche, fachlich ambitionierte und rhetorisch geschickte Medizinerin ist ein Vorbild für viele Frauen, aber zur der Gleichberechtigung mit ihren männlichen Kollegen ist es noch ein weiter Weg. Dass ihre fachlichen Leistungen im Vergleich zu denen ihrer männlichen Kollegen allemal konkurrenzfähig sind, weiß sie. Ob sie sich als Frau hätte erfolgreich bewerben können, weiß sie nicht. Deshalb geht sie bei ihrer Bewerbung um eine Stelle als Assistenzärztin der Psychiatrischen Klinik auf Nummer sicher und gibt sich auf dem Papier als Mann aus. Ein Kandidat mit diesem Profil wäre eine Traumbesetzung. Die Personaler der Klinik staunen deshalb nicht schlecht, als sich eine junge Dame zum Vorstellungsgespräch anmeldet. Ob da nicht eine Verwechslung vorliege? Nein, das ist kein Irrtum. Als Maria Montessori ihren wahren Namen nennt, wissen die Herren von der Auswahlkommission Bescheid. Von Maria Montessori haben sie natürlich gehört, aber sie haben nicht mit ihr gerechnet. Trotzdem erkennen sie die Qualitäten der dreist-mutigen Bewerberin an – und stellen sie ein.[37]

Jetzt tingelt sie also als promovierte Assistenzärztin durch die Irrenhäuser von Rom und sucht geeignete Kinderpatienten für die Psychiatrische Klinik.

Dort haben andere das Sagen, Männer natürlich. Direktor Ezio Sciamanna und sein junger Assistent Giuseppe Montesano haben sich vorgenommen, zurückgebliebene und geistig behinderte Kinder zu untersuchen. Sie wollen herausfinden, wie man die damals sogenannten Idioten wohl am besten therapieren oder sogar erziehen kann. Maria Montessori gehört zu diesem Forscherteam, sie veröffentlicht auch Aufsätze über die gemeinsamen Ergebnisse, aber die beiden Herren haben doch irgendwie gefühlt immer den ersten Zugriff auf die kleinen Patienten, die Maria Montessori in ganz Rom aufspürt. Trotzdem mag sie ihre Arbeit in der Psychiatrischen Klinik: Man scheint auf gutem Weg zu sein, wenn man medizinische und pädagogische Probleme zusammendenkt: »Die Tatsache, dass die Pädagogik sich in der Therapie mit der Medizin zusammentun musste, war die praktische Errungenschaft des Denkens der damaligen Zeit«, erklärt Maria Montessori in...

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